16. Dezember 2015
Mangelhafte Kontrolle von Chemie-Fabriken
Unternehmen, die mit gefährlichen Chemikalien arbeiten, sollen laut Seveso-Richtlinie einmal pro Jahr inspiziert werden. Doch viele Betriebe in Deutschland bekommen nicht einmal alle drei Jahre Besuch. Die aktuelle Verordnung der EU wurde von Deutschland bislang nicht umgesetzt.
Wie oft und wie gründlich werden Chemie-Fabriken in Deutschland inspiziert? Konkrete, überprüfbare Antworten auf diese Fragen gibt es laut einer Recherche des SPIEGEL nicht.
Eigentlich müssen die Behörden jeden Betrieb einmal im Jahr kontrollieren, sobald dieser mit größeren Chemikalienmengen arbeitet. So schreibt es die Seveso-Richtlinie der EU vor – benannt nach dem Chemieunfall im italienischen Seveso im Jahr 1976. 1141 sogenannte Seveso-Betriebe der oberen Gefahrenklasse gab es Ende 2014 in Deutschland.
Ein Bericht des Bundesumweltministeriums zeigt jedoch, dass 63 Prozent der Betriebe der oberen Klasse zwischen 2012 und 2014 nicht jährlich kontrolliert wurden. 14 Prozent aller Standorte bekamen sogar in den gesamten drei Jahren nicht ein einziges Mal Besuch vom Inspektor. Schon im Zeitraum 2009 bis 2011 lag die Nicht-Kontroll-Quote deutschlandweit bei 14 Prozent – also genauso hoch. Der Bericht findet sich unter http://www.bmub.bund.de/fileadmin/Daten_BMU/Download_PDF/Luft/seveso_ii_richtlinie_2015_bericht_bf.pdf
Das Fehlen der Inspektionen verstößt aber nicht zwingend gegen die Vorschrift. Denn wenn die Behörde eine „systematische Gefahrenbewertung“ für einen Betrieb erstellt, kann sie das Inspektionsintervall beliebig über das eigentlich vorgeschriebene Jahr hinaus verlängern. Auf diese Regelung beruft sich das rheinland-pfälzische Umweltministerium. Man habe anhand der Gefahrenbewertung teils auch Inspektionsintervalle länger als drei Jahre festgelegt, teilt das Ministerium mit. Ähnlich äußert sich das NRW-Umweltministerium, räumt aber auch Personalmangel ein. Die vorherige Landesregierung habe Stellen in der Umweltverwaltung abgebaut. Man sei dabei, wieder mehr Kontrolleure einzustellen.
Störfälle bei BAYER
Die Coordination gegen BAYER-Gefahren (CBG) wurde einst nach Störfällen im BAYER-Werk Wuppertal gegründet. Der Verein führt eine öffentlich einsehbare Liste der Störfälle bei BAYER: http://cbgnetwork.de/476.html
Auch wies die CBG wiederholt nach, dass der Konzern den Verpflichtungen der Störfall-Verordnung über die Information der Öffentlichkeit nicht nachkommt, siehe http://cbgnetwork.de/1704.html
Bis Ende der 90er Jahre wurden zudem die Einleitungen in Gewässer sowie Emissionen in die Luft geheim gehalten – wegen angeblicher Betriebsgeheimnisse. Erst durch das Umweltinformationsgesetz besserte sich die Situation. Die CBG konnte daraufhin die in mehreren BAYER-Werken gelagerten Chemikalien-Mengen veröffentlichen:
http://www.cbgnetwork.org/4269.html (Dormagen)
http://www.cbgnetwork.org/4511.html (Leverkusen)
Auch beteiligte sich die CBG intensiv am Genehmigungsverfahren für die neue TDI-Anlage in Dormagen, in der jährlich hunderttausende Tonnen gefährlicher Chemikalien wie Phosgen, Chlor und Ammoniak zum Einsatz kommen: http://www.cbgnetwork.org/3962.html
EU-Gesetze nicht umgesetzt
Claudia Baitinger vom Umweltverband BUND kritisiert die mangelnden Kontrollen. Inspektionsintervalle von mehr als drei Jahren seien nicht ausreichend für eine wirksame Kontrolle. Vor-Ort-Inspektionen seien oftmals die einzige Möglichkeit, den technischen Zustand der Anlage zu prüfen, betont auch Stephan Kurth, Experte für Anlagensicherheit des Öko-Instituts. Die Frage sei, wie die langen Intervalle zustande kommen. „Nicht tolerierbar wäre, wenn Inspektionsprogramme in der Praxis nicht eingehalten werden oder wenn leichtfertig längere Inspektionsintervalle vorgeschrieben werden“, sagt Kurth. Beim Umweltbundesamt wünscht man sich eine harte Obergrenze von maximal drei Jahren für die Inspektionsintervalle. Da sei die EU-Gesetzgebung fachlich nicht nachvollziehbar, sagt der Leiter des Fachgebiets Anlagensicherheit, Dieter Cohors-Fresenborg.
Die aktuelle Seveso-Richtlinie, fordert, dass alle Inspektionen im Internet nachvollziehbar sein müssen. Doch die Bundesrepublik hat diese nicht wie gefordert bis zum 31. Mai 2015 umgesetzt. Auf eine Anfrage von SPIEGEL ONLINE-Anfrage zu den Namen und Adressen aller Seveso-Betriebe in Deutschland antwortete das Bundesumweltministerium: „Die erbetenen aktuellen Informationen (…) liegen dem Bundesministerium (…) derzeit nicht vor. Sie werden frühestens Ende 2016 vorhanden sein.“
Mangelhaft ist leider auch die offizielle ZEMA-Datenbank des Umweltbundesamts, in der Störfälle in Seveso-Betrieben gesammelt werden. In dieser werden für die meisten Ereignisse nicht die betroffenen Firmen genannt, selbst der Ort bleibt oft unklar. Eine systematische Analyse ist dadurch nur bedingt möglich (siehe http://www.infosis.uba.de/index.php/de/zema/index.html).