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Chemie-Unfälle

taz, 20.11.2001

Hilflos gegen Sabotage

Deutsche Chemieanlagen sind gegen Terrorangriffe kaum geschützt. Das BKA sieht keine Bedrohung. Doch bei einem Unglück könnten unbekannte Gifte entstehen und tausende Menschen sterben
von GREGOR THOLL

Das Tor steht weit offen: Als ein Tanklastwagen auf das Gelände der Raffinerie bei Merseburg einbiegt, fährt das Auto einfach hinterher. Niemand kümmert sich um die Insassen des Pkw, die auf dem Fabrikgelände nichts verloren haben. Unbehelligt passieren sie ein weiteres Tor, das zum Kern der Anlage führt. Ohne Berechtigungsausweis darf hier niemand sein. Aber kontrolliert wird das nicht.
Die unbefugten Eindringlinge waren in diesem Fall Journalisten des MDR-Magazins „Fakt“. Ihre Aktion zeigte: Auch nach den Terroranschlägen in den USA sind die Sicherheitsvorkehrungen an deutschen Chemieanlagen nicht ausreichend. Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) hatte kurz nach den Anschlägen selbstkritisch Sicherheitsmängel eingeräumt. Mit einer Bedrohung durch internationale Terroristen habe man nicht gerechnet, nun wolle man sich aber darauf einstellen. Mitte Oktober wurde ein Extra-Maßnahmenpaket gegen unbefugte Eingriffe vorgestellt, das „höchstmögliche Sicherheit“ garantieren sollte. Wenige Tage später bewiesen die MDR-Journalisten das Gegenteil.
Während für öffentliche Gebäude derzeit höchste Alarmstufe gilt, sind viele wirtschaftliche Standorte kaum gesichert. Chemiewerke beispielsweise sind äußerst verletzlich. Das sagt auch Christian Jochum, ehemaliger Sicherheitschef bei Hoechst und jetzt Vorsitzender der Störfallkommission des Bundes, einem Expertengremium, das die Regierung berät: „Gegen Terrorangriffe sind die deutschen Chemieanlagen nicht ausreichend geschützt.“
Die Störfallverordnung für Chemieanlagen verlangt bereits seit 20 Jahren einen „Schutz gegen den Eingriff Unbefugter“, erinnert Roland Fendler vom Öko-Institut in Freiburg. Das sei jedoch nicht so ernst genommen worden. „Bisher hat man da meist lediglich an spielende Kinder und entlaufene Tiere gedacht.“
Auch für das Bundeskriminalamt (BKA) hat sich offiziell nichts geändert: „Derzeit gibt es keine konkreten Hinweise auf Terroranschläge in Deutschland“, heißt es beim BKA. Einzelne Stellungnahmen zu eventuellen Zielen will man nicht abgeben. Kritiker monieren, für das BKA seien Industrieanlagen weniger anschlagsrelevant als andere Ziele, weil es potenzielle Terroristen eher auf symbolische Orte abgesehen hätten. Fendler sieht die Bedrohung differenzierter: „Wahrscheinlich kann man direkte Anschläge auf deutsche Chemiewerke ausschließen. Dass jedoch Terroristen gefährliche Stoffe entwenden wollen, um sie woanders einzusetzen, halte ich für plausibel.“
Hundertprozentige Sicherheit gebe es nicht, ergänzt Christian Jochum. Doch die Sicherheitsvorkehrungen seien zu weit zurückgefahren. Man müsse ja nicht gleich von Selbstmordattentätern ausgehen. Um jedoch auch konventionellere Anschläge vereiteln zu können, plädiert Jochum dafür, den Werkschutz so schnell wie möglich zu verstärken und auch Fremdunternehmen stärker zu kontrollieren. Schließlich „befinden sich die Chemiewerke in Deutschland mit ihren gefährlichen Stoffen in dicht besiedelten Gebieten“.
Auch Philipp Mimkes von der Coordination gegen Bayer-Gefahren klagt mehr Sicherheit ein. „In den vergangenen Jahren ist die Sicherheitslage an den Chemiewerken wieder schlechter geworden.“ Grund: Die Unternehmen sparten, wo sie können, auch bei den Werksfeuerwehren. Bayer dagegen verweist darauf, die gesetzlichen Standards beim Werksschutz würden immer eingehalten. Wenn gespart würde, dann nur bei Leistungen, die über das gesetzlich Geforderte hinausgehen. Mimkes sieht aber auch große Gefahren bei den Produkten der Chemieindustrie, vor allem bei der Kunststoffproduktion an den klassischen Bayer-Standorten Dormagen, Leverkusen und Krefeld. Dort werde tonnenweise Phosgen eingesetzt und als Vorprodukt gelagert. Im Ersten Weltkrieg diente dieser Stoff als Kampfgas. Chemiegegner fordern seit langem alternative Produktionsweisen ohne die gefährliche Substanz. Zudem wünschen sie sich eine Offenlegung der Werkspläne.
Kommt es zu einem Unglück, ist das Bedrohungspotenzial laut Roland Fendler vom Öko-Institut enorm: „Zehntausende Tote wären sicherlich möglich – allerdings nur an wenigen Stellen in Deutschland.“ Störfallkommissionschef Jochum warnt indes vor Panikmache. Szenarien, nach denen ein Flugzeug auf ein Werk in Frankfurt-Höchst stürzt und anschließend das ganze Rhein-Main-Gebiet nicht mehr bewohnbar sei, findet Jochum abwegig. Große vergiftete Gebiete hält er für ausgeschlossen: „So groß ist die Menge von Chemikalien in den deutschen Werken nicht.“ Doch Jochum räumt auch ein, dass niemand weiß, was bei einem großen Chemieunfall passiert. Welche Stoffe entstünden, sei letztlich unberechenbar. „Chemie ist komplexer als Kernkraft.“ Ein GAU in einer Chemieanlage sei „nicht so vorhersagbar wie im Atomkraftwerk“. Ein weiteres Problem: niemand hat einen Überblick über problematische Standorte. Eine bundesweite oder gar europaweite Koordination gibt es nicht, heißt es aus dem Umweltbundesamt. Die Ratschläge des Katastrophenschutzes („Fenster geschlossen halten“) sind nur sehr vage und allgemein. Der Grund: Die Industrie hat kein Interesse an öffentlichen Werksdaten. Und die Behörden haben keine Kapazitäten für eine zentrale Erfassung.