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Sicherheitsrisiko Chem„park“

Marius Stelzmann

Peu à peu kommen immer mehr Details zur Explosion vom 27. Juli 2021 im Leverkusener Chem„park“ ans Tageslicht. Sie dokumentieren das ganze Ausmaß des Versagens der Betreiber-Gesellschaft CURRENTA, der – wie ihrer einstigen Mutter-Gesellschaft BAYER – Profit immer wichtiger als Anlagen-Sicherheit war.

Von Jan Pehrke

Als einfache „Opferstrecke“ für Produktionsrückstände betrachtete BAYER den Rhein zu Anfang des letzten Jahrhunderts. Seine ehemalige Tochter-Gesellschaft CURRENTA, die den Leverkusener Chem„park“ betreibt, geht davon bis heute nicht ab. Nach der Explosion am 27. Juli 2021 im Entsorgungszentrum des Areals, die sieben Menschen das Leben kostete, leitete das Unternehmen Unmengen kontaminiertes Löschwasser ohne behördliche Genehmigung in den Fluss ein. 9,5 Millionen Liter des zuvor mit anderen flüssigen Rückständen des Chemie-Areals vermengten „Ereignis-Wassers“ pumpte der Konzern über die Kläranlage und unter Zusatz von Aktivkohle in das Gewässer. Ihm zufolge reichten die Rückhalte-Kapazitäten der Tanks auf dem Gelände nicht aus, im Zuge der Gefahrenabwehr musste er deshalb zu dieser Maßnahme greifen. „Es war leider nicht zu vermeiden, dass dabei auch Stoffe in die Kläranlage gelangten, die dort nicht vollständig abgebaut werden konnten“, erklärte die CURRENTA. Auf diese Weise strömten perfluorierte Verbindungen, Pestizide und andere Chemikalien in den Rhein. Allein 60 bis 70 Kilogramm des – innerhalb der EU wegen seiner Bienengefährlichkeit verbotenen – Pestizids Clothianidins waren darunter.

Clothianidin im Rhein

Die Öffentlichkeit erfuhr davon lange nichts. In dem Bericht, den NRW-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) dem Umweltausschuss des Landtages im August 2021 vorlegte, hieß es noch: „Das Löschwasser sowie kontaminiertes Kühlwasser konnte nach Angabe des Anlagen-Betreibers komplett in Stapeltanks innerhalb des Entsorgungszentrums aufgefangen werden. Zu einer Einleitung über die Gemeinschaftskläranlage in den Rhein kam es danach nicht.“ Erst Recherchen des BUND brachten den Skandal ans Tageslicht.

Mit einem „kommunikativen Missverständnis“ zwischen ihrem Haus und dem „Landesamt für Natur-, Umwelt- und Verbraucherschutz (LANUV) erklärte Heinen-Esser die Fehlinformation dann im Umweltausschuss des NRW-Landtages. „Der Begriff ‚einbinden’ wurde (…) nicht als ‚einleiten’ verstanden“, so die Ministerin. Nichtsdestotrotz hielt sie die Entscheidung der Currenta für „nachvollziehbar“. Und überhaupt – alles halb so schlimm: „Bei der Beprobung wurde eine Überschreitung der (…) geltenden Überwachungswerte nicht festgestellt.“

Der BUND hält das für „eine unverantwortliche Verharmlosung“. Nach Angaben des Umweltverbands überschritten die Mess-Daten für perfluorierte Verbindungen mit 10 Mikrogramm pro Liter den Orientierungswert von einem Mikrogramm pro Liter an vier Tagen deutlich. Und dem Gewässer Clothianidin über eine Kläranlage, die den Stoff gar nicht behandeln kann, tagelang in einer Konzentration von über 100 Mikrogramm pro Liter im Abwasser-Strom zuzuführen, beurteilt der BUND ähnlich kritisch. „Dies ist trotz Verdünnung im Rhein nicht akzeptabel“, konstatierte die Initiative.

Bis nach Holland runter kontaminierte der Stoff den Fluss. Darum zeigten sich die niederländischen Behörden konsterniert über das Verhalten ihrer deutschen KollegInnen. Gerard Stroomberg von der „Vereinigung der niederländischen Wasserwerke“ zufolge hätten sie Rheinalarm auslösen müssen. Er verweist dabei auf die Richtlinien der „Internationalen Kommission zum Schutz des Rheins“, nach denen sogar besondere Ereignisse ohne Auswirkungen auf das Gewässer der Meldepflicht unterliegen. „Wir hätten die Aufnahme von Rheinwasser stoppen können, um unsere Verbraucher zu schützen“, so Stroomberg.

Das Clothianidien warf jedoch noch weitere Fragen auf. Das „Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen“ (LANUV) schreibt zwar in seinem Bericht zu den Vorfällen mit Bezug auf die von der CURRENTA erhaltenen Informationen: „Aus diesen Angaben und unter Berücksichtigung der zwischen dem 28.07.21 und 30.07.21 erfolgten Einleitung der aufgefangenen Ereignis-Wässer in die Kläranlage sind die ab dem 29. Juli 2021 aufgetretenen Clothianidin-Belastungen im Ablauf der Kläranlage Leverkusen-Bürrig erklärbar“, dann aber kommt’s. „Für die bereits zuvor eingetretene Erhöhung der Clothianidin-Konzentration am 28. Juli 2021 auf 2,3 Mikrogramm pro Liter gilt das jedoch nicht“, bemerkt die Behörde. Darum prüfte sie, ob das Pestizid vielleicht über die kommunalen Abwässer in die Kläranlage gelangt war, darauf fanden sich jedoch keine Hinweise. „Es ist zu vermuten, dass die festgestellte Grundbelastung im Ablauf der Kläranlage Leverkusen-Bürrig  aus dem Chemie‚park’ Leverkusen stammt“, hält das LANUV fest. Dabei will es das Landesamt jedoch nicht belassen. „Dem wird noch weiter nachgegangen“, kündigt es an.

Der BAYER-Konzern zählt mit seiner Anlage in Dormagen zu den Hauptproduzenten des Mittels. Darum vermutete die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG) ihn auch sogleich als Quelle. Aber die CURRENTA hielt sich bedeckt. „Bitte haben Sie dafür Verständnis, dass wir grundsätzlich keine Angaben darüber machen, welcher Abfall von welchem Kunden stammt“, antwortete CURRENTA-Geschäftsführer Hans Gennen bei einer Anhörung des Leverkusener Stadtrats Keneth Dietrich von der Partei „Die Linke“. Diese Angaben machte später die NRW-Landesregierung und bestätigte damit den Verdacht der Coordination. Warum aber landete das Mittel dann in Leverkusen an, wo es doch direkt vor Ort am Standort Dormagen auch eine Sondermüll-Verbrennungsanlage gibt? „Aus Gründen der Entsorgungssicherheit existieren redundante Entsorgungswege in beide Sondermüll-Verbrennungsanlagen“, heißt es dazu im LANUV-Bericht, während Gennen diesen Abfall-Absurdismus einen „wechselseitigen Entsorgungsverbund“ nennt.

Schleich-Leckage

Nachrichtentechnisch geschickt wartete die CURRENTA dann am 24. Dezember 2021 mit der nächsten Hiobsbotschaft auf. Über einen Zeitraum von fünf Monaten hinweg floss aus einem undichten Tank 1.300 Kubikmeter chemikalien-haltiges Löschwasser aus der Kläranlage Leverkusen-Bürrig ab, ohne das zweistufige Aktivkohle-Reinigungssystem durchlaufen zu haben. Obwohl der Behälter über eine Füllstandsmesseinrichtung und eine Radarsonde verfügte, bemerkte der Chem„park“-Betreiber die durch eine defekte Klappe ausgelöste „Schleich-Leckage“ nicht.

Und auch im Jahr 2022 kam die CURRENTA nicht aus den Schlagzeilen. Mitte Januar führte die Bezirksregierung eine unangekündigte Inspektion auf dem Chem„park“ durch, um Hinweisen von Firmen-Beschäftigten auf Defizite nachzugehen. Sie wurde nicht zu knapp fündig. So funktionierte am Tag der Explosion der Hausalarm nicht, und überdies stürzte in der Sicherheitszentrale, über die auch die Steuerung der Anlagen läuft, mal wieder der Computer ab. Das hätte aber keine Probleme bereitet, da es ein Backup gab, wiegelte die Service-Gesellschaft ab, gestand jedoch „gelegentliche Teil-Störungen“ ein. Damit nicht genug, stellte sich heraus, dass der Konzern schon im Frühjahr 2021 in der Sicherheitszentrale eine System-Umstellung der Leitstellen-Technik und andere Umstrukturierungsmaßnahmen vorgenommen hat, ohne dafür beim Land eine Genehmigung einzuholen.

Von „erheblichen technischen und organisatorischen Problemen“ spricht der Bericht der Bezirksregierung. Belegschaftsangehörige hätten das Management immer wieder auf die Schwachstellen hingewiesen, aber dieses sah keine Veranlassung, dem nachzugehen, geschweige denn den Störfall-Beauftragten und die Behörden zu informieren, schrieben die BeamtInnen der Behörde. Zudem beklagten sie sich über die mangelnde Kooperationsbereitschaft der CURRENTA: „Einige Vertreter des Unternehmens behinderten die Sachstandsermittlung, sei es durch fehlende oder bewusst falsche Angaben.“

PFAS im Rhein

Ende Februar 2022 dann erweiterte sich die Schadensbilanz noch einmal. „CURRENTA pumpt seit Jahren zu viel giftige Stoffe in Rhein“, meldete der WDR. So fanden sich im Abwasser der Kläranlage Konzentrationen von per- und polyfluorierten Alkyl-Substanzen (PFAS), die deutlich über dem Orientierungswert von 35 Gramm pro Tag lagen. „Nahezu an jedem Tag wird der Wert um den Faktor Hundert oder mehr überschritten“, konstatiert Paul Kröfges vom BUND. Eigentlich hätte die Bezirksregierung hier sofort einschreiten und auf die CURRENTA-Besitzer – bis 2019 noch BAYER und LANXESS – einwirken müssen, diese Wasserverschmutzung zu beenden. Sie gab sich jedoch mit einer Verringerung der Giftfracht zufrieden. Jetzt sieht sie auf einmal wieder Handlungsbedarf, vorgeblich weil die EU schärfere Auflagen für PFAS plant. „Mit Blick auf die abzeichnende Entwicklung wird die Bezirksregierung das Gespräch mit dem Chemie„park“ suchen, um nach weiteren Reduzierungsmöglichkeiten zu suchen“, so die Behörde.

Zu allem Übel ereigneten nach der Explosion vom 27. Juli in den Leverkusener und Dormagener Chem„parks“ weitere Störfälle und Unfälle. So kam es am 9. Dezember 2021 bei BAYER in Dormagen zu einem tödlichen Arbeitsunfall. Bei Reinigungsarbeiten an ausgebauten Anlage-Teilen verwechselte ein Angestellter einer Fremdfirma einen Anschluss-Stutzen, so dass er statt Wasser Natronlauge freien Lauf ließ und einer Verätzung erlag. Zwei seiner Kollegen sowie drei Rettungskräfte gerieten ebenfalls mit dem Stoff in Kontakt und mussten im Krankenhaus behandelt werden. Am 16. Dezember trat in Leverkusen bei einer Firma ein Stoff aus. Am 31. Januar gelangten Nitrose-Gase in die Umwelt, und am 9. Februar barst eine Rohrleitung und setzte eine Substanz frei.

Die CURRENTA möchte diese Informationen seit Neuestem nicht mehr mit ihrem Namen verbunden wissen, deshalb finden sich die Angaben nun nicht mehr auf der Webs ite des Unternehmens selbst, sondern unter chempark.de. Aber über die andauernde Unsicherheitslage kann dieses Versteckspiel nicht hinwegtäuschen. „Wir betrachten diese wiederholten Schadensereignisse aufmerksam, denn wir sind im Industrieland NRW auf das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger angewiesen“, erklärte der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart dann auch. Das hindert die Landesregierung allerdings nicht daran, den Wunsch von BAYER & Co. nach schnelleren Genehmigungsverfahren für Industrie-Anlagen zu unterstützen. „Wir müssen uns jetzt die Zukunft genehmigen. Was für Windräder, Stromtrassen und Solarparks gilt, muss für alle nachgelagerten Wertschöpfungsketten und daher auch für alle Industrie-Anlagen gelten. Hierzu brauchen wir noch in diesem Jahr dringend ein Beschleunigungsgesetz für Planungs- und Genehmigungsverfahren“, drängt der „Verband der Chemischen Industrie“ (VCI).

Nicht zuletzt durch das Schleifen der BürgerInnen-Beteiligung will der VCI das Prozedere straffen. Bei einem Pressetermin konfrontierte die CBG Andreas Pinkwart mit der Frage, ob es im Angesicht der Chemie-Katastrophe vom Juli 2021 nicht fahrlässig sei, gefährlichen Produktionsstätten schneller grünes Licht zu geben. Doch der Politiker wich aus: „Derzeit wird auch gutachterlich ermittelt, welche Gründe für die Explosion im Chem„park“ und die weiteren Ereignisse ursächlich waren. Wenn die Ergebnisse vorliegen, wird die Öffentlichkeit informiert. Die von Land und Bund geforderte Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren soll – unter Einhaltung der bestehenden Sicherheits- und Umweltstandards – Prozesse optimieren, Bürgerinnen und Bürger sowie die Wirtschaft von Bürokratie entlasten und Unternehmen in ihrer Innovations- und Investitionstätigkeit stärken.“

Trotz allem bemüht sich der Chem„park“-Betreiber händeringend um die Möglichkeit, das Entsorgungszentrum mit der Sondermüll-Verbrennungsanlage so schnell wie möglich wieder zu nutzen. Er strebt eine Inbetriebnahme auf Raten an und heuerte dafür als willige ExpertInnen Professor Dr. Christian Jochum und sein Team an. Mitte Februar legte dieser auf einer Sitzung des Leverkusener Stadtrats dann dar, wie sich die CURRENTA die Reaktivierung im Einzelnen so vorstellt. Da eine über der zulässigen Temperatur gelagerte Chemikalie die Katastrophe ausgelöst hat, will sie vorerst keine Substanzen mehr in die Verbrennung gehen lassen, die aufgeheizt gefährliche Wirkungen entfalten können. Auch beabsichtigt das Unternehmen, zunächst nur solche Abfälle anzunehmen, die vom Chem„park“ selbst oder aus der näheren Umgebung stammen. Überdies will es just in time arbeiten und die Gift-Frachten erst einmal weder lagern noch miteinander vermischen.

Zudem kündigte Christian Jochum weitere Vorsichtsmaßnahmen an. Ihm zufolge gilt es, die Erzeuger des Giftmülls stärker in die Pflicht zu nehmen und zu veranlassen, ihre Produktionsrückstände intensiver zu prüfen. Überdies sei es erforderlich, alle Wege vom Kunden über das Werkstor bis hin zum Verbrennungsofen genauestens mit Vorschriften zu unterlegen und das 4-Augen-Prinzip einzuführen. „Das alles gab es also vorher nicht! Dieser Tatbestand lässt abermals daran zweifeln, ob die Sicherheit bei einem Chem„park“-Betreiber, der dem Infrastruktur-Fonds einer australischen Investmentbank gehört und zur Erwirtschaftung von Profiten gezwungen ist, wirklich in guten Händen ist“, schrieb die Coordination als Reaktion auf die Pläne in einer Presseerklärung. „Statt jetzt an eine Wiederinbetriebnahme des Entsorgungszentrums auf Raten zu denken, muss (…) der gesamte Chem„park“ auf den Prüfstand gestellt werden“, forderte die Coordination gegen BAYER-Gefahren. ⎜

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