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[Schmutzige Pillen] BAYERs dunkle Wirkstoff-Quellen

CBG Redaktion

Was der Bekleidungsindustrie Bangladesh ist, verkörpert das indische Hyderabad für die Pillen-Riesen. Hunderte Fabriken produzieren dort Wirkstoffe für BAYER & Co. Die Stadt im Bundesstaat Telangana nimmt einen bedeutenden Platz in der globalen Lieferkette der Konzerne ein. Zu ihren vielen Standort-Vorteilen zählen niedrige Kosten und geringe Umweltschutz-Auflagen, was verheerende Folgen für Mensch, Tier und Umwelt hat. Aber auch andere Regionen in Asien bieten „Big Pharma“ solche attraktiven Kapitalverwertungsmöglichkeiten – mit ähnlichen Risiken und Nebenwirkungen.

Von Jan Pehrke

„Maximale Förderung – minimale Kontrolle“ – mit diesem Slogan wirbt die indische Stadt Hyderabad um Industrie-Ansiedlungen. Besonders Pharma-Betrieben erscheint das attraktiv. Mehr als 500 Unternehmen zählt das Branchen-Verzeichnis der Millionen-Metropole. Von dem „am schnellsten wachsenden Gesundheitssektor in ganz Indien“ spricht das von der deutschen Bundesregierung finanzierte Web-Portal Kooperation international begeistert.(1) Ein Drittel der Medikamenten-Produktion des Staates stammt aus Hyderabad. Bei den Arznei-Exporten beträgt der Anteil rund 20 Prozent. Im Jahr 2014 machten die Firmen allein damit einen Umsatz von 15 Milliarden Dollar. Ein zweites Zentrum der indischen Wirkstoff-Fertigung befindet sich in Visakhapatnam, das direkt am Golf von Bengalen liegt.

Wie alles anfing

Der Boom setzte mit dem vorerst letzten Globalisierungsschub ein, den 1994 die Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) einläutete. Wer dem Club angehören wollte, musste vorher das internationale Patentschutz-Abkommen TRIPS anerkennen – dafür hatten vor allem die Lobby-Aktivitäten des US-amerikanischen Pillen-Riesen PFIZER gesorgt. Indien wollte, und so hatte die stärkere Integration des südasiatischen Landes in den Weltmarkt dann auch gleich massive Auswirkungen auf die heimische Arznei-Industrie. Die Unternehmen konnten fortan nicht mehr einfach den Schutz des geistigen Eigentums umgehen, indem sie Pharmazeutika aus den Industrieländern kopierten und billiger weiterverkauften. Deshalb blieb der Pillen-Industrie des Landes nichts anderes übrig, als ihr Geschäftsmodell zu ändern.
Und dabei spielte BAYER eine bedeutende Rolle. Als erster großer Pharmazeutika-Produzent schloss der Konzern 1999 mit einem indischen Unternehmen einen Vertrag ab. RANBAXY schaffte es, das Interesse des Leverkusener Multis für dessen eigenen – und wegen seiner zahlreichen Nebenwirkungen alles andere als unumstrittenen – Antibiotikum-Inhaltsstoff Ciprofloxacin in einer neuen Formulierung zu wecken. Ein Ciprofloxacin, von dem die PatientInnen nur einmal täglich eine Tablette zu nehmen brauchten – das war dem bundesdeutschen Konzern viel Geld wert. Für die weltweiten Vermarktungsrechte über einen Zeitraum von 20 Jahren zahlte er RANBAXY 65 Millionen Dollar. Und im selben Jahr kaufte das indische Unternehmen seinem neuen Partner auch die BASICS GmbH, eine Tochter-Gesellschaft für Nachahmer-Produkte, sogenannte Generika, ab, um einen Brückenkopf nach Europa zu haben.
Allerdings gelang der inzwischen von SUN PHARMACEUTICAL geschluckten Firma ein solcher Coup wie mit Ciprofloxacin seither nicht mehr. Darum muss sie sich weitgehend auf die Funktion des Zulieferers für Pharma-Unternehmen aus den Industrie-Ländern beschränken. Unter anderem stellt RANBAXY/SUN Wirkstoffe für Anbieter von Nachahmer-Präparaten wie HEXAL und RATIOPHARM her. Und diesen „bulk drugs“-Markt bedienen auch AUROBINDO, LUPIN, CIPLA und weitere indische Konzerne, wobei sie die Basis-Substanzen für ihre Produkte zumeist aus China beziehen. Mittlerweile ist ein Fünftel der Generika-Weltproduktion „Made in India“ mit Hyderabad – dem „bulk drugs capital“ – als Zentrum. Zusammen mit dem Reich der Mitte nimmt das Land nunmehr eine bedeutende Position in der globalen Lieferkette von BAYER & Co. ein. Die beiden Staaten verkörpern für die Pharma-Industrie das, was Bangladesh für die Kleider-Branche ist.
Diese Entwicklung ist Teil eines umfassenden Umstruktierungsprozesses der Pillen-Branche. Den Konzernen gelingt es seit einiger Zeit immer weniger, wirklich neue Arzneien zu entwickeln, die qua Patentschutz Extra-Profite generieren. Sie reagieren darauf mit Rationalisierungsmaßnahmen. So verkleinerten BAYER und die anderen Firmen etwa ihre Forschungsabteilungen. Sie suchen stattdessen mehr die Zusammenarbeit mit Universitäten und/oder kaufen Lizenzen für aussichtsreiche Medikamenten-Kandidaten von außen zu. Eigene Labor-Aktivitäten betreiben die Unternehmen oft nur noch auf Gebieten wie der Onkologie, die große Gewinne versprechen. Zugleich zentralisieren sie die Herstellungsprozesse für ihre Allerweltsmittel stärker oder geben die Fertigung gleich ganz auf und beziehen die Wirksubstanzen sowie Hilfs- und Trägerstoffe aus Staaten, die mit günstigen Konditionen locken wie Indien und China.

Risiken & Nebenwirkungen

Der Preis für die geringen Arbeits- und Produktionskosten ist allerdings hoch. Ihn müssen Mensch, Tier und Umwelt gleichermaßen zahlen. Die Fabriken stoßen nämlich ohne Rücksicht auf Verluste belastende Stoffe aus. Auf manchen Flüssen türmen sich weiße Schäume bis zu einer Höhe von neun Metern auf. Manchmal verschwinden ganze Brücken in ihnen. Das nimmt den AutofahrerInnen die Orientierung und hat schon zu fatalen Unfällen geführt. Die Behörden mussten deshalb bereits Neubauten in Auftrag geben, welche die alten Konstruktionen um mehr als zehn Meter überragen. Andere Emissionen aus den Fabriken verfärben das Wasser gelb, rot oder braun. Und am Grund mancher Seen setzt sich tiefschwarzes, teeriges Sediment ab, das über 60 Meter tief reicht. Aber nicht nur fürs Auge bietet Hyderabad etwas, auch die Nase bekommt viele Sinnes-Eindrücke: ein bestialischer Gestank breitet sich rund um die Hot Spots der Pharma-Produktion aus.
Eine Abwasser-Aufbereitung kennen die meisten Firmen in Hyderabad oder Visakhapatnam nicht. Sie leiten die Fertigungsrückstände direkt in die Gullys, Flüsse, Seen oder Meere ein. In Visakhapatnam, das im Bundesstaat Andhra Pradesh liegt, verlaufen underirdische Pipelines direkt von der „Jawaharlal Nehru Pharma City“ zum Golf von Bengalen. Zudem verklappen die Unternehmen ganze Tankladungen ihrer Hinterlassenschaften in einem nahegelegenen See. Im Hyderabader Industrie-Destrikt Patancheru-Bollaram dagegen haben die Betriebe auf ihrem Areal oft Löcher von bis zu 30 Meter Tiefe gebohrt, um dort ihren Produktionsabfall zu entsorgen. Und wenn die Unternehmen die Herstellungsreste tatsächlich zur Behandlung und Entsorgung außer Haus geben, dann erweisen sich die Betriebe, die solche Dienstleistungen anbieten, oft selber nicht etwa als Teil der Lösung, sondern des Problems, weil sie dem Sondermüll mit unzureichenden Verfahren zu Leibe rücken.
Schwedische WissenschaftlerInnen, welche Untersuchungen in Patancheru-Bollaram vornahmen, stellten schon 2007 fest: „Die Abwässer der Arznei-Produzenten enthalten einen extrem hohen Level an Pharma-Rückständen.“(2) Als besonders gesundheitsgefährdend erweisen sich dabei die Antibiotika-Reste. Durch die hohen Dosen von Ciprofloxacin & Co. gewöhnen sich die Krankheitserreger nämlich an die Substanzen und bilden Resistenzen heraus. Und dazu kam es an diesem Standort häufig, wie das ForscherInnen-Team 2014 nachwies. In einem See unweit des Pillen-Clusters stieß es auf 81 Gen-Typen von Bakterien, gegen die kein einziges Antibiotikum-Kraut mehr gewachsen war. Sie tummelten sich dort in einer Konzentration, welche diejenige in einem schwedischen See, der als Vergleichsmaßstab diente, um das 7.000-Fache überstieg.
2013 starben in Indien 58.000 Babys, weil sie mit solchen unbehandelbaren Krankheitserregern infiziert waren. Die übrigen Frachten mit Arzneien oder anderen Stoffen haben ebenfalls massive gesundheitliche Folgen. Sie schädigen das Kind im Mutterleib, führen zu Todgeburten und Entwicklungsstörungen, lösen Herz- und Blut-Krankheiten aus, verursachen Augen- und Haut-Probleme und schädigen den Magen.
Tiere leiden nicht minder unter den Abwasser-Einleitungen. Fische finden sich in den Gewässern kaum noch, und den LandwirtInnen stirbt das Vieh weg. Ein Farmer, dessen Büffel in der Nähe von Patancheru grasen und den Isnapur-See als Tränke nutzen, klagte gegenüber dem ForscherInnen-Team von „Changing Markets and Ecostorm“, jedes Jahr die Hälfte seiner Herde zu verlieren (3). Und an einem See bei Kazipally stießen Beobachter auf Büffel, denen die Haut in Fetzen vom Leib hing. Zudem produzieren die Rinder viel weniger und obendrein schlechtere Milch als ihre Artgenossen fernab des Medikamenten-Mülls. Auch Kühe bekommen die Emissionen der Fabriken zu spüren. „Wenn unsere Kühe diese Chemikalien aufnehmen, die über das Wasser auf unsere Weiden gelangen, geben sie statt zehn Litern Milch nur noch zwei. Und das schon nach 15 bis 30 Tagen“, so der Umweltschützer Anil Dayakar.(4) Die Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen die Substanzen ebenfalls. So erleiden Ziegen, die in der Nähe der Fertigungsstätten weiden und die Produktionsrückstände über das Gras aufnehmen, häufig Fehlgeburten. Überdies nimmt die Ertragskraft der Böden ab, was die Existenzgrundlage der Bauern und Bäuerinnen bedroht. Der Reis der Region nimmt beispielsweise oft eine dunklere Farbe an und verdirbt schneller; darüber hinaus sind die einzelnen Körner nur sehr klein.

Viele Qualitätsmängel

Aber nicht nur das, was von den Fabriken nach außen dringt, stellt eine Bedrohung dar, auch das, was innen drin geschieht, gibt Anlass zur Besorgnis. Immer wieder nämlich fallen die indischen und chinesischen Fertigungsstätten durch fehlerhafte Produkte sowie die Verletzung von staatlichen Vorschriften auf. Während jedoch sowohl den Pharma-Riesen als auch den Gesundheitseinrichtungen ihrer Heimatländer völlig egal ist, was bei den ausländischen Zuliefer-Betrieben alles an Unschönen hinten rauskommt, interessiert sie schon mehr, was vorne passiert. Die Folgen irregulärer Produktionsabläufe bekommen nämlich hauptsächlich die PatientInnen in den westlichen Staaten zu spüren. Deshalb nehmen KontrolleurInnen dieser Nationen das Innenleben der Pillen-Schmieden regelmäßig unter die Lupe. Und dabei decken sie nur allzuoft Missstände auf. So hat die US-amerikanische Gesundheitsbehörde FDA allein im zweiten Halbjahr 2015 bei Inspektionen in den Werken von DR. REDDY’S, SUN PHARMA, ZYDUS CADILA, WOCKHARDT und IPCA LAB gravierende Mängel festgestellt. Der Ernst der Lage hat die „Food and Drug Administration“ 2008 sogar dazu bewogen, eine eigene Zweigstelle in New Delhi aufzumachen, um die Unternehmen, von denen die Pillen-Riesen der Vereinigten Staaten zahlreiche Wirkstoffe oder Arznei-Zwischenprodukte beziehen, besser im Blick zu haben. Das indische FDA-Pendant CDSCO wartete im März 2017 mit einem noch alarmierenderen Befund auf: 60 Medikamenten attestierte sie in diesem Monat einen „Substandard“.
Der Griff zu pharmakologischen Alternativen ist dabei oft nicht mehr möglich. Die neuen Entwicklungen haben nämlich nicht nur zu einer Verlagerung der Fertigung von pharmazeutischer Massenware nach Asien geführt, sondern gleichzeitig auch noch für eine neue Übersichtlichkeit unter den Herstellern gesorgt. Für das Segment der Antibiotika belegt dies eine Studie des Instituts IGES. (5) Es hat die Entwicklung in dem Zeitraum von 2005 bis 2015 untersucht und gravierende Veränderungen festgestellt. „Auf Einzelwirkstoff-Ebene hat die Anbieter-Konzentration deutlich zugenommen, die Anbieter-Zahlen sind rückläufig. Auch für die fünf verbrauchsstärksten Antibiotika zeigt sich eine hohe Anbieter-Konzentration“, schreiben die WissenschaftlerInnen. Besonders beängstigend: Im Jahr 2015 gab es schon 23 Antibiotika-Wirkstoffe, die nur noch ein einziger Konzern produziert oder produzieren lässt. Und wenn da mal die Räder stillstehen, weil Anlagen ausfallen oder die Behörden die Unternehmen zu einem Rückruf von „Substandard“-Präparaten veranlassen, droht den Gesundheitssystemen der halben Welt Ungemach. Diese Gefahr steigt gleichfalls bei den Medikamenten, die BAYER & Co noch selber fertigen, haben die Multis im Zuge von Effizienz-Maßnahmen doch oft die Fertigungsstätten drastisch reduziert.
So hat sich in den USA dann auch die Zahl der zeitweise nicht erhältlichen Medikamente bereits von 2006 bis 2010 auf über 200 verdreifacht. Mittlerweile ist die Situation noch bedrohlicher geworden. Nach Angaben des „Bundesverbandes deutscher Krankenhaus-Apotheker“ fehlten allein im Februar 2017 280 Wirkstoffe, darunter 30 für die Therapie schwerwiegender Krankheiten eigentlich unverzichtbare Mittel. Zwar haben die Engpässe manchmal durchaus andere Gründe – nicht wenige Hersteller oder Großhändler bedienen beispielsweise gerne nur die Länder, in denen hohe Pillen-Preise locken –, aber die Veränderungsprozesse innerhalb der Pharma-Industrie haben doch einen Hauptanteil an diesem Dilemma. „Es handelt sich um ein grundsätzliches Problem eines globalisierten Rohstoff-Marktes, in dem Hersteller ihre Produktionskosten zu optimieren versuchen“, konstatiert Matthias Mohrmann von der AOK Rheinland.(6)

BAYER immer mit dabei

Die Veränderungsprozesse bei den Rohstoffen und anderen Bestandteilen des Pharma-Geschäftes hat der Leverkusener Multi alle mitvollzogen – ohne Rücksicht auf Verluste. So reduzierte er wie die Konkurrenz sein Arznei-Angebot und seine eigenen Forschungsaktivitäten. Stattdessen setzte der Konzern verstärkt auf Kooperationen mit Universitäten und kaufte verheißungsvoll erscheinende Medikamenten-Entwicklungen von außen zu. Auch suchte das Unternehmen – nicht zuletzt als Reaktion auf stärkere Bestrebungen vieler Aufsichtsbehörden, die Pharma-Preise zu regulieren – nach Rationalisierungsmöglichkeiten im Bereich der Fertigung. Es konzentrierte die Herstellung einzelner Wirkstoffe stärker auf bestimmte Standorte und stieß die Produktion vieler Substanzen ab.
Umso wichtiger wurde das „Supply Chain Management“. Das Aufgabenfeld in diesem Bereich beschreibt BAYER seinen künftigen Angestellten so: „Sie steuern unter anderem Logistik-Prozesse an einem Standort, sind verantwortlich für eine komplette Lieferkette und koordinieren global die Bedarfs- und Produktionsplanung eines Wirkstoffs oder Produkts. Auf diese Weise arbeiten Sie an der kontinuierlichen Verbesserung von Kosten, Flexibilität und Liefer-Zuverlässigkeit“.(7)
In Indien und China haben die „Supply Chain“-ManagerInnen da viel zu tun. 3.785 bzw. 3.432 Lieferanten aus diesen Ländern zählt der neueste Geschäftsbericht auf. Einen Wert von 2,4 Milliarden Euro hatten die Einkäufe insgesamt. Und der Anteil der Pharma-Sektion daran dürfte kein ganz geringer sein. Ganz genau lässt sich das nicht bestimmen, denn die Konzerne halten sich da bedeckt. Sie sehen ein „Made in India“ oder „Made in China“ nämlich nicht so gern auf ihren Medikamenten-Packungen. Umgekehrt werben die Firmen aus diesen Staaten hingegen gern mit ihren „Big Pharma“-Kunden, weshalb doch so einige einige Informationen nach außen dringen. So wertet der jetzige RANBAXY-Besitzer SUN den Ciprofloxacin-Deal mit BAYER immer noch als „Meilenstein“ der Unternehmensgeschichte.
Die profane Produktion des Wirkstoffes lastet aber wie ein Mühlstein auf Mensch, Tier und Umwelt in Indien. Heute, lange Jahre nach dem Auslaufen des BAYER-Patents, stellt längst nicht mehr nur RANBAXY/SUN die Substanz her. Sie findet sich dank der hohen Nachfrage vieler westlicher Konzerne im Angebot zahlreicher Firmen aus Hyderabad – und dementsprechend häufig in den Flüssen und Seen. Schwedische WissenschaftlerInnen stießen in den Abwässern des Entsorgungsunternehmens in Patancheru, das die Pharma-Rückstände der Firmen eigentlich so gut es geht neutralisieren sollte, auf eine Ciprofloxacin-Konzentration von bis zu 31.000 Mikrogramm pro Liter. Diesen Wert erreichten die anderen Antibiotika nicht einmal annähernd. Losartan kam „nur“ auf 2.400 bis 2.500 Mikrogramm und Enrofloxacin, unter anderem Wirkstoff von BAYERs Veterinär-Antibiotikum BAYTRIL, „bloß“ auf 780 bis 900 Mikrogramm. 45 Kilogramm Ciprofloxacin emittiert die „Patancheru Commun Effluent Treatment Plant“ binnen 24 Stunden. Das würde reichen, um ganz Schweden mit seinen neun Millionen EinwohnerInnen über fünf Tag hinweg mit dem Pharmazeutikum zu versorgen, rechneten die ForscherInnen vor.(8) Sie kritisieren deshalb die unzureichenden Verfahren zur Behandlung des pharmazeutischen Sondermülls und warnen: „Die hohen Konzentrationen einiger Breitband-Antibiotika lassen Resistenz-Bildungen befürchten. Die Konzentration der am häufigsten nachgewiesenen Substanz, Ciprofloxacin (…), überschreitet die für einige Bakterien letale Dosis um das 1000-Fache.“
Aber die „Supply Chain“-ManagerInnen des Leverkusener Multis können bei ihrer „Bedarfs- und Produktionsplanung“ nicht nur in Sachen „Ciprofloxacin“ und Enrofloxacin auf Lieferanten aus Hyderabad und anderen Regionen Indiens zurückgreifen. Andere Wirkstoffe von BAYER-Medikamenten wie zum Beispiel Aspirin, Moxifloxacin, Nifedipin, Vardenafil und Naproxen bieten die dortigen Unternehmen ebenfalls an.
Darüber hinaus ist der bundesdeutsche Pharma-Riese in dem südasiatischen Staat auch selbst vor Ort. Im Jahr 2011 gründete er mit dem indischen Unternehmen ZYDUS CADILA ein Joint Venture, um „die Präsenz in Schwellenländern weiter auszubauen“. Nicht zuletzt hatte ZYDUS’ „herausragendes Netzwerk von Distributoren und anderen Branchen-Partnern“ es dem Konzern angetan.(9) Und auf das dürfte BAYER ZYDUS PHARMA bei der Organisation der Lieferkette für die Fertigung seiner Medikamente, deren Spektrum von ALASPAN, ANGIOGRAFIN und BAYCIP über GLUCOBAY und NEXAVAR bis hin zu XARELTO, YASMIN und YAZ reicht, bevorzugt zurückgreifen. Dementsprechend sieht es mit der Qualität aus. Sowohl die FDA als auch die in New Delhi ansässige Medikamenten-Aufsicht CDSCO beanstandeten schon Produktionsprozesse bei ZYDUS CADILA.
In China unterhält der Leverkusener Multi ebenfalls Pharma-Fabriken. Seit der Übernahme von DIHON tummelt er sich sogar auf dem Markt der traditionellen chinesischen Medizin. Und die einzelnen Glieder seiner Lieferkette fädelt er wohl auch kaum woanders auf, denn: „Um adäquat auf die Anforderungen unserer Standorte reagieren zu können und die regionale Wirtschaft zu stärken, kauft BAYER nach Möglichkeit lokal ein.“(10)
Unter anderem tut der Konzern das bei SINOPHARM, dem größten Arzneistoff-Produzenten im Reich der Mitte. Das staatlich kontrollierte Unternehmen hält sich viel darauf zugute, BAYER nach der Firmen-Gründung 2006 als einen seiner ersten Kunden gewonnen zu haben und rühmt sich einer „umfangreichen und tiefen Kooperation mit dem Unternehmen“. Im Jahr 2013 statteten „Supply Chain“-ManagerInnen des Leverkusener Multis dem Geschäftspartner sogar einen Hausbesuch ab. Laut SINOPHARM stand dabei unter anderem ein Gespräch über „die Funktion der Lieferketten in der Entwicklung der Pillen-Industrie und darüber, wie jene zu optimieren sind“ auf dem Programm.(11)
Über Optimierungsbedarf ganz anderer Art redeten die Firmen-VertreterInnen bei ihrem Treffen sicherlich nicht. Der chinesische Multi hat nämlich mit seinen zwei Produktionsanlagen in Datong nicht unwesentlich dazu beigetragen, die Stadt in Sachen „Umweltverschmutzung“ führend im ganzen Land zu machen. So leitete er 30.000 Tonnen mit Pharma-Rückständen belasteten Schwarzschlamm und antibiotika-haltige Abwässer in Flüsse der Umgebung ein. Unter anderem deshalb forderten die lokalen Behörden 2010 von SINOPHARM, den Standort aufzugeben und sich woanders anzusiedeln – geschehen ist bisher jedoch nichts.
Und schließlich haben die ganzen Umstrukturierungen in der Branche mit den neu aufgefädelten Gliedern der Lieferketten und den Konzentrationsprozessen in der Produktion auch bei BAYER-Medikamenten immer häufiger zu Versorgungsengpässen geführt. Lieferschwierigkeiten gab es in letzter Zeit bei ADALAT, ADVATAN, ALKA-SELTZER, ASPIRIN i. V. 500 mg, BEPANTHEN, LAIF, RESOCHIN und XOFIGO. Auf der Suche nach den Gründen dafür weist die Spur allerdings nur bei ADALAT und RESOCHIN nach Indien. Den ADALAT-Wirkstoff Nifedipin bezog der Pillen-Riese nämlich von dem isländischen Unternehmen ALVOGEN, das über beste Geschäftsbeziehungen zu Zulieferern aus diesem Land verfügt. Darum spricht einiges dafür, dass es in einer der dortigen Pharma-Küchen zu einer Verwechslung der Zutaten für die Zubereitung von Medikamenten des Leverkusener Multis kam und versehentlich etwas Sorafenib (der Wirkstoff von BAYERs NEXAVAR) in den Nifedipin-Topf geriet, was schließlich einen Rückruf unausweichlich machte.
Bei RESOCHIN könnte es ebenfalls ein indisches Glied in der Lieferkette gegeben haben, das sich verhakt hat. Die Malaria-Arznei mit dem Wirkstoff Chloroquin-Phospat findet sich nämlich in der Produkt-Palette von BAYER ZYDUS PHARMA. Zudem beklagte mit RISING PHARMACEUTICAL auch ein Konzern in den fernen USA Probleme bei der Bereitstellung von Chloroquin-Phosphat, was auf spärliche Quellen für den Stoff und damit auf Hyderabad oder andere „bulk drugs capitals“ in Asien verweist.
Die Menschen in diesen „bulk drugs capitals“ leiden immens unter den Folgen der Globalisierung des Arznei-Marktes und kritisieren das Treiben von BAYER & Co. deshalb massiv. „Ausländische Unternehmen beuten clever indische Ressourcen aus und verschmutzen Wasser und Böden, während sie ihre eigenen Länder sauber und sicher halten“, konstatiert etwa der Richter M. C. Mehta.(12) Der Sozialwissenschaftler Vijay Gudavarthy pflichtet ihm bei. Nach Meinung des Forschers hat die Integration des Staates in die Lieferketten von Big Pharma „signifikante Kosten für die Bevölkerung verursacht, sowohl in Hinsicht auf ihren Besitz und ihre Gesundheit als auch in Hinsicht auf die natürlichen Ressourcen und die Umwelt“.(13) Und es bleibt nicht bei Worten: Die InderInnen gehen mehr und mehr auf die Straße. In Hyderabad etwa zogen sie vor das Gebäude der lokalen Umweltbehörde und hielten dabei Flaschen mit dem kontaminierten braunen Wasser hoch, das bei ihnen zuhause aus den Leitungen kommt. „Die Menschen hier demonstrieren gegen die lokale Pharma-Industrie. Sie verschmutzt das Wasser und die Luft. Wir Anwohner fordern, dass die Regierung etwas gegen die Chemie-Industrie unternimmt“, sagte ein Protestler dem Reporter von Deutschlandfunk Kultur.(14) Zudem haben AktivistInnen bereits zahllose Prozesse angestrengt, aber das Gesetz stand bislang immer auf Seiten der Konzerne.
Die Risiken und Nebenwirkungen des neuen Akkumulationsregimes der Pharma-Industrie bleiben dabei nicht auf Indien und China beschränkt. Zumindest die Gefahren der ohne Rücksicht auf Verluste vorangetriebenen Produktion von Antibiotika-Wirkstoffen für den Weltmarkt machen auch vor den westlichen Industrie-Ländern nicht Halt. Unter anderem durch TouristInnen finden die Keime ihren Weg in die Erste Welt. Von einer „Globalisierung der Erreger“ spricht der Leipziger Infektionsforscher Christoph Lübbert in diesem Zusammenhang.(15)
Tim Eckmanns vom Berliner Robert-Koch-Institut macht den Konzernen deshalb schwere Vorwürfe. Sie torpedierten die Bemühungen der MedizinerInnen, den zunehmenden Resistenz-Bildungen gegen Antibiotika Herr zu werden, weil sie „möglichst billig produzieren“ wollten, so Eckmanns: „Es ist schockierend, dass die Pharma-Industrie diese lebensrettenden Anstrengungen unterläuft.“(16)

Lippenbekenntnisse

Natasha Hurley von „Changing Markets“ fordert Maßnahmen von BAYER & Co. Die Pharma-Riesen „sollten Firmen, die die Umwelt verschmutzen, auf die schwarze Liste setzen“, meint die Aktivistin.(17) Eigentlich sind die Konzerne sogar dazu gezwungen, entsprechende Aktivitäten zu entfalten, denn die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen verpflichten sie eindeutig dazu. Dem Kodex der „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“, der 35 große Industrie-Staaten angehören, unterliegen nämlich nicht nur für die eigenen Produktionsstätten der Firmen, sondern auch ihre Zulieferer. So heißt es im 17. Leitsatz: „Die Aktivitäten der Unternehmen, bei denen es zu verhindern gilt, dass sie in Angelegenheiten, die unter die Leitsätze fallen, negative Auswirkungen verursachen oder verstärken, umfassen auch ihre Aktivitäten im Rahmen der Zuliefer-Kette.“(18) Und explizit müssen die Gesellschaften den OECD-Richtlinien zufolge „auf der Ebene des jeweiligen Unternehmens und gegebenenfalls seiner Zuliefer-Kette ständig um eine Verbesserung ihrer Umwelt-Ergebnisse bemüht sein“.
Pro forma bekennt sich der Leverkusener Multi auch dazu. „Für BAYER ist die Einhaltung von Nachhaltigkeitsstandards in der Lieferkette ein elementarer Wertschöpfungsfaktor und wichtiger Hebel zur Risiko-Minimierung“, heißt es im Geschäftsbericht für das Jahr 2016. Allerdings sprechen die vom Konzern in anderen Zusammenhängen immer wieder gern beschworenen Fakten eine andere Sprache.
Da gibt sich der vom Pillen-Riesen selbst gegründete „Verband der forschenden Arzneimittel-Hersteller“ (VFA) schon ein wenig selbstkritischer. „Defizite seien möglich“, räumt Rolf Hömke aus der VFA-Pressestelle im Hinblick auf die Situation in Indien und China ein.(19) Er gelobt aber Besserung und verweist dabei auf eine Reihe von Initiativen, welche die Industrie gestartet hat. Auf ihrer Homepage nennt die Lobby-Organisation dabei namentlich die „Industry Roadmap for Progress on Combating Antimicrobial Resistance“. Darin geloben die Unternehmen dem VFA zufolge, ihre Lieferketten zu kontrollieren und gegebenenfalls „das Abfall- und Abwasser-Management zu verbessern“.(20) NOVARTIS, SANOFI, PFIZER, ASTRAZENECA und neun andere Firmen haben die entsprechende Erklärung im September 2016 unterschrieben – der Name BAYERs fehlt allerdings auf der Liste. Lediglich der „Pharmaceutical Supply Chain Initiative“ gehört der Leverkusener Multi an.
Allerdings wäre es mehr als naiv, in dieser Sache auf die Problemlösungskompetenz der Pharma-Riesen zu vertrauen. Ihre Selbstverpflichtungserklärungen dienen in der Regel nur dazu, verbindlichen Auflagen vorzubeugen. Aber genau dazu muss es kommen. Es gilt, BAYER & Co. zu einer rückhaltlosen Aufklärung über ihre Lieferketten zu zwingen. Zudem sollten die Unternehmen nach Ansicht der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG) die Pflicht haben, die Herkunft der Wirkstoffe auf den Medikamenten-Packungen zu vermerken, ganz so wie es H&M und die anderen Bekleidungsfirmen auf den Etiketten ihrer Ware auch tun. Darüber hinaus hält es die CBG für unabdingbar, die international geltenden Qualitätsnormen, die Hersteller bei der Fertigung von Medikamenten zu beachten haben, zu erweitern und um Regeln für eine umweltgerechte Produktionspraxis zu erweitern. Schließlich ist eine bessere Kontrolle der Vorschriften nötig. Und nicht zuletzt darf ein Verstoß gegen die Richtlinien nicht ohne ernsthafte Konsequenzen bleiben. Das „Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizin-Produkte“ muss den Konzernen die Lizenz für die Vermarktung bestimmter Arzneien entziehen, wenn die Fabrikation von deren Wirkstoffen Mensch, Tier und Umwelt gefährdet. Für solche Maßnahmen treten nicht zuletzt die BewohnerInnen von Hyderabad an. So appellierte etwa der Arzt Kishan Rao an den Westen: „Lassen Sie uns nicht im Stich. Stoppen Sie den Bezug von Medikamenten aus dieser Gegend. Sie kaufen hier, um Ihr Leben zu retten, auf Kosten anderer. Ist es denn ein Verbrechen, Bewohner dieser Gegend zu sein?“(21)
Seine Worte verdienen umso mehr Beachtung, als sich die Zustände noch zu verschlimmern drohen. Der indische Staat will nämlich unabhängiger von den Importen pharmazeutischer Vorprodukte aus China werden und mehr Glieder der globalen Wertschöpfungskette im Land selber ansiedeln. Deshalb schiebt er neue Projekte für Industrie-„Parks“ an. So pant der Bundesstaat Telangana auf einem Areal von fast 4.500 Hektar eine „Hyderabad Pharma City“ im Stadtteil Rangareddy und scheut dabei nicht einmal davor zurück, 2.400 Hektar Wald plattzumachen. Und im August 2017 kündigte der Ministerpräsident von Andhra Pradesh, N Chandrababu Naidu, neue Pillen-Cluster in den Distrikten Visakhapatnam, Kadapa, Nellore und East Godavari an. Verschärfte Auflagen haben die Betriebe dort nicht zu befürchten. Die Regierung von Premier Narendra Modi beabsichtigt im Gegenteil, Vorschriften für Unternehmen aller Industrie-Bereiche zu lockern, um dem Staat ungeachtet der vielen Risiken und Nebenwirkungen eine bessere Position im globalen Wettbewerb zu verschaffen.

(1) www.kooperation-international.de
(2) Joakim Larsson et. al.: Effluent from drugs manufactures contains extremely high levels of pharmaceuticals; Journal of Hazardous Materials (148)
(3) Changing Markets and Ecostorm: Impacts of pharmaceutical pollution on communities and environments in india
(4) Peter Podjavorsek: Schmutzige Medikamente; www.deutschlandfunkkultur.de
(5) Martin Albrecht et. al.: Versorgungsrelevanz generischer Antibiotika – Marktentwicklung, Regulierung und Versorgungssicherheit
(6) Mehrere Antibiotika werden knapp; Rheinische Post 14.02.17
(7) Globales Trainee-Programm für Supply Chain Management; https:career.bayer.com/de.
(8) Joakim Larsson et. al.: Effluent from drugs manufactures contains extremely high levels of pharmaceuticals; Journal of Hazardous Materials (148)
(9) BAYER stärkt Pharma-Geschäft in Indien durch Joint Venture mit ZYDUS CADILA; https:
www.pressebox.de
(10) BAYER-Geschäftsbericht 2016
(11) BAYER HEALTHCARE COMPANY visited SINOPHARM Beijing Logistic Centre; www.sinopharmholding.com
(12) Changing Markets and Ecostorm: Impacts of pharmaceutical pollution on communities and environments in india
(13) Changing Markets and Ecostorm: Impacts of pharmaceutical pollution on communities and environments in india
(14) Peter Podjavorsek: Schmutzige Medikamente; www.deutschlandfunkkultur.de
(15) Tödliche Erreger im Pharma-Abwasser; taz 05.05.17
(16) Superkeime im Pharma-Abwasser; Süddeutsche Zeitung 19.10.16
(17) Superkeime im Pharma-Abwasser; Süddeutsche Zeitung 19.10.16
(18) OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen; Ausgabe 2011
(19) Resistente Keime in Pharma-Abwässern entdeckt; Spiegel online 04.05.17
(20) Wege zu verbindlichen Umweltstandards in der Antibiotika-Produktion in Asien; www.vfa.de
(21) Peter Podjavorsek: Schmutzige Medikamente; www.deutschlandfunkkultur.de