Interview mit Alan Tygel über die Lage in Brasilien
„Konflikte sind zu erwarten“
Am 1. Januar des Jahres hat Luiz Inácio Lula da Silva offiziell den Rechtsextremen Jair Bolsonaro als Präsident von Brasilien abgelöst, hinter dem die versammelte Agro-Industrie des Staates stand. Stichwort BAYER sprach mit Alan Tygel von der PERMANENTEN KAMPAGNE GEGEN AGRAR-GIFTE UND FÜR DAS LEBEN über die Chancen für eine umweltverträglichere, auf eine kleinbäuerlichere Landwirtschaft setzende Agrar-Politik, das Mercosur-Abkommen und die allgemeine politische Lage in dem Land nach dem Regierungswechsel.
Stichwort BAYER: Präsident Lula erklärte in seiner Antrittsrede, den energetischen und ökologischen Wandel hin zu einer nachhaltigen Landwirtschaft und einem nachhaltigen Bergbau, zu einer Stärkung der bäuerlichen Familienbetriebe und einer grüneren Industrie einleiten zu wollen. Glaubst Du an diesen Wandel?
Alan Tygel: Präsident Lula wurde von einem breiten Spektrum politischer Kräfte gewählt, deren Hauptziel es war, Bolsonaro abzusetzen und die brasilianische Demokratie zu verteidigen. Trotz dieser breiten Allianz gewann Lula nur mit einem Vorsprung von weniger als zwei Prozent. Folglich muss er eine Regierung bilden, die dieses Bündnis in irgendeiner Weise widerspiegelt, da die Möglichkeiten der Regierung, das zu tun, was so dringend notwendig ist, sonst sehr gering sein werden.
In diesem Zusammenhang sind Begriffe wie „nachhaltige Landwirtschaft und Bergbau“ oder „grünere Industrie“ völlig umstritten. Innerhalb der Regierung gibt es Fraktionen, die diese Konzepte auf eine unternehmerische Art und Weise verstehen und einen „grünen Kapitalismus“ unterstützen. Daneben gibt es andere, die uns näher stehen und zum Beispiel verstehen, dass eine nachhaltige Landwirtschaft nur durch eine tiefgreifende Agrarreform und einen Schutz indigenen Landes erreicht werden kann, sowie durch ein weitgehendes Verbot von Pestiziden, eine agrar-ökologische Ausrichtung der Landwirtschaft und eine starke staatliche Regulierung der Lebensmittelmärkte.
Die größte Herausforderung, der wir als soziale Bewegungen uns in den nächsten vier Jahren gegenübersehen werden, besteht darin, die Regierung gegen die extreme Rechte zu verteidigen und sie gleichzeitig in Richtung unseres politischen Programms zu pushen.
SWB: Hat die Regierung schon ein konkretes Programm für die Agrar-Politik verkündet?
A. T.: Nein. Es gibt jedoch einige sehr positive Signale. Lula hat das „Ministerium für Agrar-Entwicklung und bäuerliche Familienbetriebe“ (MDA) neu geschaffen und die Behörde für die Nahrungsmittel-Versorgung (CONAB) sowie die „Agentur für Agrarreform“ (INCRA) in dieses Ministerium verlegt. Beide Behörden waren im Landwirtschaftsministerium angesiedelt, das sich völlig nach dem großen Agrobusiness ausgerichtet hat. Daher ist es sehr wichtig, ein weiteres Ministerium zu haben, das sich mit den bäuerlichen Familienbetrieben und der Agrarökologie befasst. Und die CONAB ist für die sehr erfolgreiche Lebensmittelankauf-Politik verantwortlich, die in den ersten Amtszeiten von Lula und Dilma etabliert wurde. Diese Politik garantiert den bäuerlichen Familienbetrieben, vor allem den agrar-ökologischen, dass ihre Produktion vom Staat aufgekauft und an Schulen, Krankenhäuser, Gefängnisse und andere öffentliche Einrichtungen verteilt wird.
Ein weiteres sehr positives Signal war die Wiedereinsetzung des „Rates für Ernährungssicherheit und Souveränität“ (CONSEA), der sich mit Maßnahmen zur Beseitigung des Hungers in Brasilien befasst. Nachdem die Zahlen während der Amtszeiten von Lula und Dilma sehr niedrig waren, leiden jetzt rund 33 Millionen Menschen an Hunger und etwa 100 Millionen an Ernährungsunsicherheit.
Wir sind recht optimistisch, was echte Fortschritte der Politik angeht, die Agrar-ökologie voranzutreiben. Allerdings ist die brasilianische Wirtschaft immer noch stark von der Primärproduktion der Agrarindustrie abhängig, z. B. von Soja, Mais, Baumwolle und Fleisch. Diese Abhängigkeit spiegelt sich in der großen politischen Macht dieses Sektors im Land wider, und diese Situation wird sich in nächster Zeit nicht ändern.
SWB: Was müsste eurer Meinung nach als erstes geschehen?
A. T.: Vorrangig geht es jetzt darum, Maßnahmen zur Bekämpfung der von der Regierung Bolsonaro hinterlassenen Hunger-Situation zu ergreifen. Die staatlichen Strukturen Brasiliens wurden in den letzten vier Jahren zerstört, einschließlich des gesamten Rahmens der sozialen Sicherheitssysteme. Lula hat bereits mehrere Maßnahmen zum Mindesteinkommen (Bolsa Família) und zur Wohnungspolitik für Menschen in größter Not angekündigt. Die nächsten Schritte müssten die landwirtschaftlichen Familienbetriebe in die Strategie zur Bekämpfung des Hungers einbeziehen, vor allem, indem die Regierung Lebensmittel aufkauft und an Bedürftige verteilt.
SWB: Lula hat das Amt des Umweltministers erneut mit Marina Silva besetzt, die bereits seinen früheren beiden Kabinetten angehörte, aber im Zuge von Auseinandersetzungen um die Regenwald-Abholzungen zurücktrat. Dem neuen Landwirtschaftsminister Carlos Favaro werden dagegen Beziehungen zur Agro-Lobby nachgesagt. Ist da mit Konflikten zu rechnen?
A. T.: Ohne Zweifel sind Konflikte zu erwarten, vor allem aus den bereits genannten Gründen. Im Falle von Ministerin Marina dürften die größten Konflikte in den Bereichen „Energie“, „Bergbau“ und „Infrastruktur“ auftreten. Es gibt zahlreiche laufende Projekte wie Kernkraftwerke, große Seehäfen, Eisenbahnen und Kalium-Abbau, die beispielsweise indigenes Land beeinträchtigen können. Andererseits: Wenn die brasilianische Wirtschaft in den nächsten Jahren nicht gut läuft, besteht die realistische Gefahr, dass die extreme Rechte die Wahlen gewinnt. Die Herausforderung, vor der Lula steht, ist also enorm, und wir werden sehr hart daran arbeiten, die Regierung erfolgreich zu machen.
SWB: Hat die Agro-Lobby im Allgemeinen und BAYER im Besonderen geschlossen zu Bolsonaro gehalten?
A. T.: Im Allgemeinen ist der Agrarsektor (Großbauern, Geschäftsleute in verwandten Bereichen usw.) sehr stark mit Bolsonaro assoziiert. Beide Lager verbindet, dass sie konservative Werte teilen und eine freigiebige Erteilung von Waffenlizenzen zur „Verteidigung ihres Privatbesitzes“ gegen landlose „Eindringlinge“ befürworten. Konkret begünstigte Bolsonaros Wirtschaftspolitik der Real-Abwertung die Agrarindustrie, da sie den Großteil ihrer Produktion exportiert und dieser Export bei einem höheren Dollarkurs profitabler wird. Im Inland verursachte die Maßnahme dagegen einen inflationären Anstieg des Sojaöl-Preises, obwohl Brasilien der größte Sojaproduzent der Welt ist. In den Regionen, in denen die Agrarindustrie stärker vertreten ist wie in den Bundesstaaten Mato Grosso und Paraná haben diese Faktoren deshalb dazu geführt, dass Bolsonaro recht massiv gewählt wurde.
BAYER selbst nimmt keine klare Position ein. Die Verbände, denen BAYER angehört wie Croplife oder ABAG unterstützen jedoch Denkfabriken wie das Instituto Pensar Agro (IPA), das die Strategie der gesamten Agro-Lobby festlegt. Der derzeitige Vorsitzende der parlamentarischen Agribusiness-Front, Pedro Lupion, ist ein rigoroser Extremist und wird versuchen, der Regierung ernsthafte Schwierigkeiten zu bereiten.
SWB: Stimmt es, dass die Agro-Lobby mit zu den Finanziers der Protest-Camps gehörte, die nach der Abwahl von Bolsonaro errichtet wurden?
A. T.: Die Ermittlungen dauern noch an, aber einige Geschäftsleute, die mit der Agrarindustrie verbunden sind, wurden bereits als Finanziers mehrerer antidemokratischer Proteste identifiziert, darunter auch der Ausschreitungen vom 8. Januar. Am 23. Dezember 2022 platzierte George Washington De Oliveira Sousa eine Bombe in einem Tankwagen, der Treibstoff zum Flughafen von Brasília bringen sollte. Dank der Aufmerksamkeit des Fahrers wurde die Bombe entdeckt und ist nicht explodiert.
George hatte enge Beziehungen zu Kongressabgeordneten der Agrarindustrie und ist Eigentümer eines Netzes von Tankstellen, Restaurants und Transportunternehmen in den Expansionsgebieten der Agrarindustrie in Pará.
Wir sind sicher, dass mit dem Fortschreiten der Ermittlungen weitere Verbindungen zwischen den antidemokratischen Protesten und dem Agrobusiness aufgedeckt werden.
SWB: Glaubst Du, dass es zu weiteren innenpolitischen Auseinandersetzungen kommen könnte mit der Gefahr einer Eskalation bis hin zum Bürgerkrieg oder hat sich die Lage inzwischen beruhigt?
A. T.: Die Reaktion der Regierung auf die Unruhen vom 8. Januar erfolgte sehr schnell und war hart. Mehr als 3.000 Personen wurden verhaftet, und gegen mehrere andere wird bereits ermittelt. Das Finanzierungsnetz dieser Gruppen wurde schon geschwächt. Im Moment können wir also sagen, dass die Lage ruhig ist. Die Rechtsextremisten sind jedoch immer noch da, und die künftige Situation hängt stark vom Erfolg von Lulas Wirtschaftsstrategie ab, mit der Armut und Hunger bekämpft und den Menschen ihre Würde zurückgegeben werden soll.
SWB: Welche Haltung hat die PERMANENTE KAMPAGNE GEGEN AGRARGIFTE UND FÜR DAS LEBEN zum Mercosur-Abkommen der EU mit Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay?
A. T.: Das Abkommen in seiner jetzigen Form ist sehr gefährlich für die landwirtschaftlichen Familienbetriebe und für die Weiterentwicklung der Agrarökologie. Im Kern begünstigt es die Einfuhr von Industrieprodukten wie Pestiziden und die Ausfuhr von Agrar-Grundstoffen. Das ist genau das, was wir im Moment nicht brauchen, und Präsident Lula ist sich dieses Ungleichgewichts bereits bewusst. Ein Abkommen mit der EU könnte sehr positiv sein, um unsere Abhängigkeit von den USA und China zu verringern, aber es muss auf einer anderen Grundlage beruhen, einer, die eine nachhaltige Entwicklung unseres Blocks begünstigt.