24. Oktober: Bhopal-Opfer in Leverkusen
25 JAHRE DANACH: DIE OPFER DER GIFTGAS-KATASTROPHE WARTEN WEITER AUF GERECHTIGKEIT
WER: Sanjay Verma, Safreen Khan und Rachna Dhingra
Überlebende, Opfer und Aktivisten der Bhopal-Katastrophe
Auf Einladung von amnesty international, dem britischen Bhopal Medical Appeal und der Coordination gegen BAYER-Gefahren kamen Opfer der Giftgas-Katastrophe von Bhopal nach Leverkusen-Opladen, um die bis heute bestehenden Probleme der Betroffenen öffentlich zu machen.
Sanjay Verma, Safreen Khan und Rachna Dhingra von der „International Campaign for Justice in Bhopal“ sind in einem umgebauten Bus unermüdlich auf Tour. Bis zum 25. Jahrestag am 2. Dezember besuchen sie sieben europäische Länder. Sie fordern Gerechtigkeit für die Opfer und Überlebenden der Bhopal-Giftkatastrophe. Sanjay Verma war sechs Monate alt, als er seine Eltern in Folge der Katastrophe verlor. Safreen Khan und ihre Familie wohnen bis heute in der Nähe des kontaminierten Fabrikgeländes. Rachna Dhingra stammt aus Delhi, erst vor wenigen Jahren ist die Menschenrechtsaktivistin nach Bhopal gezogen.
Bei dem verheerenden Giftgasunfall in der Pestizidfabrik der Firma Union Carbide (UCC) am 02.Dezember 1984 wurden tausende Menschen getötet. Hunderttausende wurden krank und gerieten durch das Unglück noch tiefer in Armut. 25 Jahre nach der Katastrophe ist das betroffene Gebiet noch immer verseucht. Die Opfer haben bis heute keinen angemessenen Schadensersatz erhalten.
Gemeinsam mit den Überlebenden und Aktivisten fordert Amnesty, dass die Opfer Wiedergutmachung erhalten, das Firmengelände gereinigt wird und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. „Das Unglück und der Umgang mit den Folgen von Bhopal werfen grundlegende Fragen nach der rechtlichen und ethischen Verantwortung von transnationalen Unternehmen auf“, sagt Michael Gottlob, Indien-Experte von Amnesty International Deutschland.
Unmittelbar nach dem Unfall unterstützte die Firma UCC zwar die Schadensbeseitigung, versuchte aber von Anfang an seine Schadensersatzpflicht zu begrenzen und verließ das Firmengrundstück, ohne es zu reinigen und die giftigen Überreste zu entsorgen. 2001 wurde UCC ein hundertprozentiges Tochterunternehmen der US-Firma Dow Chemical Company (Dow). Dow hat wiederholt öffentlich erklärt, keine Verantwortung für die Bhopal-Katastrophe und die Folgen zu tragen.
Das „Schwester-Werk“ von Bhopal steht im US-Bundesstaat West Virginia, es gehört seit sieben Jahren zum BAYER-Konzern. Erst vor zwei Monaten erklärte sich BAYER bereit, die hochgefährliche Lagerung des in Bhopal ausgetretenen Giftgases MIC zu beenden. Im vergangenen Jahr war es zu einem schweren Unfall mit Todesfolge in dem Werk gekommen.
Die Betroffenen möchten mit der Bevölkerung – gerade auch in Leverkusen, in der Nähe eines großen Chemiewerks – diskutieren. In dem Bus können Filme aus Bhopal gezeigt werden.
Alle Infos zur Bhopal Bustour (engl.): http://www.bhopalbus.com
Informationen zum Bhopal-Schwesterwerk in den USA
Bus erinnert an Giftgasexplosion im indischen Bhopal
Katastrophe ohne Ende
Von Annika Franck
WDR.de — Sauberes Trinkwasser, medizinische Versorgung und ein Leben ohne Gift: Für die Opfer der Katastrophe in Bhopal ist das bis heute keine Selbstverständlichkeit. Der Bhopal-Bus tourt durch Europa, um auf die Katastrophe nach der Katastrophe aufmerksam zu machen.
Es ist fast 25 Jahre her: In der Nacht zum 3. Dezember 1984 ereignete sich ein Vorfall, der als eine der schlimmsten Industrie- und Umweltkatastrophen aller Zeiten gilt. Im nordindischen Bhopal explodierte ein Gastank mit Methylisocyanat1 (MIC) in der Pestizid-Fabrik des amerikanischen Chemieriesen Union Carbide Corporation. Innerhalb der ersten drei Tage nach der Katastrophe starben nach offiziellen Angaben 3.000 Menschen, weil sie der Giftgaswolke ausgesetzt waren. Immer noch ist die Zahl der Opfer ungewiss: Zwischen 100.000 und 600.000 Menschen sollen noch heute an chronischen Erkrankungen leiden. 15.000 Menschen sind offiziell nach dem Giftgasunglück gestorben, inoffizielle Schätzungen gehen von bis zu 30.000 Toten aus.
30.000 Menschen trinken verseuchtes Wasser
„Wir sind hier, um an die größte Industriekatastrophe aller Zeiten zu erinnern“, erklärt Rachna Dhingra von der International Campaign for Justice in Bhopal. Sie steht am Samstag (24.10.09) mit dem Bhopal-Bus in der Fußgängerzone von Leverkusen-Opladen, um angesichts des nahenden 25. Jahrestags des Unglücks auf die Katastrophe nach der Katastrophe aufmerksam zu machen. „Mehr als 23.000 Menschen sind an den Folgen gestorben, mehr als 500.000 Menschen waren den giftigen Stoffen ausgesetzt, mehr als 30.000 Menschen trinken noch heute verseuchtes Wasser“, sagt die indische Aktivistin. „Bisher sind weder einzelne Personen noch Unternehmen dafür ins Gefängnis gegangen, obwohl viele Menschen gestorben sind und verletzt wurden.“ Bhopal sei demnach nichts, was vor 25 Jahren passierte – es geschehe noch immer.
Neben der International Campaign for Justice in Bhopal und dem britischen Bhopal Medical Appealist auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International an der Aktion beteiligt, die durch sieben europäische Länder führt. Gerade in Deutschland, so haben die Aktivisten festgestellt, wissen viele Menschen wenig oder gar nichts über die Katastrophe vom Dezember des Jahres 1984.
Opfer erzählen eigene Leidensgeschichte
„Meine beiden Eltern wurden dem Gas nach der Explosion ausgesetzt“, erzählt Safreen Khan. Sie lebt mit ihrer siebenköpfigen Familie in dem Gebiet, in dem noch heute das Grundwasser verseucht ist. „Mein Vater hat seit der Katastrophe Herzprobleme, meine Mutter ist fast erblindet, meine Geschwister leiden an unterschiedlichen Hautkrankheiten und haben Magenprobleme. Meine jüngere Schwester und ich geraten schnell außer Atem, wenn wir unsere Schultaschen tragen“, sagt die schüchterne 17-Jährige. Geld für den Umzug in unverseuchte Gebiete hat die Familie nicht.
An Bord des Bhopal-Busses ist auch Sanjay Verma. Der 25-Jährige hat fast seine gesamte Familie bei der Giftgaskatastrophe verloren, wuchs in einem Waisenhaus auf. „Wir lebten direkt gegenüber der Fabrik, 150 Meter entfernt. Drei meiner Schwestern, zwei Brüder und meine Eltern starben in der Nacht. Meine Schwester, mein älterer Bruder und ich waren die einzigen Überlebenden.“ Auch Sanjay, der bei dem Unglück erst sechs Monate alt war, muss heute Medikamente nehmen. „2005 hatte ich einen Schlaganfall, was für Menschen in meinem Alter ungewöhnlich ist, meinen die Ärzte.“ Ob das Giftgas direkte Ursache seiner gesundheitlichen Probleme ist, können die Mediziner aber nicht sagen.
Schlechte medizinische Versorgung
Nach der Explosion herrschte Chaos. Es gab keine Katastrophenpläne, die Krankenhäuser waren völlig überfüllt, die zu wenigen Ärzte hatten keine Ahnung, was MIC im menschlichen Körper anrichtet, Union Carbide blieb tagelang sprachlos. Wer dem tödlichen Giftgascocktail ausgesetzt war, litt unter Atemlähmung, es kam zu Herzstillstand oder zur Verätzungen der Augen und Lungen. In den Folgejahren litten die Betroffenen vor allem an Lungenerkrankungen, Krebs, Unfruchtbarkeit. Babys kamen mit schweren Missbildungen zur Welt. Zur unzureichenden medizinischen Versorgung kommt der Mangel an psychologischer Betreuung: Viele Traumata blieben bis heute unbewältigt.
Bayer produziert hoch giftiges Gas
Dass die Aktivisten gerade in Leverkusen, in unmittelbarer Nähe zum Bayer-Werk, einen Busstopp einlegen, ist kein Zufall. Denn auch Bayer betreibt im US-amerikanischen West Virginia, in der Stadt Institute, ein Werk, in dem MIC hergestellt wird. „Das ist das gleiche Gift wie in Bhopal“, erinnert Aktivistin Dhingra. 2008 kam es in den USA zu einem schweren Unfall, bei dem zwei Arbeiter ums Leben kamen. Nur 20 Meter vom MIC-Tank entfernt explodierte ein Rückstandsbehälter. Eine Untersuchung des US-Kongresses kam zu dem Ergebnis, dass es zu einer schlimmeren Katastrophe als in Bhopal hätte kommen können. Inzwischen hat Bayer angekündigt, die MIC -Produktion in Institute um 80 Prozent zu reduzieren.
Zwar bedauert Union Carbide (heute Dow Chemicals) den Vorfall vor beinahe 25 Jahren. Doch zur Verantwortung gezogen wurde bis heute niemand. Bis heute ist das Gebiet der ehemaligen Fabrik mit Giftmüll kontaminiert. Der damalige Manager der indischen Fabrik, Warren Anderson, wird zwar in Indien per Haftbefehl gesucht. Er war zwar dort festgenommen worden, kam aber nach Zahlung einer Kaution frei und floh in die USA. Noch heute lebt er zurückgezogen in Florida.