11. August 2008, FAZ
BAYER: Zwangsarbeit schon im 1. Weltkrieg
Katastrophale Lebensbedingungen
„Öffnen Sie das große Menschenbassin Belgien“, rief Carl Duisberg, Generaldirektor der Bayer-Werke in Leverkusen, dem preußischen Kriegsminister im September 1916 zu. Duisberg und andere prominente deutsche Industrielle wie Stinnes, Krupp und Rathenau wollten durchsetzen, dass belgische Arbeiter nach Deutschland deportiert und den Unternehmen der Kriegswirtschaft als dringend benötigte Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt würden. In dieser Forderung waren sie sich einig mit der seit August 1916 amtierenden Obersten Heeresleitung Hindenburg/Ludendorff, die zu einer tendenziell totalen Kriegführung überging. Wenige Wochen vor der Sitzung im preußischen Kriegsministerium, in der vom „Menschenbassin Belgien“ gesprochen wurde, fiel die Entscheidung. Gegen den Widerstand der Zivilverwaltung im Generalgouvernement Belgien und das anfängliche Zögern der Reichsleitung wurde unter dem Druck der Heeresleitung beschlossen, arbeitslose Belgier ins Deutsche Reich zu verbringen, um sie dort zur Zwangsarbeit einzusetzen, vor allem bei Unternehmen im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Man glaubte, auf diese Weise mehrere hunderttausend Arbeitskräfte gewinnen zu können. Mit den seit Ende Oktober 1916 in Belgien durchgeführten Zwangsaushebungen begann ein besonders unrühmliches Kapitel der deutschen Kriegspolitik.
Die Deportationen aus Belgien gediehen für Deutschland zu einem gewaltigen Debakel, einem doppelten Fiasko. Zum einen wurde das angestrebte Ziel, massenhaft Arbeiter für die deutsche Kriegswirtschaft rekrutieren zu können, deutlich verfehlt. Zum anderen lieferte die völkerrechtlich höchst umstrittene, wenn nicht gar völkerrechtswidrige Aktion den Mächten der Entente begehrte Waffen für den Propagandakampf gegen das Deutsche Reich. Die Regierungen Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und Russlands protestierten sofort offiziell und klagten Deutschland an, internationale Abkommen, die Menschenrechte und die Grundsätze der Humanität zu verletzen. In der Presse wurde die „Versklavung der belgischen Zivilbevölkerung“ aufs schärfste angeprangert. Um die barbarische Dimension der Deportationen anschaulich zu machen, bemühte man auch Vergleiche mit angeblichen historischen Vorbildern wie den arabischen Sklavenjagden in Afrika oder dem Vorgehen der Hunnen Attilas. Besonders gravierend für Deutschland wirkten sich die Reaktionen in den Vereinigten Staaten aus, deren Neutralität zu diesem Zeitpunkt auf des Messers Schneide stand. Die Befürworter eines Kriegseintritts auf Seiten der Alliierten nutzten die Gelegenheit und geißelten die Aktion der Deutschen als moderne Sklaverei. Die Deportationen verstärkten die vorhandenen antideutschen Ressentiments und Stimmungen. Der deutsche Botschafter in Washington, Graf Bernstorff, sprach von allgemeiner, tiefgehender und aufrichtiger Empörung und meinte, um die Jahreswende 1916/17 habe Deutschland das „Ringen um die amerikanische Seele“ verloren.
Als die Deportationen im Februar 1917 eingestellt wurden, war dies nicht ausschließlich, aber auch auf die internationalen Proteste zurückzuführen. Entscheidender freilich war die Enttäuschung darüber, dass die Aktion nicht zu der erwarteten massenhaften Rekrutierung einsatzfähiger Arbeitskräfte führte. Etwa 60 000 überwiegend arbeitslose Belgier wurden zwischen Ende Oktober 1916 und Februar 1917 nach Deutschland transportiert. Fast ein Drittel entließ man – aus unterschiedlichen Gründen – wieder nach Belgien. Nur etwa ein Viertel der Deportierten gelangte überhaupt in Unternehmen der Kriegswirtschaft, wo man mit ihren Arbeitsleistungen oft sehr unzufrieden war. Die Übrigen hausten in Sammellagern unter meist katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen, etwa 12 000 der Deportierten starben in Deutschland. Diese traurige Bilanz verdeutlicht das Ausmaß des Misserfolgs der von Oberster Heeresleitung und deutschen Großindustriellen durchgesetzten Aktion einer Zwangsrekrutierung belgischer Arbeiter.
Über den gesamten Problemkomplex der Deportationen aus Belgien im Ersten Weltkrieg informiert jetzt eingehend und zuverlässig eine umfängliche, aber dank klarer schnörkelloser Diktion gut lesbare Untersuchung. Jens Thiel bietet nicht nur eine genaue Nachzeichnung des Entscheidungsprozesses, der in den Deportationsbeschluss mündete, sowie eine Schilderung von Vorbereitung, Ablauf und Ende der Deportationen, sondern er bettet seine Darstellung der Zwangsrekrutierung belgischer Arbeiter in einen umfassenden Kontext ein. Ausführlich behandelt er die deutsche Arbeitskräftepolitik gegenüber Belgien vor und nach den Deportationen, die – überwiegend kritischen – Stellungnahmen deutscher Politiker zu den Zwangsmaßnahmen gegen belgische Arbeiter, die (Feind-)Wahrnehmung des belgischen Arbeiters bei vielen Deutschen und in der Publizistik, schließlich die langwierigen Auseinandersetzungen nach Kriegsende und Friedensvertrag um belgische Entschädigungsforderungen und die (unterbleibende) Strafverfolgung der für die Deportationen Verantwortlichen.
Keine Untersuchung über Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg kann auskommen ohne einen Blick auf die Zwangsarbeiterbeschäftigung im Zweiten Weltkrieg: Hat die zwangsweise Rekrutierung und Beschäftigung belgischer und anderer ausländischer Arbeiter ein Vorbild für die brutale Ausbeutung von Zwangsarbeitern durch das nationalsozialistische Deutschland abgegeben? Thiel stellt sich abschließend dieser Frage und kommt zu einer differenzierten Antwort. Mit anderen Forschern ist er sich darin einig, dass die Zwangsmaßnahmen im Ersten Weltkrieg eine gewisse Vorbildwirkung für die Ausformung des nationalsozialistischen Zwangsarbeitersystems besaßen, er sieht aber auch die Gefahr, „die spezifischen Ausgangsbedingungen, Hintergründe und Determinanten der Arbeitskräftebeschaffung im Ersten Weltkrieg zu vernachlässigen und die zweifelsohne vorhandenen Kontinuitätslinien einseitig zu betonen“. Dass Thiel die Arbeitskräftepolitik während des Ersten Weltkriegs als eigenständiges historisches Phänomen behandelt, ebendas macht die hohe Qualität seiner Studie aus. EBERHARD KOLB
Jens Thiel: „Menschenbassin Belgien“. Anwerbung, Deportation und Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Klartext Verlag, Essen 2007. 426 S., 39,90 Euro.