Drücke „Enter”, um zum Inhalt zu springen.

Zensur

CBG Redaktion

Das Helmholtz-Gymnasium in Hilden (NRW) feiert morgen seinen 100. Geburtstag. Der langjährige Chemie-Lehrer Dr. Walther Ensslin sollte in der Festschrift über Auseinandersetzungen mit Chemiefirmen wie BAYER und ICI berichten. Seine Beiträge wurden jedoch von der Schulleitung gestrichen. Der Fall dokumentiert einmal mehr den vorauseilenden Gehorsam von Politik, Behörden und Bildungseinrichtungen gegenüber großen Unternehmen.

morgige 100-Jahrfeier des Hildener Helmholtz-Gymnasiums:

Kritische Beiträge aus Festschrift gestrichen

10. Sept. – Am morgigen Samstag findet in der Hildener Stadthalle die Jubiläumsfeier zum 100. Geburtstag des Helmholtz-Gymnasiums statt. Die Gala wird von ARD-Moderator Sven Lorig moderiert. Zu diesem Anlass erscheint auch eine etwa 100 Seiten starke Festschrift zur Geschichte der Schule. Dr. Walther Enßlin, jahrzehntelang Leiter der vielfach ausgezeichneten Chemie AG des Helmholtz-Gymnasiums, wurde gebeten, hierfür einige Beiträge zu verfassen.

Der Schulleiter Karl-Heinz Rädisch entschied jedoch, drei kritische Texte nicht in die Festschrift aufzunehmen, da er die Vertreter der Stadt nicht verärgern wolle. In den nicht gedruckten Beiträgen geht es u.a. um die Aushorchung der Schule durch den Werkschutz der Bayer AG sowie um die unrühmliche Rolle der Stadt Hilden bei der Asbestsanierung der Schule. Rädischs Vorgänger Bodo Wernicke hingegen befürwortet einen Abdruck.

Dr. Walther Enßlin: „Die Entscheidung der Schulleitung, kritische Bereiche der Schul-Geschichte in der Festschrift auszuklammern, ist enttäuschend. Mir geht es nicht um den Ruhm der Chemie-AG, sondern um die Frage, wie verantwortungsvoll mit den im Grundgesetz garantierten Gütern wie Meinungsfreiheit, Freiheit der Schule vom Druck durch Interessensvertreter und Recht auf körperliche Unversehrtheit umgegangen wird. Heutzutage geraten die Schulen immer mehr in finanzielle Abhängigkeit von Sponsoren – die Bespitzelung durch Bayer zeigt exemplarisch die hieraus erwachsenden Gefahren für die Beschäftigung mit industriekritischen Themen.“ Nach Ansicht von Enßlin wurde die Firma Bayer durch die heftige öffentliche Reaktion auf die damalige Aushorchung davon abgehalten, derartige Praktiken in anderen Schulen anzuwenden. „Wenn diese Vorgänge allerdings in Vergessenheit geraten, werden die Begehrlichkeiten von Bayer und anderen Firmen sicher wieder geweckt“, so Enßlin weiter.

Der Journalist Jürgen Streich, der in seinem Buch „Dem Gesetz zuwider“ über mehrere Hildener Umweltskandale berichtet hat, ergänzt: „Die Schüler der Chemie AG haben unter Anleitung von Dr. Enßlin engagiert und phantasievoll Aufgaben wahrgenommen, die eigentlich Aufgabe der Behörden bis hin zur Staatsanwaltschaft sind. Dies ist Erziehung und Ermutigung zu staatsbürgerlicher Verantwortung und Demokratie! Schade, dass für so etwas angeblich der Platz fehlt. Zensiert wird landauf, landab schon genug – immer weichgespültere und gleichgeschaltete Medien können wir nicht gebrauchen!“

Wir dokumentieren die Texte hier in ungekürzter Form (Nachdruck erlaubt):

Der Jogger, der aus dem Abendrot kam

von Walther Enßlin

1988 waren die Schülerinnen und Schüler noch mutiger, ihre Aussichten auf eine Stelle waren sicherer als heute im Jahre 2010. Deshalb konnte Walther Enßlin ihnen im Rahmen des Chemieunterrichtes zwei Veranstaltungen anbieten:

1. „Gift in unserer Nahrung dank Bayer“, vorgetragen durch die Coordination gegen Bayer-Gefahren (CBG).
2. “Gift in unserer Nahrung?“, gestaltet von einem Vertreter von Bayer.
Ursprünglich sollte es nur eine Podiumsdiskussion geben, aber Bayer weigerte sich, mit seinen Kritikern an einem Tisch zu sitzen. Sicherheitshalber waren in Absprache mit dem Schulleiter die Veranstaltungen als nicht-öffentlich geplant, um den Schülern die Möglichkeit zu geben, Diskussionsbeiträge zu einem kritischen Thema abzugeben, ohne dass sie dadurch später berufliche Schwierigkeiten bekommen könnten.

Am 27.1.1988 fand die erste Veranstaltung in der vollbesetzten Aula des HGHs statt. Der Vortrag der Coordination gegen Bayer-Gefahren war fundiert. Leider irritierte Walther Enßlin sein Sitznachbar, der emsig alles notierte. Auf die Frage, woher er käme, antwortete er, dass er als Jogger zufällig vorbeigekommen sei und dabei die Plakate gelesen hätte. Walther Enßlin wies darauf hin, dass hier zwar niemand etwas zu verbergen habe, aber die Veranstaltung nicht öffentlich sei und somit seine Notizen nicht veröffentlicht werden dürften. Die Verwunderung von Walther Enßlin über den guten Anzug und die hochglänzenden Schuhe des Joggers hielt nicht lange an, da er als Diskussionsleiter seinen Platz verlassen musste.

Wochen später bekam Walther Enßlin einen Anruf von Axel Köhler-Schnura von der CBG: „Es liegt ein Dossier vom Werkschutzmann Kramer von Bayer aus der Vorstandsetage von Bayer über die Veranstaltung und über den Unterricht von Walther Enßlin vor.“ Kramer hatte hierfür auch Schülerinnen und Schüler befragt. Das Dossier war der CBG von Bayer-Mitarbeitern zugespielt worden.

Da Walther Enßlin zusätzlich schon über Jahrzehnte vom Verfassungsschutz telefonisch abgehört wurde und vielleicht noch wird, bat er den Regierungspräsidenten auf dem Dienstwege um ein Rederecht bei einer von der CBG organisierten Pressekonferenz in Bonn. Dies wurde ihm zugestanden.

Der Journalist Martin Stankowski wollte hierüber im “Kritischen Tagebuch“ auf WDR3 berichten, erhielt jedoch einige Schwierigkeiten: Bayer sparte nicht mit Einstweiligen Verfügungen gegen die Veröffentlichung zum „Jogger, der aus dem Abendrot kam“. Juristen und Techniker des WDR harrten bis zur Sendezeit um 19 Uhr aus, damit die Sendung trotz Bayer-Protesten gesendet werden konnte.

Abgekämpft von der Pressekonferenz wurde Walther Enßlin schon am nächsten Tag aus dem Unterricht zum Schuldezernenten der Bezirksregierung Düsseldorf gerufen und mit den Worten empfangen: „Hier ist ein Chemielehrer zu viel“. Walther Enßlin sollte an eine Düsseldorfer Schule versetzt werden.

Enßlin wies auf das seltsame Zusammentreffen zwischen der Pressekonferenz zu Bayer und die folgende Androhung der Versetzung hin. Der Dezernent leugnete, etwas von der Bespitzelung zu wissen, obwohl die Meldung auf dem Dienstweg auch über seinen Schreibtisch gelaufen war und in allen Presseorganen zitiert worden war. Weiterhin bemerkte Walther Enßlin, dass er sehr engagierte Schülerinnen und Schüler sowohl im Unterricht als auch in seiner Arbeitsgemeinschaft hätte, die seine Versetzung an eine andere Schule nicht tatenlos zusehen würden.

Am letzten Ferientag der Sommerferien kam um 16 Uhr eine Verfügung der Bezirksregierung, dass der Kollege von Walther Enßlin, Herr P., am nächsten Tag an einer Schule in Düsseldorf seinen Dienst anzutreten hätte. Dieser erfuhr es am nächsten Tag und musste sofort zur neuen Schule fahren, wo er zu seiner Verwunderung drei zusätzliche neue Chemiekollegen vorfand, für die diese Schule nun keinen Bedarf hatte. Herr P. meldete sich krank, und die Düsseldorfer Schule hatte wenig Freude an der Versetzung.

Interessant war das Verhalten der Rechtsabteilung der Stadt Hilden, die die schriftliche Bitte des Schulleiters, Herrn Oberstudiendirektor Schmitz, nach rechtlicher Unterstützung – bei diesem Hausfriedensbruch durch Bayer – unbeantwortet ließ. Bei einem persönlichen Besuch stellte der Rechtsdezernent Sch. fest, dass Walther Enßlin durch die Wahl solch kritischer Themen die Bespitzelung durch Bayer selbst heraufbeschworen hätte. Darüber hinaus hätte Walther Enßlin das Hausrecht und die Stadt hätte damit nichts zu tun. Letztere Antwort wurde Walther Enßlin sicherheitshalber(?) erst nach Ablauf der Frist für eine Anzeige gegen Bayer zugestellt.

Eine Unterstützung, die Firma Bayer auf ihr unrechtmäßiges Tun hinzuweisen, fand Walther Enßlin nur beim Schulleiter, den Kollegen und der Elternpflegschaft. Vertreter der drei Parteien des Landtags (FDP, CDU, SPD) fanden nur abenteuerliche Ausflüchte dafür, nicht gegen Bayer vorzugehen zu müssen oder hüllten sich in Schweigen. Am Rande: Die Bespitzelung war durch den ehemaligen Helmholtzianer B. ausgelöst worden, der auch Walther Enßlin erläuterte, dass nicht ein Werksschutzmann, sondern deren zwei die Schule ausspioniert hatten.

Bayer lud zur Wiedergutmachung die Schülerinnen und Schüler des HGHs zu drei Veranstaltungen ein: Zu zwei Diskussionsrunden und zu einer Besichtigung des Pflanzenschutzzentrums in Monheim. Beim obligatorischen Photo vor dem Bayerportal drehten die Schülerinnen und Schüler entweder dem Fotografen den Rücken zu oder trugen schwarze Brillen – ein Horrorbild. Die Diskussionsveranstaltung zum Thema Gentechnologie wurde nach Aussagen des Vertreters von Bayer, Dr. Stadler und der Landtagsabgeordneten der Grünen, Frau Grüber, die bisher heißeste in ihren Laufbahnen. Zwei Jahre später entschuldigte sich Bayer bei Walther Enßlin und sandte ihm den Bayerbildband zum 100-jährigen Bestehen des Unternehmens zu.

Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN hatte zur selben Zeit folgenden Satz auf einem Flugblatt verewigt: „In seiner grenzenlosen Sucht nach Gewinnen und Profiten verletzt BAYER demokratische Prinzipien, Menschenrechte und politische Fairness. Missliebige Kritiker werden bespitzelt und unter Druck gesetzt, rechte und willfährige Politiker werden unterstützt und finanziert.“

Bayer klagte dagegen und bei den folgenden Gerichtsverfahren ging es darum, ob dieser Text eine Tatsachenbehauptung oder eine Meinungsäußerung darstelle. In dem Verfahren spielte auch das Protokoll von Werkschutzmann Kramer eine wichtige Rolle, da es den Vorwurf der Bespitzelung erhärtete. Aus diesem nervenaufreibenden und kostspieligen Prozess über alle Instanzen, der die kleine Gruppe der Kritiker mehrmals beinahe in den Ruin trieb, stieg sogar Greenpeace als Verbündeter aus. Die Gerichte befanden schließlich in letzter Instanz, dass die Meinungsfreiheit höher einzustufen sei. Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN hatte bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen müssen, um dem Recht auf Meinungsfreiheit fünf Jahre nach Beginn des Verfahrens wieder Geltung zu verschaffen.

Noch heute setzt sich Bayer über die Meinung und Ängste der Anwohner hinweg und legte eine Giftgasleitung direkt durch deren Gärten. Kritiker der Giftgasleitung wie einzelne Kinderärzte des Kreises Mettmann werden unter Druck gesetzt, indem ihnen von Bayer mit dem Entzug von Geldern gedroht wird.

Asbest und Disziplinarverfahren

von Walther Enßlin

Ein Partyraum muss geschaffen werden. Die Aula-Garderobe im Keller des Helmholtz-Gymnasiums bot sich an. Schon ein ganzer VW-Bus war mühsam die Treppe hinunter in den Keller geschleppt worden. Doch es kam anders:

Alexander Ellendt erzählte Walther Enßlin, dass der neue Hausmeister S. meinte, dass der Bodenbelag, den sie gerade mit Hammer und Meißel herausstemmten und mit einer Schleifscheibe abschliffen, asbesthaltig wäre. Walther Enßlin las das „Gutachten“ vom „Asbest-Sachverständigen“ G., konnte darin aber keinen Hinweis auf Asbest im Bodenbelag finden.

Bei einem Ortstermin am 22. Dezember 1992 zu den vielen nachträglichen Asbestfunden und auf die Baumaßnahmen im Kellerraum angesprochen, gab sich die Stadtverwaltung unwissend. Sie versprach eine schnelle Überprüfung des Asbestverdachtes, da das Arbeiten in Asbest für Jugendliche strengstens verboten sei. In der gesamten Schule bestünde sonst auf Grund von Asbest Verseuchungsgefahr.

Es dauerte eine Woche, dann mahnte Schulleiter Wernicke bei der Stadt eine schnelle Antwort an. Die zweite, dritte und vierte Woche vergingen trotz mehrerer Anrufe und dringender Briefe seitens Schulleiter Wernicke. Nach vier Wochen bat Walther Enßlin Alexander um eine Probe des Bodenbelages. Alexander fischte aus dem Mülleimer eine Bodenplatte. Walther Enßlin brach davon eine Ecke ab, tütete diese ein und schickte die Probe an ein renommiertes Institut zur Asbestuntersuchung. Zwei Wochen später lag das Gutachten vor und bestätigte den Verdacht auf Asbest. Dieses Gutachten hängte Walther Enßlin im Lehrerzimmer aus.

Schon ein paar Tage später bekam Walther Enßlin nicht etwa wegen der Untersuchung eine positive Rückmeldung von der Stadtverwaltung. Nein, es traf eine durch den Stadtdirektor Göbel veranlasste und von dem neu im Amt sitzenden Schuldezernenten Gatzke verfasste Dienstaufsichtsbeschwerde mit folgenden fünf Punkten ein:

1. Nichteinhaltung des Dienstweges. Zur Erläuterung: Walther Enßlin hat seinen Schulleiter nicht von der Probenentnahme informiert.
2. Aufwiegelung der Schulöffentlichkeit: Das Gutachten hat Walther Enßlin im Lehrerzimmer ausgehängt.
3. Sachbeschädigung: Walther Enßlin hat von einer Bodenplatte aus dem Müll eine Ecke abgebrochen
4. Diebstahl: Diese Ecke hat er doch tatsächlich weggeschickt.
5. Verseuchung der Schule mit Asbest: Die Platte war – wie das Gutachten bewies – asbesthaltig, und somit hat eine unsachgemäße Arbeit durch Walther Enßlin mit Asbest stattgefunden. Dass die Schülerinnen und Schüler wochenlang beim Herausbrechen und -schleifen Asbeststaub eingeatmet hatten, kümmerte die Verwaltung der Stadt wenig.

Auch der Rat der Stadt Hilden beschloss einstimmig, dass nachdem ein Diebstahl und eine Sachbeschädigung im Helmholtz-Gymnasium durch einen Lehrer stattgefunden hätte, die Lehrerschaft aller Hildener Schulen darauf hingewiesen wurde, mit städtischem Eigentum pfleglich umzugehen.

Walther Enßlin verbrachte die Herbstferien ohne Familie, die in den sonnigen Süden fuhren, um die Vorwürfe zu entkräften. Er wies durch Aktenstudien nach, dass sowohl die Untersuchung auf Asbest als auch die Sanierung nicht gesetzeskonform verlaufen waren und eine hohe Gefährdung der Schülerinnen und Schüler und der Lehrer in Kauf genommen worden waren. Sowohl die Landesregierung als auch die Staatsanwaltschaft drückten sich fadenscheinigen Argumenten vor einer Strafverfolgung der für die Asbestuntersuchung und –sanierung im HGH Verantwortlichen.
Zur allgemeinen Erläuterung: Die durch Asbestaufnahme bis 1993 verursachten Krebsfälle – wie vor allem Lungen- und Bauchfellkrebs – steigen derzeit laut Untersuchungen von Toxikologen exponentiell an und werden zwischen 2015 und 2020 ihren Höhepunkt erreichen. Eine Erfassung der Krebsfälle der Schülerinnen und Schüler und dem Personal des Helmholtzgymnasiums existiert nicht.
Der Regierungspräsident rehabilitierte Walther Enßlin in allen Punkten und auch die Presse würdigte dies mit einem kurzen Artikel.

Doch wer glaubt, dass Walther Enßlin danach entspannt zu seiner fristgemäß – 6 Wochen vorher – angemeldeten Tagung hätte gehen können, zu der – üblicherweise – der Regierungspräsident in Düsseldorf noch nicht seine Einverständnis gegeben hatte und der Schulleiter es trotzdem – wie immer erlaubte –, der täuscht sich: Schon einen Tag nach der Tagung bekommt Walther Enßlin ein erneutes Disziplinarverfahren wegen unerlaubten Entfernens vom Schuldienst mit der Androhung einer Gehaltskürzung.

Glücklicherweise hatte der Schulleiter Oberstudiendirektor Wernicke die gute Idee, dass Walther Enßlin den Unterricht schon vorher erteilt hatte, wodurch sich das erneute Disziplinarverfahren – wie das vorhergehende – in Luft auflöste.

Umweltschutz rettet Arbeitsplätze

von Walther Enßlin und Jürgen Streich

Nach 15 Jahren ist die Sanierung des Geländes von ICI Hilden 2005 abgeschlossen. Sie kostete – weil biologisch und nicht physikalisch-chemisch durchgeführt – nur die Hälfte von den ursprünglich veranschlagten 80 Millionen DM. Die Firma ICI konnte ihr Gelände erst nach dieser Sanierung verkaufen, so dass ein Großteil der 1.500 Arbeitsplätze im Hildener Werk für 15 Jahre gesichert war. Dies ist ein Beispiel dafür, dass Umweltschutz und Arbeitsplatzsicherung sich nicht im Wege stehen, sondern sich sogar unterstützen.

Die Chemie-AG und damit das Helmholtz-Gymnasium erhielten aus dem Sanierungstopf der Firma ICI durch Prof. Dr. Henkler während dieser 15 Jahre jährlich ca. 8000.- DM, was auch zu ihrem Erfolg beitrug und den Etat von Schule und Stadt entlastete. Dazu die Vorgeschichte nach Jürgen Streich , “Dem Gesetz zuwider – Wie bundesdeutsche Behörden Umweltverbrechen zulassen”, Zebulon – Verlag 1993.

Jürgen Streich: „Wie das Miteinander von Bevölkerung und chemischer Industrie auch funktionieren kann, zeigt eine Geschichte, die – ganz real – in Hilden spielt. Ausgangspunkt war im Herbst 1990 eine Projektwoche am Helmholtz-Gymnasium. Die Chemie-AG unter Leitung des Lehrers Dr. Walther Enßlin hatte sich Luftuntersuchungen vorgenommen. Weil die Messergebnisse nachts nicht so stark durch Autoabgase beeinflusst werden, zogen die Schüler Michael Nieswandt und Karsten Schöning in der Dunkelheit los. Gegen zwei Uhr fiel ihnen übler Gestank auf, der aus einem Kanaldeckel drang. Die beiden gingen gar nicht mehr erst ins Bett, sondern brachten ihre Luftproben gleich in die Schule. Dort ergab die Untersuchung Erschütterndes: Die Lösungsmittelstoffe Essigsäureethylester, Xylol und Toluol, allesamt leber- und nierenschädigend, narkotisierend und letztere im Verdacht, Krebs auszulösen, drangen in derartigen Mengen aus dem Kanal, dass die maximal zulässige Arbeitsplatzkonzentration (MAK) überschritten war. Die Stoffe stammten offenkundig aus dem Werk des internationalen Chemiegiganten ICI.

Die Chemie-AG, deren Aktivitäten übrigens weit über den schulischen Bereich hinausreichen (jeden Freitagnachmittag treffen sich Schüler der Klassen 7 bis 13, um sich mit Umweltschutzthemen zu befassen), informierte das Werk und die Presse von ihrem Fund. Die Schüler und ihr Lehrer unterstrichen, dass sie bereit wären, bei der Lösung des Problems mitzuwirken. Und siehe da: Sie stießen auf einen für Umweltschutz aufgeschlossenen ICI-Mitarbeiter, den Leiter des Geschäftsführungsstabes der Bereiche Sicherheit, Gesundheit und Umwelt, Dr. Rolf-Dieter Henkler. Der lud die jungen Umweltschützer zunächst einmal ins Werk ein. Doch einer der Schüler, Michael Koch, war besonders akribisch. Vor dem Besuch wollte er ganz genaue Daten haben.

So begaben er, einige seiner Mitschüler und ihr Lehrer Enßlin sich erneut zu der Kanalöffnung. Als Walther Enßlin die Proben-Entnahmestelle in der Sackgasse durch sein quer gestelltes Auto sicherte, tauchte der ICI-Werkschutz auf. Dessen Mitarbeiter wollten die Umweltschützer aus der öffentlichen Straße vertreiben. Doch die ließen sich auf nichts ein, so dass die Werkschützer sich telefonisch bei der Geschäftsleitung erkundigten, was zu tun sei. Rolf-Dieter Henkler verfügte: Die Schüler haben bei der Überprüfung der Abwässer des Werks freie Hand und sind zu unterstützen.

Hilfe konnten die engagierten Jungchemiker dann tatsächlich gebrauchen, als sie erneut Besuch bekamen, und zwar von einem edlen Mann zu Pferde und seiner singenden Gefolgschaft. Dabei war nicht so sehr das Problem, St. Martins Ross und die Kinder mit ihren Eltern sicher an dem offenen Kanaldeckel vorbeizudirigieren, sondern vielmehr die Vermutung, dass die Lösungsmittelbestandteile in einer solchen Konzentration austraten, dass Walther Enßlin Explosionsgefahr aufgrund der brennenden Fackeln befürchtete. So war es wahrscheinlich ein glücklicher Zufall, dass gerade Fachleute vor Ort waren, die ein vorgezogenes unbeabsichtigtes Martinsfeuer mit wahrscheinlich traurigem Ausgang verhinderten.

Beim Werksbesuch wurde den Schülern dann klar: Hier werden gewaltige Lösungsmittelmengen über das Kanalnetz entsorgt. Auch stellten sie fest, dass aus den Abwässern des Klärwerks des Unternehmens bereits große Mengen der gefährlichen Stoffe in die Luft gelangten.

Zunächst einmal besorgten sich die Mitglieder der Chemie-AG bei der Stadtverwaltung Hilden Kanalkarten und stellten fest, dass die Zeichnungen das Papier nicht wert waren, auf dem sie gedruckt waren. Von ICI erhielten sie dann korrekte Kanalverzeichnisse. Rolf-Dieter Henkler war inzwischen überzeugt, dass der Ruf des Unternehmens auf dem Spiel stand und leitete eine umfassende Kanaluntersuchung in die Wege. Dabei kam heraus, dass der Boden der Rohre teilweise bereits weggefressen war und die Lösungsmittel ins Grundwasser sickerten. Bohrungen bis in sechs Meter Tiefe ergaben, dass dort auf einer Fläche von 1500 Quadratmetern im Durchschnitt zehn Zentimeter hoch Lösungsmittel auf dem Grundwasser schwamm. In 35 Metern Tiefe wurden chlororganische Verbindungen festgestellt, die von benachbarten Geländen ausgingen, von denen eines ehemals der Firma Mannesmann gehört hatte. Besondere Brisanz erhielten diese Grundwasservergiftungen, weil sie sich gen Düsseldorf bewegten. ’Doch das’, so der Chemiker Walther Enßlin‚will die Hildener Stadtverwaltung nicht wahrhaben.’

Ganz anders die Firma ICI. Deren Zentrale in London dachte sicherlich aufgrund der zu erwartenden immensen Sanierungskosten ernsthaft über eine Schließung des Hildener Werks nach, was den Verlust von 1.500 Arbeitsplätzen bedeutet hätte. Den Verantwortlichen in der Londoner Zentrale wurde jedoch schnell klar, dass eine Schließung nach deutschen Gesetzen zu riesigen Rückstellungen (ca. 50 bis l00 Millionen Mark) für die Sanierung führen würde, so dass die Geschäftsleitung unter der Beteiligung von Dr. Henkler die Chance sah, die Sanierung aktiv in die Hand zu nehmen. Vor diesem Hintergrund entschloss sich das Londoner Management, lieber in den Umweltschutz zu investieren. Es stellte 40 Millionen Mark zur Sanierung bereit.

ICI sammelte seine lösungsmittelhaltigen Abwässer in Containern und führte sie einer fachgerechten Entsorgung zu. Das gesamte firmeneigene Kanalnetz wurde zwischenzeitlich stillgelegt. Außerdem arbeitete das Unternehmen gemeinsam mit der Chemie-AG des Helmholtz-Gymnasiums an einem biologischen Verfahren, bei dem Bakterien Lösungsmittel abbauen. Dieser Weg war zwar zeitaufwändiger, aber weitaus kostengünstiger. Ein weiterer Nebeneffekt der von ICI eingeleiteten Untersuchung des Abwassers führte zu einer gewaltigen Reduzierung der Abwasservolumen von circa 80.000 l/a auf circa drei- bis fünftausend Tonnen pro Jahr bei gleichzeitiger Reduzierung der organischen Belastung. Die Abwässer, die das Werk ins öffentliche Kanalnetz einleitete, wurden in der Schädlichkeitskategorie mit denen aus Haushalten gleichgestellt, wodurch ICI allein die Summe von etwa einer halben Million Mark pro Jahr einsparte.

Trotz der insgesamt hohen Sanierungskosten für die Altlasten unterstützte der Chemie-Multi den Chemiebereich des Helmholtz-Gymnasiums und dessen im Umweltschutz engagierte Arbeitsgemeinschaft mit größeren Beträgen.

Bei soviel Zusammenarbeit entsteht gegenseitiges Vertrauen. So erhielt die Chemie-AG Einblick in sämtliche Genehmigungsunterlagen des Unternehmens. Walther Enßlin: ’Mitunter trauten wir unseren Augen nicht.’

Walther Enßlin zeigte die Untere Wasserbehörde wegen ihrer Genehmigungspraktiken an, nach der die Vorläuferfirma Wiederhold überhaupt keine Grenzwerte oder Beschränkungen bei der Einleitung von Lösungsmitteln in die Kanalisation einhalten musste. Von der Staatsanwaltschaft hieß es daraufhin sinngemäß: Behörden dürfen genehmigen, was sie wollen.

Die Schüler der Chemie-AG entwickelten gemeinsam mit dem Werk ein Überwachungssystem, das auch anderswo eingesetzt werden kann. Dazu bezahlte ICI ihnen bereits zwei Messstationen und einen Computer. Eine Station war mobil. Damit die Schüler, die meist noch keinen Führerschein besaßen, die Gerätschaften von A nach B bewegen und auch dabei dem Umweltschutzgedanken Rechnung tragen konnten, wurde sie auf einem Fahrrad installiert. Dem Chemielehrer Walther Enßlin wurde diese Anordnung seinerzeit zum Verhängnis: Er stürzte mit dem Rad und brach sich dabei einen Arm…“. (Ende des von Jürgen Streich s.o. zitierten und gekürzten Textes).

Dieses Jahr (2010) begann die Stadt Düsseldorf die giftigen, chlorierten Kohlenwasserstoffe mit großem Aufwand aus dem Grundwasser zu entfernen. Diese Schadstoffe waren auf Anregung der Chemie-AG 1990 unter dem Gelände von ICI entdeckt, später in der Grundschule Wiederhold gefunden worden und inzwischen 2 km weiter bis über die Stadtgrenze von Hilden gewandert, wo sie die Trinkwasserbrunnen von Düsseldorf bedrohen.

Ein Artikel des SPIEGEL zum Prozess gegen die CBG

Pressemitteilung

„Kritik findet nicht statt – oder: Der vorauseilende Gehorsam ist auch nach 100 Jahren noch modern am Helmholtz-Gymnasium?“

Das Helmholtz-Gymnasium in Hilden (NRW) feiert morgen seinen 100. Geburtstag. Der langjährige Chemie-Lehrer Dr. Walther Ensslin sollte in der Festschrift über Auseinandersetzungen mit Chemiefirmen wie BAYER und ICI berichten. Seine Beiträge wurden jedoch von der Schulleitung gestrichen. Der Fall dokumentiert einmal mehr den vorauseilenden Gehorsam von Politik, Behörden und Bildungseinrichtungen gegenüber großen Unternehmen.

Die schulpolitische Sprecherin der Landtagsfraktion DIE LINKE und langjährige Politik-Lehrerin Gunhild Böth erklärt dazu:
„Gerade Lehrkräfte mit kritischem Verstand, die ihren Schülerinnen und Schülern Gelegenheit geben, sich für eigene Interessen und Interessen der Allgemeinheit zu engagieren, genauer hinzusehen, eigene Erkundungen anzustellen, zu kritischem Sachverstand zu gelangen, werden in Festakten zur politischen Bildung gefordert. Wenn aber ein Lehrer wie Herr Dr. Enßlin die daraus entstehenden Konflikte, die notwendigerweise im politischen Raum auftreten, in einer Festschrift dokumentieren will, werden sie mundtot gemacht? Das ist ein Skandal! Im Gegenteil sollte die Schule stolz sein auf solche Projekte und diese bei Wettbewerbungen der Landeszentrale für politische Bildung einreichen!“

Gunhild Böth
Mitglied des Landtags NRW
Vizepräsidentin des Landtags
Bildungspolitische Sprecherin
Fraktion DIE LINKE
Platz des Landtags 1
40221 Düsseldorf