Breites Bündnis angestrebt
Kampagne gegen hochgefährliche Pestizide
Jährlich erleiden Millionen von Menschen Pestizid-Vergiftungen. Die internationale Politik zieht für die Reduktion der Pestizid-Risiken inzwischen auch ein fortschreitendes Verbot hochgefährlicher Pestizide in Betracht (FAO 2010). Allerdings haben bisher zu wenige Akteure diesen Gedanken aufgegriffen. Darum gilt es, Branchen wie die Lebensmittel-Industrie für solch ein Ziel zu gewinnen.
Von Carina Weber, Pestizid Aktions-Netzwerk e.V. (PAN Germany)
Ein großer Anteil der weltweit verwendeten Pestizide von BAYER & Co. ist nicht nur problematisch, sondern sogar hochgefährlich für Menschen und/oder die Umwelt. Der „PAN International“-Liste zufolge1 ist etwa die Hälfte aller Ackergifte auf dem Weltmarkt in beträchtlichem Maß gesundheitsgefährdend. Das sind immerhin rund 400 Pestizid-Wirkstoffe.
Unter Vergiftungen durch diese Substanzen können Menschen aller Generationen leiden. Sie sind jedoch, abhängig vom Alter und ihrer allgemeinen Situation, unterschiedlich anfällig für die giftigen Wirkungen von Pestiziden. Die Lebensbedingungen, die Ernährung und die körperliche Verfassung haben einen erheblichen Einfluss darauf, welche Folgen der Kontakt eines Menschen mit einem gefährlichen Pestizid hat. Wie in der Studie „Pestizide & Kinder“ von TERRE DES HOMMES und PAN Germany2 ausgeführt, sind Embryos, Säuglinge und kleine Kinder den Pestizid-Gefahren besonders ausgesetzt. So konstatierte das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) 2009 zur Gefährdung von jungen Menschen durch Chemikalien: „Geht es um Risiken, die von chemischen Stoffen ausgehen können, müssen Risikobewerter berücksichtigen, dass Kinder im Verhältnis zu ihrem Körpergewicht eine größere Hautoberfläche haben, mehr Nahrung aufnehmen und häufiger atmen als Erwachsene. Sie haben eine, vom Lebensalter abhängig, erhöhte Stoffwechselrate, der Körper nimmt über den Magen-Darm-Trakt bestimmte Stoffe schneller und in größeren Mengen auf. Schadstoffe, die nur langsam abgebaut werden, können über einen längeren Zeitraum einwirken“3. Gleichwohl ist die Erfassung des Vergiftungsgeschehens für Kinder ebenso wie für Erwachsene völlig unzureichend – nicht nur in Entwicklungsländern, sondern sogar auch in Deutschland, wie aus einer BfR-Publikation erkennbar ist4. Dies hat mindestens zwei Gründe: Zum einen werden erkannte Vergiftungen nicht dokumentiert und zum anderen werden Vergiftungen nicht erkannt. Letzteres macht u. a. die von PAN International 2010 veröffentlichte Studie „Communities in Peril“ deutlich5. Die im Rahmen dieser Untersuchung interviewten über 2.000 Pestizid-AnwenderInnen benannten eine ganze Reihe akuter Vergiftungssymptome von Pestiziden. Deren Langzeitwirkungen wie etwa eine gestörte Fortpflanzungsfähigkeit, Geburtsschäden oder Störungen des Nervensystems waren ihnen jedoch kaum bewusst. Wenn allerdings weder die AnwenderInnen selbst noch die ÄrztInnen solche Symptome den Ackergiften zuordnen, dann erscheint das Problem deutlich kleiner, als es tatsächlich ist. Detail-Untersuchungen dokumentieren denn auch eine gewaltige Dunkelziffer. Ein Beispiel ist Zentralamerika. Dort kam eine Auswertung von Vergiftungsvorkommnissen zu dem Ergebnis, dass 98 Prozent der Fälle nicht erfasst werden6.
Trotz derartiger Mängel in der Wahrnehmung und Erfassung der Agrochemie-Vergiftungen ist in der Politik eine Tendenz hin zur Abkehr von hochgefährlichen Pestiziden erkennbar. Diese Tendenz folgt der Beurteilung, daß die diversen nationalen Gesetzgebungen und internationalen Regelungen sowie die vielen Ausbildungs- und Trainingsprogramme der vergangenen rund drei Dekaden nicht geeignet waren, die Anzahl der Vergiftungen in ausreichendem Maße zu reduzieren. So hielt die FAO, die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, 2010 in einer Leitlinie fest, dass die Wirkung von Trainings zur sicheren Anwendung von Pestiziden weiterhin in Frage gestellt wird und nicht als Lösung für die mit dem Pestizid-Einsatz verbundenen Probleme betrachtet werden sollte7. Allerdings ist hinreichend bekannt, wie zäh sich die Umsetzung von Politik gestalten kann, wenn ihr nicht der notwendige Nachdruck verliehen wird. Deshalb müssen mehr Akteure aktiv werden.
Eine wichtige Akteursgruppe sind Firmen des Lebensmittel-Sektors. Die Nahrungsmittel-Branche wurde 2002 neu in den Internationalen Pestizid-Verhaltenskodex aufgenommen, weil sie erheblich dazu beitragen kann, Pestizid-Probleme einzudämmen. In der Öffentlichkeit, auch in der pestizidkritischen Öffentlichkeit, wird diese Akteursgruppe jedoch bisher im Gegensatz zur Chemie-Industrie nur wenig als Zielgruppe für die Forderungen nach einer Beendigung der Nutzung hochgefährlicher Pestizide gesehen und genutzt. Dies sollte sich ändern. Schließlich haben die Firmen und Konzerne der Lebensmittel-Industrie ebenso wie ihre Zusammenschlüsse deutlich weniger Eigeninteresse an der Vermarktung von Ackergiften als Pestizid-Produzenten wie BAYER. Zudem werden in der Lebensmittel-Branche Standards entwickelt, die auch Pestizide betreffen. Sie kann deshalb potentiell ein kräftiger Hebel sein, um die Pestizid-Nachfrage zu schwächen und dadurch Vergiftungen von Mensch und Umwelt zu reduzieren.
Deshalb ruft PAN Germany dazu auf, sich mit Schreiben an Firmen des Lebensmittelsektors zu wenden und sie dazu aufzufordern, durch ein Programm bzw. konkrete Projekte zur schrittweisen Beendigung des Einsatzes hochgefährlicher Pestizide, wie sie in der „PAN International List of Highly Hazardous Pesticides“8 benannt sind, beizutragen. Wichtige Firmen des Lebensmittelsektors, an die solch ein Schreiben gerichtet werden sollte, sind z. B. ALDI NORD, ALDI SÜD, BÜNTING, EDEKA, GLOBUS, KAISERS TENGELMANN, KAUFLAND, LIDL, METRO, NETTO, NORMA, REWE und TEEGUT.
Quellen:
1 PAN International (2011): PAN International List of Highly Hazardous Pesticides (PAN List of HHP), Hamburg, January 2011
2 TERRE DES HOMMES / PAN Germany (2011): Pestizide & Kinder – Die Gefahr von Umweltgiften für Kinder – Fakten, Fälle, Forderungen
3 Bundesinstitut für Risikobewertung (2009): Kinder sind keine kleinen Erwachsenen; Presseinformation 15/2009 vom 6.7.2009
4 Bundesinstitut für Risikobewertung (2009): Ärztliche Mitteilungen bei Vergiftungen.
5 PAN International (2010): Communities in Peril: Global report on health impacts of pesticide use in agriculture
6 Murray D, Wesseling C, Keifer M, Corriols M, Henao S (2002): Surveillance of pesticide-related illness in the developing world: putting the data to work; Journal of International Occupational Environmental Health 8; S.243-248
7 Food and Agriculture Organisation of the United Nations (2010): Guidance on Pest and Pesticide Management Policy Development
8 siehe unter 1