7. November 2011, Der Tagesspiegel (Berlin)
Pharmatests: In Indien geht es billiger
Pharmakonzerne testen ihre Arzneimittel zunehmend in Indien. Doch dort häufen sich die Todesfälle – und viele Menschen wissen womöglich nicht, worauf sie sich einlassen.
Hierzulande ist es leicht, ein Mittel gegen ganz schwere Leiden zu bekommen. Einfach mit dem Rezept in die Apotheke, da liegen die Schachteln etwas versteckt in Schubladen hinter den Regalen mit Hustensaft: Betaferon kann Multiple-Sklerose-Beschwerden lindern, mancher Nierenkrebs-Patient fragt nach Nexavar. Bis derartige Medikamente hier zum Verkauf zugelassen werden, haben sie eine weite Reise hinter sich – und die führt besonders oft über Indien.
In Delhi leben 16 Millionen Menschen, vier mal so viele wie im Großraum Berlin, aber auf weniger als der Hälfte der Fläche Berlins. Mindestens ein Fünftel der Bewohner Delhis lebt in Slums oder engen Gassen der Altstadt.
Es sind Millionen, die nicht genug zu essen haben, nicht lesen und schreiben können, krank sind und sich keine Behandlung leisten können. Das macht es internationalen Pharmakonzernen leicht, Probanden für ihre Medikamententests zu finden.
Das Land gilt als besonders gefragt für klinische Studien, unter anderem, weil sich die medizinischen Ergebnisse leicht auf Europäer und Nordamerikaner übertragen lassen. Dass viele Inder Englisch sprechen, ist ein Vorteil gegenüber dem Testland China. Einer Studie der Universität Hongkong zufolge haben Pharmakonzerne in den USA in Indien derzeit rund 300 klinische Studien in den Phasen II und III registriert. In diesen Stadien ist das Medikament auf dem Weg der Erforschung schon so weit, dass es am Menschen erprobt werden darf. Für einen Test braucht man mehrere tausend Menschen, deshalb ist das auch der teuerste Teil der Medikamentenentwicklung.
„Die Ergebnisse weisen stark darauf hin, dass die internationalen Pharma-, Biotech- und Medizintechnikunternehmen rapide ihre Strategie überdenken, indem sie mehr klinische Studien in Schwellenländer verlegen mit hoher Bevölkerungszahl und großem Marktpotential“, heißt es in dem Bericht aus Hongkong, der ausdrücklich die BRIC-Staaten nennt, also Brasilien, Russland, Indien, China. Auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm) bestätigt den Trend. In Europa gehen die Tests zurück, sagt Thomas Sudhop, der dortige Experte für klinische Prüfungen. Auch in Deutschland sei das der Fall, aber langsamer. Derzeit würden rund 1000 Arzneimitteltests pro Jahr angemeldet.
Viele Menschen in Indien nehmen womöglich in Kauf, dass sie bei solchen Tests sterben könnten. Der Zeitung „India Times“ zufolge starben im vergangenen Jahr laut Gesundheitsministerium 668 Menschen bei Pharmatests, während es 2007 noch 137 waren. Internationale Konzerne wie Pfizer, Merck oder Bayer führen die Studien durch. Bei klinischen Tests des Leverkusener Konzerns, dessen Pharmasparte in Berlin ansässig ist, sollen innerhalb von vier Jahren 138 Versuchspersonen ums Leben gekommen sein. Allerdings müssen die Todesfälle nichts mit dem Medikament oder dem Test zu tun haben. Oft sterben Teilnehmer wegen ihrer Vorerkrankungen wie Krebs. Bayer bestätigt das nicht. Als Antwort auf Fragen nach Todesfällen in Indien verweist der Konzern pauschal auf Publikationen in medizinischen Fachjournalen und Datenbanken. Laut „India Times“ gab es 2010 exakt 22 Todesfälle, bei denen ein Zusammenhang mit Nebenwirkungen der getesteten Medikamente erwiesen ist. Die industriekritische Organisation Coordination gegen Bayer-Gefahren (CBG) bezweifelt die Angaben: „Da die Daten auf Angaben der Pharmafirmen basieren und keine unabhängigen Kontrollen durchgeführt werden, dürften die tatsächliche Zahlen weit höher liegen.“
Die CBG veröffentlichte dieser Tage einen Offenen Brief an den Vorstandschef Marijn Dekkers, in dem um Aufklärung über die angeblich steigenden Todeszahlen gebeten wird. Die Organisation fordert die Offenlegung der Daten zu den Studien und macht Bayer Vorwürfe. „Wieder einmal geht Bayer über Leichen. Goldene Bilanzen stehen über Menschenleben. Für den schnellen Profit im Pharmageschäft müssen bevorzugt die Ärmsten der Armen grausame Schicksale erleiden – von schweren lebenslangen Gesundheitsschäden bis hin zum Tod“, sagt Axel Köhler-Schnura vom Vorstand der CBG. Er kritisiert auch die Auslagerung der Durchführung der Tests an Subunternehmen.
Bayer weist die Vorwürfe zurück. „Es gibt keinerlei Bestrebungen, Studien nur in bestimmte Länder wie Indien zu verlagern“, teilte eine Bayer-Sprecherin auf Anfrage schriftlich mit. Genaue Zahlen zu Tests und Teilnehmern in Indien verrät Bayer nicht. Die Standards seien genauso hoch wie in Deutschland. „Klinischen Prüfungen werden bei Bayer nach global einheitlichen Standards durchgeführt.“ Auch die hohe Zahl der Todesfälle, die die indische Regierung veröffentlichte, könne man nicht bestätigen. „In Indien ist der Anteil an unerwünschten Ereignissen nicht höher als in anderen Ländern“, schreibt der Konzern. Bayer bestätigt allerdings fünf Todesfälle, für die auch Entschädigung an die Hinterbliebenen gezahlt worden sei.
Zwar arbeite man in Indien mit Dienstleistern wie Parexel oder Igate zusammen, diese würden aber von den Behörden regelmäßig geprüft. Zusätzlich führten „unternehmensinterne Monitore und Auditoren Kontrollen vor Ort in den klinischen Zentren durch“, schreibt Bayer.
Dass die Kontrollen der Behörden in Indien verlässlich sind, bezweifeln indische Kritiker. Bei Arzneitests herrsche bisher Wildwuchs, sagt der Ethik- und Menschenrechtsexperte Amar Jesani vom Centre for Studies in Ethics and Rights (CSER) im Mumbai. Es gebe keinerlei wirksame Kontrolle, keine Transparenz und keine Anlaufstellen für Geschädigte. Zudem sei die Lage derart unübersichtlich, dass nicht einmal bekannt sei, wie viele Patienten an den Tests teilnehmen. Jesani schätzt, dass es allein in diesem Jahr 100 000 bis 150 000 sind.
Die Klärung, ob es bei den Todesfällen einen Zusammenhang mit den Arzneitests gebe, sei schwierig. Es gebe keinen Mechanismus, um dies unabhängig zu klären. „Die zuständige Arzneikommission ist hochgradig ineffizient, sie verfügt nicht über die Manpower und die notwendigen Spezialisten.“ Und obendrein gebe es Vorwürfe, dass sie von der Pharmaindustrie gekauft sei, sagt Jesani.
Gleiches gelte für die unzähligen Ethikkommissionen, die vor Ort die Arzneitests überwachen sollen. Die meisten gäben keinen Einblick in ihre Arbeit. „Es ist ein völliges Geheimnis, wie sie funktionieren“, meint Jesani. In einigen Fällen gründeten Pharmaunternehmen sogar ihre eigenen Ethikkommissionen, die dann die betreffenden Tests kontrollieren. Die Regierung lasse das so laufen.
Eigentlich gibt es internationale Standards für Medikamentenstudien. Die Helsinki-Deklaration des Weltärztebundes etwa, die ethische Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen festlegt. Oder Good-Clinical-Practice-Regeln, die eigentlich auch in Indien gelten. Doch die Überprüfung der Einhaltung dieser Regeln ist schwierig, besonders weil häufig die Verwaltung der Studien an andere Firmen ausgelagert wird. „Good Clinical Practice-Regeln werden weltweit anerkannt, aber die Beachtung vor Ort hängt sehr stark von der Kontrolle, den Strukturen und der Qualifikation der Beteiligten ab“, sagt Ignaz Wessler, geschäftsführender Arzt der Ethikkommission bei der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz. „Die Umsetzung ist in Europa schon kompliziert und in Schwellenländern sicherlich noch schwieriger“, sagt der Mediziner.
Die Zahl der Studien in Indien steige wegen der niedrigen Kosten, der Englischkenntnisse der Bevölkerung und der großen Masse möglicher Probanden, aber auch wegen der „laxen Aufsicht“, kritisiert die CBG. „Die Testpersonen sind überwiegend extrem arm und analphabetisch; in vielen Fällen werden Einverständniserklärungen von Dritten unterzeichnet.“ Das bestätigt Jesani in Mumbai. Einige Kranke nähmen nur an den Tests teil, weil sie Angst hätten, sonst nicht behandelt zu werden. Oft sei unklar, ob die Patienten überhaupt verstünden, dass sie Teil eines Experiments seien. „Viele Menschen sind arm und ungebildet. Die Ärzte sind für sie Götter. Die Patienten machen einfach, was sie sagen.“ von Jahel Mielke Mitarbeit: Christine Mölhoff, Delhi