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[Patente] STICHWORT BAYER 04/2012

CBG Redaktion

BAYER und die Patente

Späte Liebe

Mit Argusaugen wacht der Leverkusener Multi über seine Patente. Unzählige Prozesse führt er zur Verteidigung seiner Ansprüche. Allerdings nahm es der Konzern mit dem Wert des geistigen Eigentums nicht immer so genau. In den Gründerjahren bediente sich der Chemie-Riese rücksichtslos bei den Ideen anderer und legte so den Grundstock für den Aufstieg zu einem Global Player. Erst als aus den BAYER-Labors vermehrt eigenständige Entdeckungen kamen, entwickelte sich das Unternehmen zu einem Anhänger von verbrieften Schutzrechten.

Von Jan Pehrke

„Ein Erfinder-Unternehmen wie BAYER lebt von einem zuverlässigen weltweiten Schutz seines geistigen Eigentums“, heißt es im jüngsten Nachhaltigkeitsberichts des Leverkusener Multis. Anderen machen hingegen die Monopol-Profite, die patentgeschützte Medikamente abwerfen, das Leben schwer. So schaffen es viele InderInnen nicht, die monatlich 4.200 Dollar, die eine Behandlung mit dem Krebsmittel NEXAVAR kostet, aufzubringen. Die Behörden des Landes haben sich deshalb auf einen Ausnahme-Paragrafen des internationalen Patent-Abkommens TRIPS berufen und dem Unternehmen NATCO eine Zwangslizenz zur Herstellung einer billigeren Version erteilt.

Der Pillen-Produzent geht gegen diese Entscheidung juristisch vor, wie er auch schon mit von der Partie war, als Big Pharma 2001 gegen Südafrika vor Gericht zog, weil der Staat die Produktion erschwinglicher Varianten eigentlich patent-geschützter AIDS-Arzneien erlaubt hatte, um möglichst vielen PatientInnen eine Therapie zu gestatten. Die meisten Klagen des Agro-Riesen richten sich jedoch gegen Konzerne, die nach Ablauf der Schutzfrist Nachahmer-Versionen von BAYER-Pharmazeutika herausbringen wollen und bereits vorab Genehmigungsanträge stellen. Durch diese Strategie hofft der Global Player, sich die lästige Konkurrenz so lange, wie es nur geht, vom Hals halten zu können. Und wenn ein solches Mittel nicht probat erscheint, zahlt er Generika-Herstellern wie BARR auch schon mal hohe Summen dafür, dass sie auf die Fabrikation von Patent-Auslaufmodellen made by BAYER verzichten.

Eigentum ist Diebstahl
Aber eine solche Wertschätzung brachte das Unternehmen dem geistigen Eigentum nicht immer entgegen. In seinen Anfangsjahren als Farbstoffe herstellende Firma pflegte es einen recht lockeren Umgang mit ihm. „Die Alizarin-Farben hingegen stammten aus der Zeit, als die einfache Übernahme fremder Verfahren in Deutschland noch erlaubt und üblich war“, heißt es in den „Meilensteinen“ dazu offenherzig1. Und nur diese „einfache Übernahme“ ermöglichte es, das Segment zum wichtigsten Produktionszweig auszubauen. 6.000 Kilo verließen 1877 täglich die Fabrikhallen, womit die Firma die Spitzen-Position unter den deutschen Herstellern einnahm.

Mit den deutschen „Erfinder-Unternehmen“ war es zu dieser Zeit nämlich noch nicht allzu weit her. Die entscheidenden Innovationen auf dem Gebiet der Chemie-Farben gelangen nämlich in England, das diese auch rasch gesetzlich schützte. Die deutschen Länder hingegen wollten die „nachholende Entwicklung“ nicht durch Eigentumstitel für Labor-Kreationen beeinträchtigen. „Dort gab es noch kein Patentgesetz. Und da die ersten Teerfarben leicht herzustellen waren, schossen überall Fabriken aus der Erde“, halten die „Meilensteine“ fest2. BAYER war sogar besonders früh dran. Noch bevor der „Vater der Farben-Industrie“, August Wilhelm Hoffmann, aus dem Mutterland dieses Industriezweiges in seine Heimat zurückkehrte, hatte sich 1863 in Wuppertal die FRIEDR. BAYER ET COMP. gegründet und sich nach dem Motto „Eigentum ist Diebstahl“ sogleich ans Kopierwerk gemacht.

Die anderen Betriebe kannten ebenfalls nur wenig Skrupel. Es blieb ihnen auch kaum eine andere Möglichkeit. Den Produkten aus dem Reichsgebiet eilte nämlich der Ruf voraus, „billig und schlecht“ zu sein. Deshalb mussten BAYER & Co. imitieren, was das Zeug hielt. Als „die berüchtigsten Piraten von ganz Europa“3 galten deutsche und schweizer Industrielle zu der Zeit. Deren Raubrittertum hielt englische und US-amerikanische Unternehmen sogar von Exporten ab, da ihre Waren „doch nur zum Nachbauen bestimmt“4 seien. Manche Firmen betrieben überdies systematisch Markenfälschung. So prangte etwa die Herkunftsbezeichnung „Sheffield made“ auf deutschen Messern, die kostengünstig aus Gusseisen statt aus Gussstahl hergestellt waren. Um sich gegen diese Billigimporte zu verwahren, führte England schließlich die Kennzeichnungspflicht „Made in Germany“ ein.

Das Reichspatent-Gesetz
Zu einem Gütesiegel wandelte sich das Label erst später, und das hatte viel mit den Umständen zu tun, unter denen es entstanden war. Die Unternehmen steckten das mit den „Übernahmen“ oder Plagiaten leicht verdiente Geld nämlich in ihre Entwicklungsabteilungen, was sich recht bald auszahlte. Sie brachten bessere, orginäre Produkte auf den Markt – und entdeckten prompt ihre Schutzwürdigkeit. Dabei gab es jedoch große Unterschiede zwischen den einzelnen Wirtschaftszweigen. Die fortgeschrittenste Branche, die Elektroindustrie mit SIEMENS als Vorreiter, setzte sich am vehementesten für ein Patentgesetz ein. Werner Siemens verfasste Denkschriften zum Thema und gründete 1874 gemeinsam mit dem Ingenieur Carl Pieper den „Deutschen Patentschutzverein“. Daneben zählten vor allem Fabrikanten aus dem von den deutschen Ländern eroberten Elsass-Lothringen zu den Befürwortern, weil sie ihren in Frankreich erworbenen Entwicklungsvorsprung nicht einbüßen wollten, was auch auf Verständnis stieß. Einen „Cultur-Rückgang“ sollten diese Firmen nicht hinnehmen müssen, meinte etwa der Berliner Maschinenbauer Carl Schlickeysen. Die Chemie-Industrie hingegen war noch nicht so weit; sie verhielt sich den Plänen gegenüber „recht ablehnend“5. Die meisten Handelskammern lehnten ein solches Paragrafen-Werk ebenfalls ab.

Zudem traf es auf politische Widerstände. Die Anhänger der Freihandelslehre sahen im Patentrecht eine Beschränkung der Produktionsfreiheit, ein noch zur Privilegien-Ordnung des Ancien Régimes gehörendes, durch „Despotismus und Finanzkniffe“ charakterisiertes Instrument. Der technische Fortschritt lasse sich nicht individualisieren, argumentierten sie und warnten vor der „Abhängigkeit der Konsumenten von den Patentinhabern“. Auch die Gefahr von Monopolbildungen beschworen sie nicht zu Unrecht, denn selbst Werner Siemens konnte sie nicht ganz leugnen. Sogar Juristen meldeten Vorbehalte an. So mochte etwa Friedrich Carl von Savigny dem Menschen kein „Eigenthumsrecht an seinen Geisteskräften“ zusprechen. Die eigene Person vermag nicht Objekt der Willensherrschaft sein, schrieb er in „System des heutigen römischen Rechts“. Der Einzelne hätte zwar eine rechtmäßige Macht über seine Kräfte, der Staat habe aber keine Möglichkeit, sie vor anderen zu schützen und in „ebenso überflüssiger wie verwirrender Weise“ rechtlich abzusichern.

Aber schließlich kam das Patentgesetz 1877 doch, nicht nur weil die Entwicklung von der „Imitationsindustrie“ zur „Innovationsindustrie“ unaufhaltsam voranschritt und immer mehr Sektoren einnahm. Auch die Reichsgründung erwies sich als Motor, denn mit ihr wuchs das Verlangen nach Rahmenbedingungen für den nunmehr einheitlichen Wirtschaftsraum. Und schließlich brachte die Wirtschaftskrise der 1870er Jahre die Freihändler in die Defensive. „Die neue Politik Bismarcks, die eines protektionistischen Wirtschaftsnationalismus, der seinen Höhepunkt im Zollgesetz von 1879 fand, bildete den ideologischen Hintergrund für eine Einführung des Erfindungsschutzes mit seinen dirigistischen Elementen“, schreibt Arndt Fleischer in „Patentgesetzgebung und chemisch-pharmazeutische Industrie im deutschen Kaiserreich (1871-1918)“6.

BAYER & Co. hatten sich in den Gesetzgebungsprozess lange nicht eingeschaltet, erst bei der ersten Lesung des Entwurfes meldeten sie sich zu Wort und forderten „Nachbesserungen“. Die „Deutsche Chemische Gesellschaft“ (DCG) trat für die Einbindung von Sachverständigen in die Patent-Verfahren sowie für eine Veröffentlichungspflicht ein. Außerdem kritisierte sie die im Paragraphen-Werk vorgesehene Möglichkeit zur Erteilung einer Zwangslizenz, falls ein Anmelder die Erfindung nicht zum Wohle der Allgemeinheit einsetzt. Sie wollten es sich nämlich unter anderem vorbehalten, eine Idee weder zu realisieren, noch die Rechte daran zu verkaufen, sondern die Patentierung lediglich dazu zu nutzen, ihrer Konkurrenz einen Entwicklungsweg zu versperren.

Darüber hinaus mahnten die Firmen an, die Laufzeit auf höchstens 15 Jahre festzulegen. Überhaupt war es ihnen ein Anliegen, den Geltungsbereich der Schutztitel zu begrenzen. „Die Patentierung des Productes selbst (…) würde verhindern, dass später aufgefundene, verbesserte Verfahrensweisen im Interesse des Publicums und der Erfinder zur Ausführung gelangen“, hieß es in der Petition der DCG7. Genau eine solche Blockade-Wirkung hatte ihrer Meinung nach die Patentierung des Fuchsins in Frankreich entfaltet. Als Konsequenz daraus verlangte die Organisation, Patente nur auf technische Prozesse, nicht aber auf die Stoffe selbst zu gewähren. Der Reichstag gab dem ebenso statt wie den meisten anderen ihrer Ersuche.

Die Patent-Mausefalle
Trotzdem fremdelten BAYER & Co. noch einige Zeit mit dem Reichspatentgesetz. Nur verhalten meldeten sie ihre Erfindungen an, und wenn, dann verschleierten sie oftmals den eigentlichen Zweck, um die Konkurrenz in die Irre zu führen. Einzig BASF-Codirektor Heinrich Caro stand konsequent hinter der Regelung. Er machte sich sogar für ein Stoff-Patent und damit für die Streichung des Chemie-Sonderparagrafen stark, konnte sich damit allerdings nicht durchsetzen. „Leider habe ich mich im Kreise meiner Fachkollegen – in dem noch immer die Romantik der Wilddieberei einen Anklang findet – wiederholt überzeugen müssen, dass alle zum Nehmen, aber nicht zum Geben bereit sind“, klagte er resigniert8.

Auch Carl Duisberg packte gelegentlich ein solches Jagdfieber, so etwa bei der Entwicklung von Benzopurpurin. Die FRIEDR. BAYER ET COMP. hatte es Mitte der 1880er Jahre abgelehnt, von einem ehemaligen Beschäftigten ein Patent für einen roten Farbstoff zu erwerben. Stattdessen kaufte es die AGFA und ging in die Produktion, die sich als äußerst profitabel erwies. Das ließ Duisberg keine Ruhe. Er begab sich auf der Suche nach einem Rot-Ton nun selber ins Labor und entdeckte das Benzopurpurin B. Nur brauchte er zu dessen Herstellung mit der Brönnerschen Säure ein Zwischenprodukt, dessen Rechte ebenfalls bei der AGFA lagen. Deshalb verfiel der spätere BAYER-Direktor auf die Idee, in der Deponaten-Sammlung zu schauen, ob das Unternehmen darauf nicht auch Ansprüche erheben dürfte, weil es die Beschreibung eines entsprechenden Herstellungsverfahren bei einem Notar hinterlegt hatte. Und siehe da: „Zu meiner größten Freude fand ich dann zufällig, dass irgendein nicht genannter Chemiker der Fabrik das (…) Schäffersche Salz mit wässrigem Ammoniak in Glasröhren erhitzt und so die Brönnersche Säure schon vor der Einreichung des diesbezüglichen Patents dargestellt und das Verfahren als technisch wertvoll deponiert hatte. Wir hatten also das Recht der Vornutzung. Damit waren wir aus der Patent-Mausefalle (…) heraus.“9

Und auf eine ganz ähnliche Art, wie es Duisberg in seinen Lebenserinnerungen beschreibt, ging der Konzern noch 80 Jahre später vor. Um dem Erfinder Heinz Süllhöfer seine Kunststoffplatten-Maschine abspenstig zu machen, schickte er sich vor Gericht an, mit aus dem Hut gezauberten Konstruktionsplänen eine Vornutzung zu belegen. Damit sollte die längste – und immer mal wieder aufflammende – Auseinandersetzung um geistiges Eigentum in der bundesdeutschen Justiz-Geschichte beginnen (SWB berichtete mehrfach), die BAYER schließlich auch wieder aus der Patent-Mausefalle befreite und Süllhöfer einen Großteil seines Vermögens kostete (SWB berichtete mehrfach).

Industrialisierte Forschung
Duisberg erkannte dann aber doch recht bald die Vorteile dessen, was marxistische Historiker als „Lösung der Patentfrage durch die Bourgeoisie“ bezeichneten, denn das Paragrafen-Werk trug wesentlich zu der von Ferdinand Tönnies beschriebenen Reaktion bei, „die Basis Handel (…) mit der Säure Wissenschaft zum Salze Großindustrie“10 zu verbinden. Oder wie es die „Meilensteine“ schlichter formulieren: „Damit verbesserten sich die Möglichkeiten für die wirtschaftliche Nutzung der Forschungsergebnisse in der Industrie ganz wesentlich.“11 Das Reichspatentgesetz promovierte nämlich nicht nur Firmen zu Rechtssubjekten, die selber Patente beantragen konnten, es stellte sie sogar besser als die Erfinder. Diese waren oft schlicht nicht in der Lage, die hohen Anmelde-Gebühren aufzubringen. Das trieb sie in die Fänge von BAYER & Co., wo sich dann das Wissen sammelte. Und mit dem Kapital, das diese Akkumulation abwarf, verstärkte sich diese Tendenz noch, denn die Unternehmen nutzten es systematisch zu einer Rationalisierung von Forschung & Entwicklung im Sinne ökonomischer Effizienz.

Nach Ansicht des Philosophen André Gorz kam BAYER bei diesem Prozess eine besondere Rolle zu. „Ein erster entscheidender Schritt in Richtung Verselbstständigung der Wissensproduktion und dessen ‚Kapitalisierung’ fand um 1880 statt, als Carl Duisberg bei BAYER die Forschung in der chemischen Industrie industrialisierte“, hält er in „Wissen, Wert und Kapital“ fest12. Und das Beispiel machte bald Schule. „Elberfeld ist in Deutschland System“, erkannte der englische Journalist Ernest Edwin Williams neidvoll.

Die Labore von FRIEDR. BAYER ET COMP. sahen nicht nur so aus wie Werkshallen, es herrschten dort auch dieselben Prinzipien. So zergliederte Duisberg die Tätigkeiten nach den Prinzipien des Taylorismus. „In dem neuen wissenschaftlichen Laboratorium führte ich eine scharfe Arbeitsteilung durch, indem jeder der darin tätigen Chemiker ein besonderes Spezialgebiet der großen Anilinfarben-Industrie zugewiesen erhielt“, schreibt er in seinen Memoiren. Zudem trennte das Unternehmen Grundlagen- und praxis-orientierte Forschung. Das, was bei ihm „systematische Patent-Auswertung“ hieß und in ähnlicher Form auch bei der Konkurrenz stattfand, lief ab wie am Fließband. „In unendlichen, im Einzelnen vorgeschriebenen Versuchsreihen wurde gleichsam mechanisch nach Verbesserungen für Patente gesucht“, schreibt Margrit Seckelmann in „Industrialisierung, Internationalisierung und Patentrecht im Deutschen Reich“13.

Für Genies blieb unter solchen Bedingungen nur wenig Raum. Ihr Kopf gehörte dem Betrieb, in den Arbeitsverträgen mussten sie schon im Vorhinein die Rechte an ihren Geistesblitzen abtreten. Verstöße dagegen ahndeten die neuen Regelungen zum Schutz des geistigen Eigentums als „widerrechtliche Entnahme“. Erfinder-Verbände rangen nicht nur deshalb beharrlich um eine Verbesserung ihrer Stellung gegenüber den Unternehmen und kritisierten das Rechtsinstitut als „Antipatent-Gesetz“.

Die Chemie-Industrie hingegen vermochte sich voll zu entfalten. Sie erhöhte ihren Anteil am Farbstoff-Weltmarkt kontinuierlich; von 1880 bis 1900 stieg er von 70 auf 90 Prozent. Das verdankte die Industrie nicht zuletzt dem internationalen Patentabkommen von Paris, denn dieses gewährte ein Prioritätsrecht und gab den Konzernen nach der Anmeldung einer Entwicklung in ihrem Heimatland ein Jahr Zeit zu prüfen, ob sich entsprechende Anträge auch in anderen Staaten lohnen würden. Diese Regelung sorgte durch ihren Sperrfrist-Charakter für eine immense Verbreitung der deutschen Schutztitel und brachte die internationale Konkurrenz in eine starke Abhängigkeit von BAYER & Co. Die Firmen-Chronik der BASF erblickte darin sogar einen der Gründe für den Ersten Weltkrieg.

Patent-Kartelle
Allerdings beruhte der Aufstieg deutscher Firmen nicht bloß auf der von den Patentbestimmungen beförderten Forschung im industriellen Maßstab. Auch eine von BefürworterInnen wie GegnerInnen früh benannte Nebenwirkung der Schutzrechte trug dazu bei: die Tendenz, als Katalysator für Monopol-Bildungen zu wirken. BAYER beschleunigte diese nach Kräften. Das Unternehmen verfolgte nämlich die Strategie, bei Auseinandersetzungen um geistiges Eigentum mit Konkurrenten einvernehmliche Lösungen anzustreben. „Dass „Friede ernährt, Unfriede aber verzehrt“, gab Duisberg als Devise aus14. Und so endete etwa der „Kongorot-Prozess“, den sein Ausweg aus der „Patent-Mausefalle“ – die behauptete Vornutzung der von AGFA patentierten Brönnerschen Säure bei der Herstellung des Farbstoffes Benzopurpurin B – heraufbeschworen hatte, mit einer gütlichen Einigung, in der beide Parteien sich gegenseitig Zugriff auf roten Farbstoffe gewährten. Nach Ansicht von Margrit Seckelmann kam das der Monopolisierung eines Teilgebietes gleich. „Zumindest wurde hier erstmals das Modell einer Interessensgemeinschaft durch den Zusammenschluss zweier konkurrierender Firmen praktiziert. Deren Verbreitung sollte zu den Kartellierungseffekten führen, die später in der Bildung der IG FARBEN ihren bedeutendsten Ausdruck fanden“, stellt die Juristin fest15.

Die Entwicklung dorthin erfolgte peu à peu. Duisbergs weitere juristische „Friedensbemühungen“ führten etwa zu Vereinbarungen mit der Firma LEONHARDT über eine Markt-Aufteilung, die sich für das Unternehmen als äußerst lukrativ erwies. „Sie bot die Möglichkeit, die hohen Verkaufspreise für die roten Substantiv-Farbstoffe fast bis zum Schluss beizubehalten“, jubiliert Duisberg in „Meine Lebenserinnerungen“16. Beim Kongorot und Benzopurin gelang es BAYER und AGFA sogar, über den Schluss hinaus die hohen Preise beizubehalten, denn nach Ablauf der Patentlaufzeiten stieß 1904 die BASF zu dem Pakt und machte aus dem Duo einen Dreibund. Der BAYER-Manager hätte ihn gerne noch um Pharma-Betriebe wie BOEHRINGER, MERCK, KNOLLE und andere erweitert, diese aber fürchteten die Dominanz der Chemie-Industrie und gründeten 1905 lieber die „pharmazeutische Interessensgemeinschaft“. Im selben Jahr reagierten HOECHST und CASSELLA auf das Triumvirat der Konkurrenz und gingen eine Kooperation ein, der sich 1907 noch KALLE anschloss.

Bereits bis 1897 hatten sich allein im Chemie-Bereich 82 dieser Verbünde gebildet, in anderen Branchen vollzog sich – etwa mit dem Glühlampen-Kartell von SIEMENS, AEG und AUER – Ähnliches. Immer kam es dabei zu Preisabsprachen und zu einem Austausch von Lizenzen und Patenten, die sich nach Ansicht des Juristen Fritz Rathenau auf diese Weise zu einem „‚Monopol der Monopole’ und damit zu einem Patent auf die Industrie als solche“ entwickelten17. Das rief kurzzeitig auch die Politik auf den Plan. Eine Enquête-Kommission startete auf Geheiß der Reichsregierung eine Untersuchung, bemühte sich dabei jedoch, den Interessen von BAYER & Co. nicht zuwiderzuhandeln. „Es war nicht ganz falsch, wenn man von ihr sagte, es sei jedenfalls eher eine Enquête für als gegen die Kartelle gewesen“, urteilte der zeitgenössische Ökonom Gustav Schmoller18. Als „Kinder der Not“ bezeichnete der Reichstag die Fusionen barmherzig und ließ die „armen Kleinen“ gewähren. Nicht zuletzt das ermutigte Carl Duisberg 1925 dazu, noch einen Schritt weiter zu gehen und mit AFGA, BASF und HOECHST die IG FARBEN zu gründen. So führte er das Kartell in ein Syndikat über, das auch den Einkauf von Rohstoffen und den Vertrieb der Produkte zentral regelte. Damit entstand der größte Konzern Europas und das größte Chemie-Unternehmen der Welt, das seine Macht später unverfroren in den Dienst des Nationalsozialismus stellen sollte.

Nach 1945
Ein solches Monopol machte Patent-Fragen obsolet. Diese kamen erst wieder mit der Entflechtung der IG FARBEN nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Tagesordnung. Im Mittelpunkt stand dann einmal mehr der Stoffschutz für chemische Produkte. Da sich inzwischen die Herstellungsmethoden von Arzneimitteln geändert hatten und die neuen Synthese-Verfahren die Produktionsarten vervielfältigten, boten Patente auf technische Prozesse nicht mehr ausreichend Schutz vor Nachahmungen. Deshalb plädierten nun auch BAYER & Co. für Schutztitel auf die Substanzen selber; 1967 erfüllte der Gesetzgeber ihnen diesen Wunsch. Ein zweiter ging dann 1978 in Erfüllung: Der Bundestag verlängerte die Patentlaufzeiten für Pharmazeutika wegen der angeblich so langen Test- und Zulassungsprozeduren auf 20 Jahre. Und 20 Jahre später erlaubte die EU den Multis mit ihrer Richtlinie über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen schließlich sogar, Patente auf Leben anzumelden.

Vom rücksichtslosen Ideen-Klau bis zu einer Inanspruchnahme von Verwertungsrechten an Pflanzen und Tieren, vom Suchen nach Auswegen aus der „Patent-Mausefalle“ bis zu Klagen im Dutzend-Pack gegen vermeintliche Verletzer eigener Schutzrechte, vom Dringen auf Patent-Ausnahmen für die chemische Industrie bis zum Eintreten für einen „zuverlässigen weltweiten Schutz seines geistigen Eigentums“ reicht die wechselvolle Beziehung von BAYER zu Patent-Regelungen also. Und das Gesetz stand dem Leverkusener Multi dabei stets hilfreich zur Seite.

Literatur
1Eric Verg; Meilensteine; Hg.: BAYER, Leverkusen 1988; S. 55
2ebenda; S. 20
3 zit. Nach Margrit Seckelmann; Industrialisierung, Internationalisierung und Patentrecht im Deutschen Reich; Frankfurt 2006; S. 32
4ebenda; S. 32
5ebenda; S. 187
6Fleischer, Arndt; Patentgesetzgebung und chemisch-pharmazeutische Industrie im deutschen Kaiserreich (1871-1918); Stuttgart 1984, S. 83
7ebenda: S. 76
8ebenda; S. 134
9Carl Duisberg; Meine Lebenserinnerungen; Leibzig 1933; S. 37
10Seckelmann; S. 10
11Meilensteine; S. 60
12André Gorz; Wissen, Wert und Kapital; Zürich 2004; S. 46
13Seckelmann; S. 330
14Duisberg; S. 46
15Seckelmann; S. 238
16Duisberg; S. 47
17zit. nach Seckelmann; S. 241
18zit. nach Walter Wilhelm; Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert; Band 4; S. 278