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[WDR] Duogynon

mehrere Medien berichten heute über die Kampagne der Coordination zu Duogynon (weitere Infos)

WDR.de, 30. Nov. 2010

Mögliches Opfer klagt gegen Bayer-Schering

Missgebildet durch Hormonpräparat?

Von Dominik Reinle

Am Landgericht Berlin beginnt am Dienstag (30.11.10) ein Musterprozess um Duogynon. Das Medikament wurde in den 1970er Jahren als Schwangerschaftstest verwendet und soll Missbildungen verursacht haben. Ein mögliches Opfer verlangt von Bayer Einsicht in die Unterlagen.
„Es geht mir um Klarheit“, sagt Kläger André Sommer. Der 34 Jahre alte Grundschullehrer aus Pfronten im Allgäu wurde mit schweren Missbildungen an Blase und Geschlechtsorgangen geboren. „Ich möchte herausfinden, ob das Medikament daran schuld ist oder nicht.“ Seine Mutter hatte 1975 zwei Duogynon1-Pillen des Arzneimittelherstellers Schering eingenommen, um festzustellen, ob sie schwanger war. Die mittlerweile üblichen Urintests gab es damals noch nicht.

Bayer-Schering: „Vorwürfe sind unbegründet“
Schon bald vermutete die Frau, dass die Missbildungen ihres Sohnes auf Duogynon zurückzuführen sind. In den 1960er und 1970er Jahren hatten viele Mütter, deren Kinder mit schweren Fehlbildungen (Wasserkopf, offener Bauch, offener Rücken oder Missbildungen innerer Organe und Extremitäten) in der Frühschwangerschaft das Medikament genommen.
Doch Bayer-Schering – so heißt das Unternehmen seit seiner Übernahme durch den Bayer-Konzern 2006 – bestreitet einen solchen Zusammenhang: „Die Vorwürfe sind in den 1970er und 1980er Jahren sowohl medizinisch als auch juristisch umfassend aufgearbeitet worden“, sagt Bayer-Sprecher Oliver Renner. „Eine Verbindung zwischen der Einnahme des Produktes und Missbildungen konnte in keinem Fall festgestellt werden.“ Ein erstes Verfahren gegen Schering war 1980 eingestellt worden.

War Schering über „Schwierigkeiten“ informiert?
Der Anlass für Sommer, aktiv sein Schicksal zu ergründen, war der Auftritt des Briten Karl Murphy bei der Bayer-Hauptversammlung 2009. Das mutmaßliche Duogynon-Opfer hatte damals auf Einladung des konzernkritischen Düsseldorfer Vereins „Coordination gegen Bayer-Gefahren“ seine verstümmelten Hände in die Kameras gehalten. Bei seinen Recherchen stieß Sommer auf einen Brief von 1967, in dem Mitarbeiter der britischen Schering-Niederlassung die Berliner Zentrale auf „Schwierigkeiten“ bei Duogynon hinwiesen: „Als Hersteller ist es unsere moralische Pflicht, alles Menschenmögliche zu unternehmen, die Sicherheit unserer Produkte zu gewährleisten.“ 1971 warnte der kritische Arzneimittel-Informationsdienst „Arznei-Telegramm“ das erste Mal in der Bundesrepublik vor hormonellen Präparaten wie Duogynon.
Im April 2010 stellte Sommer eine Internetseite mit Informationen ins Netz und suchte weitere Betroffene. Bislang haben sich rund 200 potenzielle Opfer gemeldet. Mittlerweile sind weitere Schreiben aus den 1960er Jahren aufgetaucht, in denen Experten mit dem Pharmakonzern über die Nebenwirkung von Duogynon diskutierten. Sie stammen aus England und sind auf Sommers Homepage zu lesen.

Auskunftsklage als Basis für Schadenersatzansprüche
„Warum wurde nicht früher reagiert?“, fragte sich Sommer und bat den Bayer-Konzern um Aufklärung – vergeblich. Der Lehrer, der bislang insgesamt mehr als ein Dutzend Mal operiert werden musste, verlangt nun gerichtlich Einsicht in sämtliche Unterlagen zu dem Präparat. Sie sollen möglicherweise später die Grundlage für eine Klage auf Schadensersatz bilden.
Eine Auskunft über die Nebenwirkungen von Duogynon hatte Bayer-Schering nach Angaben von Sommers Berliner Anwalt Jörg Heynemann bislang auch mit dem Argument der Verjährung abgelehnt. Dieser Argumentation widerspricht Heynemann: „Behinderungen verjähren nicht. Mein Mandant ist vor fünf Jahren noch operiert worden.“ Der Anwalt stützt sich dabei auf Paragraf 84a, der 2002 neu ins Arzneimittelgesetz aufgenommen wurde und den sogenannten Auskunftsanspruch regelt – als eine Reaktion auf die sich hinschleppenden Verfahren um das umstrittene Schlafmittel Contergan. Bayer-Schering hingegen ist der Meinung, dass der fragliche Paragraph nicht greift: „Die entsprechenden Anspruchsvoraussetzungen liegen in diesem Fall nicht vor.“

Anwalt: „Duogynon ist mit Contergan vergleichbar“
Anwalt Heynemann nennt allein für Deutschland die Zahl von insgesamt rund 1.000 Geschädigten: „Viele Frauen hatten auch Fehlgeburten, oder das behinderte Kind starb kurz nach der Geburt.“ Aus Sicht von Heynemann ist Duogynon mit Contergan durchaus vergleichbar: „Der Zusammenhang zwischen Duogynon und Embryoschädigungen ist statistisch mindestens so aussagekräftig wie bei den Contergan-Fällen.“
Ähnlich sieht das der Arzt und Apotheker Wolfgang Becker-Brüser: „Wenn das Unternehmen heute einen Zusammenhang zwischen Duogynon und Fehlbildungen bei Kindern bestreitet, erachte ich das als Schutzbehauptung“, sagt der Herausgeber des Arzneimittel-Informationsdienstes „Arznei-Telegramm“. „Angesichts der Schwere des Verdachts sollte Bayer-Schering kooperieren und nicht blockieren.“

30. November 2010, Neues Deutschland

Bayer Schering soll die Akten öffnen

Dem Pharmakonzern droht Schadensersatzklage wegen eines Medikamentenskandals

Der Vorwurf schwerer Missbildungen durch das Medikament Duogynon kommt 30 Jahre nach einem eingestellten Verfahren erneut vor Gericht.

André Sommer kam mit einer Missbildung der Blase zur Welt. Insgesamt 15 Eingriffe zur Erneuerung oder Stabilisierung des künstlichen Harnausgangs waren bis vor fünf Jahren nötig. Seine Mutter hatte im Herbst 1975 auf Empfehlung ihres Arztes das Präparat Duogynon des Berliner Pharmaunternehmens Schering genommen, wie tausende andere Frauen in der Bundesrepublik.
Duogynon enthält eine Kombination der weiblichen Sexualhormone Progesteron und Östradiol in mehrfacher Dosierung der Antibaby-Pille. Eingesetzt wurde das Medikament gegen das Ausbleiben der Menstruationsblutung und als Schwangerschaftstest. Schon 1967 zeigte eine Studie in Großbritannien einen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Primodos (britischer Name) mit der Geburt behinderter Kinder auf. Diese litten an offenem Rücken, Herzfehlern, Wasserkopf und Blasenfehlbildungen. Auch in Deutschland gab es Berichte von Kindern mit Gaumenspalte, Lähmungen, fehlenden Gliedmaßen oder Nierenschäden. Von über 1000 Betroffenen war die Rede.
Schering erließ zunächst einen Werbestopp für Großbritannien, erklärte dann aber in einer Ärzte-Broschüre, eine Schwangerschaft werde nicht beeinträchtigt. Obwohl andere Studien scheinbar keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Einnahme des Präparates und Missbildungen finden konnten, war Schering später eher defensiv. So wurde schon Anfang der 70er Jahre Primodos als Schwangerschaftstest nicht mehr empfohlen. Von bundesdeutschen Ärzten wurde es jedoch dafür weiter verschrieben. 1975 erhielt das Mittel in Großbritannien einen Warnhinweis zur Einnahme in der Schwangerschaft und verschwand 1978 schließlich vom Markt. Im gleichen Jahr warnte die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft vor Schwangerschaftstests mit Hormonen. Schering nannte Duogynon in Cumorit um und warnte nun per Aufdruck vor Einnahme in der Schwangerschaft. 1981 wurde es vom Markt genommen.
Der im Allgäu lebende André Sommer konnte inzwischen mit über 180 Geschädigten oder deren Familien Kontakt aufnehmen. Nach neuer Gesetzeslage reicht der Nachweis aus, dass ein Medikament einen bestimmten Schaden verursachen kann. Seit 2002 können Geschädigte auf Einsicht in die Forschungsakten beim Hersteller klagen. Reagiert wurde damit auf jahrelange Klagen der Contergan-Opfer auf Entschädigung. Hersteller Grünenthal gewährte schließlich freiwillig Schadenersatz. Jedoch traten 2008 einige Opfer in Hungerstreik, um eine angemessene Erhöhung der ihnen zugesprochenen Renten zu erkämpfen.
André Sommer wird vom Berliner Anwalt Jörg Heynemann vertreten, dem es um die Freigabe von Material für eine Schadenersatzklage geht. Bayer argumentiert, das strafrechtliche Ermittlungsverfahren sei 1982 eingestellt worden. »Das Thema wurde in den 60er und 70er Jahren juristisch und wissenschaftlich ausgiebig und abschließend erörtert. Seitdem gibt es keine neuen Erkenntnisse«, sagte ein Bayer-Sprecher.
Die vielleicht entscheidenden Dokumente wurden Sommer vor zwei Wochen zugespielt. Es handelt sich um Kopien alter Briefe von 1967 bis 1969, in denen sich britische Schering-Wissenschaftler mit ihren deutschen Kollegen über schwere Missbildungen bei Kindern und eventuelle Risiken von Medikamenten austauschten. Von Ulrike Henning

Duogynon
Das Pharmaunternehmen Schering brachte im Jahr 1950 Duogynon auf den Markt. Als Dragee oder Injektion wurde es als Schwangerschaftstest und zur Behandlung ausbleibender Monatsblutungen eingesetzt. Binnen einer Woche nach Einnahme des Präparates, einer Kombination der weiblichen Sexualhormone Progesteron und Östradiol, wurde eine Blutung ausgelöst. Blieb diese aus, galt die Schwangerschaft als wahrscheinlich.

Ein erster Prozess im Zusammenhang mit Missbildungen von Kindern wurde 1980 eingestellt. Urteilsbegründung: Die Schädigung eines Fötus stelle keinen Straftatbestand dar, da »ein Angriff gegen die Gesundheit eines Menschen im Rechtssinn« nicht vorliege. Nach Angaben der Coordination gegen Bayer-Gefahren, auf deren Einladung im April britische Betroffene auf der Hauptversammlung sprachen, machte Schering betroffenen Eltern in den 70er Jahren ein Vergleichsangebot – wenn sie ihre öffentliche Kritik unterlassen. ND

Dunkelziffer dürfte viel höher sein

Wolf-Dietrich Molzow unterstützt die Klage gegen Bayer-Schering

ND: Was fordern Sie von Bayer-Schering?
Molzow: Die Firma soll die Verantwortung übernehmen und für die Schäden aufkommen, die durch die Anwendung von Duogynon entstanden sind. Als erstes muss die Firma die Akten öffentlich machen, die vorhanden sein müssen.

Gibt es Schätzungen über die Zahl der Betroffenen?
Es haben sich in der letzten Zeit bei André Sommer etwa 200 Menschen gemeldet. Die Dunkelziffer dürfte aber viel höher sein. Viele Betroffene scheuen die Öffentlichkeit. Zudem dürfte in vielen Fällen der Zusammenhang zwischen körperlichen Schädigungen und der Einnahme von Duogynon noch gar nicht bekannt sein.

Wann haben Sie selber Ihre Missbildungen – ca. 30 cm lange knielose Beine mit nur einem gebogenen Knochen, mangelhaft ausgebildete Hüftgelenke und verkürzte Oberarme – mit dem Medikament in Verbindung gebracht?
Nachdem der Gynäkologe meiner Mutter seine Praxis aus Altersgründen geschlossen hatte, sprach dessen Sprechstundenhilfe meine Mutter auf der Straße an und sagte, das seien die Folgen der Duogynon-Injektion. Meine Mutter hat allerdings nichts unternommen.

Sind Sie in der Angelegenheit aktiv geworden?
Ein Rechtsanwalt, der auf Fälle von Schädigungen durch Medikamente spezialisiert ist, gab mir die Auskunft, ich müsse mir einen Gutachter suchen, der den Zusammenhang zwischen meiner Schädigung und der Einnahme von Duogynon durch meine Mutter bestätigt. Dies dürfte aber sehr schwierig sein. Mittlerweile ist das öffentliche Interesse an den Folgen von Ärzte- und Medikamentenfehlern jedoch gewachsen.

Der Contergan-Skandal ist immer noch der bekannteste Fall.
Er ist auch ein trauriges Beispiel. Das Verfahren wurde gegen die Zahlung einer Geldsumme eingestellt, die bei 1000 Betroffenen über 50 Jahre verteilt für monatlich knapp 200 DM ausgereicht hätte. Man hatte nicht gedacht, dass es so viele Opfer dieses Medikaments gibt und dass sie so lange leben.
Interview: Peter Nowak