Berliner Zeitung, 03. März 2007
Tag der Abrechnung bei Schering
Das Management legt Details des Stellenabbaus offen. Der Betriebsrat stellt ein Ultimatum
BERLIN. Ingeborg Reinert ist sichtlich erschüttert. Soeben hat die 51-Jährige auf der Betriebsversammlung von Schering erfahren, dass sie wohl keine Chance mehr hat, ihren Job zu behalten. Seit sechs Jahren arbeitet sie in der optischen Kontrolle bei Schering in Berlin. Ihr Problem: Die Stelle war immer nur befristet. Und solche Arbeitsplätze, das hat die Führungsspitze von Bayer Schering Pharma gestern deutlich gemacht, werden dem geplanten Stellenabbau zum Opfer fallen.
Dass sie anderswo eine neue Arbeit findet, hält Reinert für ausgeschlossen: „Wer will mich denn in meinem Alter noch haben?“, klagt sie. Gemeinsam mit über 2 000 Kollegen hat sie sich nach Versammlungsende vor dem Admiralspalast in der Berliner Friedrichstraße eingefunden, um in einem Demonstrationszug zur Schering-Zentrale zu marschieren, die sich ein paar Kilometer nördlich in der Müllerstraße im Wedding befindet.
Auf Fälle wie den von Ingeborg Reinert geht Bayer-Schering-Chef Arthur Higgins natürlich nicht ein, als er etwa eine Stunde zuvor vor die Presse tritt, um Einzelheiten über den geplanten Stellenabbau bekannt zu geben. Bereits am Mittwoch hatte der Chef des Mutterkonzerns Bayer, Werner Wenning, angekündigt, dass gut ein Zehntel der Arbeitsplätze der Pharma-Tochter weltweit, nämlich 6 100 gestrichen werden. 950 davon entfallen auf Berlin. Damit muss jeder sechste Schering-Mitarbeiter in der Hauptstadt gehen.
Fokus auf Wachstum und Größe
Der Jobabbau werde „so sozialverträglich wie möglich“ gestaltet, versichert Higgins gestern gleich mehrmals. „Das schulden wir schon der großen Tradition von Bayer und von Schering.“ Überhaupt gibt sich Higgins an diesem Tag viel Mühe, die Übernahme von Schering durch Bayer als große Erfolgsgeschichte darzustellen – von der am Ende alle profitieren, auch die Mitarbeiter: „Es wäre verantwortungslos von uns, die Synergien nicht zu heben“, sagt er. Doch unser Hauptfokus steht auf Wachstum und Größe.„ Bayer Schering wolle zu den “weltweit führenden Pharmaunternehmen„ aufschließen. Und wenn dies gelinge, dann werde das Unternehmen auch wieder Stellen schaffen, und zwar auch in Berlin.
Higgins Vorstandskollege Ulrich Köstlin obliegt es dann, genauer auszuführen, wie sich der Stellenabbau verteilt: Nicht einmal die Hälfte der 6 100 Jobs, die weltweit gestrichen werden, nämlich 2 850, entfallen auf den Verwaltungsapparat. Betroffen sind auch 1 850 Mitarbeiter in der Produktion und sogar 1 400 in der Forschung und Entwicklung.
Gut die Hälfte der Stellen im Unternehmen (3 150) werden in Europa abgebaut, davon allein 1 500 in Deutschland – mehr als jeder Zehnte hier Beschäftigte. Auf die USA entfallen etwa 1 000 Stellen, auf Asien rund 750 und auf Lateinamerika und Kanada die restlichen 1 200. Wobei Higgins andeutet, dass Deutschland und vor allem Berlin wesentlich schlechter weggekommen wären, hätte man sich nicht für die deutsche Hauptstadt, sondern für einen US-Standort als Unternehmenssitz entschieden. “Berlin war der Gewinner, die USA waren Verlierer der Entscheidung„, sagt Higgins.
Sozialer Friede gefährdet
Über solche Parolen kann der Betriebsratsvorsitzende Norbert Deutschmann nur den Kopf schütteln: “Die heute vom Vorstand vorgestellten Pläne für den Standort Berlin haben unsere schlimmsten Befürchtungen bestätigt„, sagt er. Faktisch müsse Berlin den Verlust von 1 200 Arbeitsplätzen verkraften, weil zu den 950 Jobs, die abgebaut würden, noch 250 Stellen hinzugerechnet werden müssten, die im Vertrieb bereits weggefallen seien. “Das überschreitet die Schmerzgrenze deutlich„, stellt Deutschmann klar.
Enttäuscht zeigt sich der Betriebsratschef auch darüber, dass betriebsbedingte Kündigungen lediglich bis Mitte 2008 ausgeschlossen werden. Dieser Zeitraum, moniert Deutschmann, reiche für die voraussichtliche Dauer des Integrationsprozesses bei weitem nicht aus. “Für die Beschäftigten ist das ein bitterer Tag.„
Dann stellt Deutschmann ein Ultimatum an die Unternehmensführung: Bis zum 13. März müsse eine Vereinbarung zustande kommen, in der verbindliche Aussagen zum Ausschluss von Kündigungen und zur Beschäftigungssicherung getroffen werden. Ansonsten, warnt Deutschmann, behalte sich der Betriebsrat vor, Rechtsmittel gegen die weitere Integration von Schering in den Bayer-Konzern einzulegen. Auch sei dann der soziale Friede gefährdet. Das Wort Streik will er nicht in den Mund nehmen. Noch nicht. Sebastian Wolff
Berliner Kurier, 03.03.2007
Schering wird geschlachtet
Fusion kostet 1200 Berliner Jobs. Der Betriebsrat tobt. Und der Aktienkurs steigt und steigt …
Berlin – Jetzt ist es amtlich: Der Zusammenschluss von Bayer und Schering kostet 1500 Jobs in Deutschland, 1200 davon in Berlin! Erstmals legt sich der Betriebsrat offen mit der Konzernspitze an. Im Wedding brennt die Hütte.
Rund 2000 Schering-Mitarbeiter kamen gestern zunächst im Admiralspalast an der Friedrichstraße zusammen, um erstmals offiziell etwas über die Pläne des neuen Konzerns Bayer Schering Pharma zu erfahren. “Alles, was wir wissen, haben wir bisher in der Presse lesen müssen,„ sagt Detlef Schmidt (51) aus der Datenverarbeitung.
Die nackten Zahlen: In Berlin sollen 950 Stellen bei der Datenverarbeitung, Personalleitung und Entwicklung gestrichen werden. Dazu kommen 250 Stellen, die bereits im Vertrieb weggekürzt worden sind. Macht 1200 Stellen in Berlin. Für 350 Mitarbeiter sind schon “Lösungen„ gefunden worden: Altersteilzeit, Abfindungen. Bis Mitte 2008 verspricht das Unternehmen: keine Entlassungen.
Scherings Betriebsratschef Norbert Deutschmann nannte die Zahlen “inakzeptabel„ und gab dem Vorstand eine Frist bis zum 13. März, um eine verbindliche und sozialverträgliche Vereinbarung vorzulegen.
Der Vorstand versuchte, es wie für Kinder zu erklären: “Was passiert, wenn zwei Unternehmen zusammengehen? Das ist ähnlich wie zwei Familien ihren Haushalt zusammenlegen„, sagte der Konzernvertreter. Pfiffe und Buhrufe. “Es geht doch hier nicht um Waschmaschinen oder Küchentische, die doppelt sind„, schimpfte Mitarbeiter Schmidt.
Der Bayer-Konzern hofft, durch die Fusion ab 2009 rund 700 Millionen Euro jährlich einzusparen. Diese Zeche zahlen die Mitarbeiter.
Jobs weg, Kurs rauf: “Das System ist krank„
Seitdem die ersten Gerüchte über die Fusion aufkamen, ging es mit der Schering-Aktie nur noch bergauf. Ein paar Anleger und Manager reiben sich heute die Hände. Mitarbeiter wie Politiker können nur noch zuschauen.
Heute vor genau einem Jahr kostete die Schering-Aktie 60,86 Euro. Gestern kratzte der Kurs bereits an der Marke von 103 Euro. Die Börsenmakler bewerten das Unternehmen deutlicher besser als im letzten Jahr, weil sie wissen, dass bald kräftig Lohnkosten gedrückt werden.
Anleger achten nur auf Dividenden, Ausschüttungen, aber nicht auf das Schicksal der Mitarbeiter und ihrer Familien. “Das ist krank, dieses System. Da muss sich jeder mal fragen, was er als Aktionär tut, um die Arbeitsplätze in dieser Stadt zu erhalten„, sagt Michael Müller, Chef der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus dem KURIER.
Sein Rat, übrigens nicht nur im Fall von Bayer und Schering: Mindestens eine Aktie kaufen. Damit erwirbt man auf der Hauptversammlung der Unternehmen Stimm- und Rederecht. “Da muss man Druck machen“, so Müller. EVINP. HOFFMANN