Stuttgarter Zeitung, 10. Januar 2011
Wie viele Nanoröhrchen verträgt der Mensch?
Arbeitsschutz: Für eine Pilotfabrik von Bayer suchen Behörden und Politik geeignete Grenzwerte.
Es ist erst die zweite Anlage ihrer Art in Deutschland, die Bayer Material Science vor einem Jahr in Leverkusen in Betrieb nahm. Dort sollen demnächst jährlich 200 Tonnen eines neuartigen Produkts hergestellt werden: Kohlenstoffnanoröhrchen, also feinste Röhrchen, die nur aus Kohlenstoffatomen bestehen. Nach Aussage von Bayer handelt es sich um die weltweit größte Anlage ihrer Art. Der NRW-Landesverband der Naturschutzorganisationen hat jetzt gemeinsam mit dem Verein Coordination gegen Bayer-Gefahren das Genehmigungsverfahren unter die Lupe genommen. Sie kritisieren insbesondere den nach ihrer Ansicht willkürlich festgesetzten Grenzwert von 0,05 Milligramm Nanoröhrchen pro Kubikmeter Raumluft in der Anlage.
Die zuständige Bezirksregierung Köln genehmigte die Leverkusener Anlage als Pilotanlage mit einer Produktionskapazität von 200 Jahrestonnen. Claudia Baitinger, eine Sprecherin des Bundes Naturschutz NRW, verweist darauf, dass eine Genehmigung als reguläre Produktionsanlage ein Genehmigungsverfahren unter Beteiligung der Öffentlichkeit mit Umweltverträglichkeitsprüfung nach sich gezogen hätte. Laut öffentlich verfügbaren Informationen von Bayer soll die Anlage in diesem oder im kommenden Jahr auf eine Kapazität von 3000 Jahrestonnen ausgebaut werden. Laut Bezirksregierung Köln ist es die wirtschaftliche Vermarktung, die für die Einstufung einer Anlage entscheidend ist.
Als problematisch sieht Claudia Baitinger, dass bei dem gewählten Genehmigungsverfahren die spezifischen Risiken von Nanoröhrchen gar nicht berücksichtigt worden seien, da die Versuchsproduktion weder einer Immissionsschutz- noch der Störfall-Verordnung unterliegt. So wurde die Anlage vom Leverkusener Bauamt genehmigt, das nur eine bauaufsichtliche Prüfung vorgenommen hatte. Eine Änderung der bestehenden Abluftreinigungsanlage wurde nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz angezeigt und von der Bezirksregierung Köln lediglich bestätigt.
Laut Baitinger ist bisher auch nicht bekannt, wie die Mitarbeiter geschützt werden sollen. Im Rahmen des europäischen Nanosafe-2-Projekts wurden verschiedene Schutzmaßnahmen wie Faserfilter, Atemschutzmasken, Schutzkleidung und Handschuhe getestet. Dabei wurde etwa festgestellt, dass Nanopartikel kommerziell erhältliche Handschuhe durchdringen können, und diese daher in mindestens zwei Schichten getragen werden sollten. Kohlenstoffröhrchen, auch Nanotubes genannt, können ebenfalls nur einige Dutzend Nanometer (Milliardstelmeter) lang sein.
In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage des damaligen Abgeordneten und heutigen Landesumweltministers Johannes Remmel (Grüne) schrieb die ehemalige schwarz-gelbe Landesregierung: „Der Hersteller empfiehlt einen Grenzwert von 0,05 Milligramm pro Kubikmeter am Arbeitsplatz . . . Aufgrund der derzeit vorliegenden Informationen ist diese Empfehlung vertretbar.“ Nach Auffassung des emeritierten Bremer Epidemiologen Rainer Frentzel-Beyme ist dieser Grenzwert „angesichts des Fehlens epidemiologischer Daten als völlig willkürlich anzusehen“.
Remmel bestätigte, dass es keinen gesetzlichen Grenzwert gibt: „Wir müssen die Gefahren von Nanotubes grundsätzlich bewerten. Leider liegen dazu noch keine verlässlichen Daten vor.“ Erst wenn diese Grundlage geschaffen sei, könnten auch die Grenzwerte, die Bayer festgelegt hat, rechtlich bewertet werden. Auf Remmels Initiative hin hat die Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft für Immissionsschutz beschlossen, sich in der nächsten Sitzung im März ein Konzept für die Messung der Nanopartikel vorlegen zu lassen. Möglicherweise werden sich daraus Konsequenzen für weitere Regelungen ergeben.
Bayer arbeitet auch in der Nano-Kommission der Bundesregierung mit, die Ende 2008 ein Prinzipienpapier zum verantwortungsvollen Umgang mit Nanomaterialien publiziert hat. In dem Papier haben die Teilnehmer den sicheren Umgang mit Nanopartikeln sowie Informationspflichten gegenüber Behörden und Öffentlichkeit beschrieben. Doch bisher hat sich keines der beteiligten Unternehmen zu dem Papier bekannt. Der forschungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion René Röspel meint, dass Bayer zurückhaltender hätte vorgehen müssen: „Die Hauptforderung hier ist Transparenz und Teilhabe von Öffentlichkeit. Die Bürger müssen dafür nicht ins Labor gucken, doch die Öffentlichkeit sollte ausreichend über die Pläne informiert werden.“ Da Bayer die neue Anlage jedoch als Versuchsanlage deklariert habe, waren die Anforderungen an die Information der Öffentlichkeit geringer.
Auf nationaler wie auf EU-Ebene gab es bereits mehrere Anläufe für eine Regulierung – mit wenig Wirkung. „Bis heute unterliegen Nanoprodukte weltweit keiner gesetzlichen Regelung“, sagt Patricia Cameron vom Bund Naturschutz. Von 2013 an gilt europaweit die Kosmetikverordnung nach dem Grundsatz „alles ist erlaubt, was nicht explizit verboten ist“. Geregelt werden aber nur einige Anwendungen in Kosmetikprodukten. Mit Blick auf Lebensmittel wird über eine Kennzeichnungspflicht verhandelt. Das EU-Parlament und die Kommission sind eher dafür, der Rat aber noch unentschlossen. Eben erst scheiterte der Versuch, Nanopartikel aus Silber und Kohlenstoffröhrchen in die neue Richtlinie zur eingeschränkten Verwendung von bestimmten gefährlichen Substanzen in Elektrogeräten einzubeziehen. Von Christiane Schulzki-Haddouti