Parkinson-Kranke geschädigt
BAYERs Arzneitest-GAU
Im Jahr 2005 kam es bei Arznei-Tests mit Parkinson-Kranken, die der nun zu BAYER gehörende Pharma-Multi SCHERING in Kooperation mit dem Unternehmen TITAN in den USA durchführte, zu ernsthaften Zwischenfällen. Die per gehirnchirugischem Eingriff implantierten Zellen zur Dopamin-Produktion verursachten bei den ProbandInnen Verwirrtheitszustände, Depressionen bis zu Selbsttötungsversuchen, Lähmungserscheinungen, Sprachausfälle, epileptische Anfälle, Hirnblutungen, Asthma und andere körperliche oder geistige Beeinträchtigungen. Die dauerhaft geschädigte Suzanne Davenport hat deshalb Klage gegen den Leverkusener Agro-Riesen eingereicht.
Von Jan Pehrke
Chronisch kranke Menschen müssen mit einem hohen Leidensdruck leben. Sie haben oft schon eine Odyssee durch diverse schul- und alternativmedizinische Praxen hinter sich, saugen begierig Meldungen über wissenschaftliche Fortschritte auf und klammern sich an jeden Strohhalm. Parkinson-Erkrankten etwa machte SCHERING große Hoffnungen. „In einer ersten Studie, die Daten aus drei Jahren Beobachtung umfasste, zeigten alle sechs Patienten eine lang anhaltende Verbesserung ihrer Parkinson-Symptome um durchschnittlich beinahe 50 Prozent“, meldete das Berliner Unternehmen über Versuche mit SPHERAMINE in seinem Geschäftsbericht von 2004. In den Fachzeitschriften erschienen entsprechende Artikel, das „Kompetenznetz Parkinson“ verbreitete die frohe Kunde und die US-Gesundheitsbehörde FDA votierte wegen der guten Therapie-Aussichten für ein beschleunigtes Versuchsverfahren. Da war es für den seit 2006 zu BAYER gehörenden Pharma-Riesen ein Leichtes, aus diesem Personenkreis ProbandInnen für die zweite Phase der Klinischen Tests mit dem Biotech-Medikament zu gewinnen.
Dabei handelte es sich um alles andere als einen „normalen“ Arznei-Test. Die TeilnehmerInnen hatten sich einer richtigen Operation zu unterziehen, bei der die ChirurgInnen ihnen von Organspendern stammende Augenzellen zur Anregung der Dopamin-Produktion ins Gehirn einpflanzen wollten. Aber diese Aussicht schreckte sie ebenso wenig ab wie das Verbot solcher Unterfangen in Europa, wo ein Studien-Design, das Angehörigen der Placebo-Gruppe sinnlose Operationen zumutet, nicht die Gnade der Genehmigungsbehörden findet.
Ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten musste SCHERING im Jahr 2005 die zwei bundesdeutschen Probanden deshalb extra fliegen, und diese konnten es kaum erwarten. „Endlich, nach einem Jahr kam das Signal:Es geht los“, schildert einer von ihnen im Parkinsonline-Forum seine Reaktion. Auch die vorläufige Absage seines OP-Termins wegen erheblicher Komplikationen nach einem Versuch mit dem SCHERING-Präparat in Tampa macht den Parkinson-Kranken nicht misstrauisch; er reagiert erleichtert auf die Entscheidung der Ethik-Kommission, grünes Licht für die Fortsetzung der Testreihe zu geben. Nicht einmal das Schicksal seines bundesdeutschen Leidensgenossen, der nach der Einsetzung der Dopamin-Zellen Halluzinationen und Depressionen bekam, in jedem einen potenziellen Mörder sah und im Bett fixiert werden musste, ließen bei dem „Parki“, wie er sich selbst nennt, Zweifel aufkommen. Ihm blieben dann ähnliche Leiden glücklicherweise erspart – seinen Kopf öffneten die MedizinerInnen nur „pro forma“, weil er der Kontrollgruppe angehörte.
Seine sehnlich erwünschten SPHERAMINE-Kulturen pflanzten die ÄrztInnen ihm und den anderen „Placebos“ erst später ein. „Das heißt für mich, und das ist vertraglich abgesichert, nach Ablauf der Studie noch mal hin, und dann natürlich garantiert mit Zellen wieder zurück. Dazu nehme ich die nicht unbedeutenden Risiken in Kauf. Ich hoffe, ich habe Euch allen ein bisschen Mut gemacht“, schließt er seinen Forumsbeitrag.
Auf einer anderen Parkinson-Website stellt ein Patient ähnlich unkritisch dar, was bei den SPHERAMINE-Tests in Tampa geschah. Bevor er die von den MedizinerInnen für die US-Gesundheitsbehörde FDA angefertigte vorläufige Studien-Auswertung präsentiert, die auf den Daten von 55 der 68 TeilnehmerInnen basiert und bei 10 Personen ernsthafte Nebenwirkungen dokumentiert, schreibt er: „Wie bei allem werden auch hier einige nur das Negative sehen und andere die Zukunft“. Wer allerdings nach den ellenlangen Passagen über Verwirrtheitszustände, Depressionen bis zu Selbsttötungsversuchen, Lähmungserscheinungen, Sprachausfälle, epileptische Anfälle, Hirnblutungen, Asthma und anderen körperliche oder geistigen Beeinträchtigungen in SPHERAMINE noch einen Heilsbringer sehen kann, bleibt schleierhaft. Die von SCHERING und TITAN engagierten ÄrztInnen allerdings glauben nach wie vor an „goldene Zeiten“. „Die Stärke und Häufigkeit dieser ernsthaften Nebenwirkungen entsprechen den Komplikationen, die nach dieser Art der Intervention normalerweise zu erwarten waren“, bagatellisieren sie die Vorkommnisse. Die als „nicht ernsthafte Ereignisse“ verbuchten Fälle von Brechreiz, Muskelzuckungen, Gleichgewichtsstörungen, Kopfschmerzen, Halluzinationen, Depressionen und Verwirrtheitszustände betrachten sie ebenfalls als Test-Business as usual.
Nur einen Fall vermochten die VersuchsleiterInnen beim besten Willen nicht kleinzureden. Nachdem sich bei der 69-jährigen Suzanne Davenport die „erwartbaren“ Nebenwirkungen wie Verwirrtheitszustände und Bewegungsstörungen scheinbar gelegt hatten, verschlechterte sich ihre geistige und körperliche Verfassung auf Dauer so gravierend, dass sie in ein Pflegeheim musste und auf einen Rollstuhl sowie auf künstliche Ernährung angewiesen ist. Das hatten die TesterInnen nicht erwartet. Und weil nicht sein kann, was nicht sein darf, musste „das bisschen Hirnchirurgie“ für die MedizinerInnen mit einer solch krassen Verschlechterung des Allgemeinzustandes nicht unbedingt etwas zu tun haben. „Der kausale Zusammenhang dieser Degenerationserscheinungen mit der SPHERAMINE-Behandlung ist unklar“, heißt es in ihrem Bericht.
Suzanne Davenport leidet seit 1989 an Parkinson. Lange Zeit konnte die ehemalige Kindergärtnerin mit der Krankheit relativ gut leben. Aber im Jahr 2003 verschlechterte sich ihr Befinden. Sie begab sich wieder in ärztliche Behandlung, und im Frühjahr 2004 machten ihr NeurologInnen von der University of California in Los Angeles den Vorschlag, an der vorklinischen Erprobung von SPHERAMINE teilzunehmen, das sich in ersten Studien als vielversprechend erwiesen habe. In der Hoffnung auf Linderung ihres Leidens willigte Davenport ein und begab sich am 14. Januar 2005 ins General Hospital von Tampa. „Nach dem Eingriff war sie nicht mehr dieselbe Person“, schreibt Sarah Rubenstein vom Wall Street Journal, „sie konnte nicht länger aufrecht in einem Stuhl sitzen und nicht mehr gehen (…) Sie brauchte eine Windel und behielt ihren Mund ständig offen“.
Suzanne Davenport war zu einem Pflegefall geworden. Ihre Angehörigen kümmerten sich aufopferungsvoll um sie, aber irgendwann wuchs ihnen die Rundum-Betreuung über den Kopf. Im September 2005 beschlossen ihr Ehemann Jim und Tochter Julie deshalb schweren Herzens, Suzanne Davenport in einem Altersheim pflegen zu lassen. 700 Dollar musste Jim Davenport für den Platz monatlich zuzahlen, den Rest und die Aufwändungen für die ärztliche Versorgung – bis heute über 100.000 Dollar – übernahm die US-amerikanische Gesundheitsfürsorge „Medicaid“. Nach Meinung von Julie Languille sollten aber SCHERING und TITAN für diese Kosten aufkommen, denn das hatte das Unternehmen vor Beginn der Studie zugesichert. „Wenn Sie als eine direkte Folge der Forschungsprozeduren gesundheitliche Schäden davontragen, erhalten Sie eine kostenlose medizinische Betreuung“, lautete der entsprechende Passus in dem Vertrag.
In einem Brief gab sich der bei TITAN für die Klinische Entwicklung zuständige Wissenschaftler Dr. Dimitri Lissin dann auch einsichtig. „Ich nehme zur Kenntnis, dass sich die Symptome ihrer Mutter während der Teilnahme an der Studie (…) verschlimmert haben“, schrieb Lissin. Ob das dem Fortschreiten der Krankheit oder der Behandlung mit SPHERAMINE geschuldet war, stand für ihn zwar nicht fest, er versicherte Julie Languille aber, eine mögliche Entschädigung zu prüfen. Die Rechtsabteilung sei schon eingeschaltet, so Lissin.
Das verunsicherte Suzanne Davenports Tochter, die auf eine schnelle, unbürokratische Einigung gehofft hatte. Sie wendete sich nun ihrerseits an einen Anwalt. Stephen Pappas prüfte den Fall und verklagte SCHERING, TITAN und die Universität von Kalifornien auf Schadensersatz in Höhe von fünf Millionen Dollar. Nach der Übernahme SCHERINGs mussten sich BAYERs JuristInnen mit der Sache befassen. Der Pharma-Riese „habe Anstrengungen unternommen, um zu versuchen, eine Einigung über eine irgendwie geartete Entschädigung für Frau Davenports Pflege zu erzielen“, antwortete der Konzern auf Nachfrage des Wall Street Journal in aller Undeutlichkeit. Für die fünf Millionen Dollar müsste der Global Player dabei eigentlich keine besonderen Anstrengungen unternehmen, aber mit dem Zahlungsgrund hat der Konzern Probleme: Es darf nämlich keinen geben, weil das einem Schuldeingeständnis gleichkäme. Und so wird BAYER wohl nur zahlen, wenn die Gegenseite der Unternehmenssicht der Dinge zustimmt, nach der es „nicht erwiesen ist“, dass SPHERAMINE den Krankheitsschub auslöste. Dazu scheint diese bereit zu sein. Laut BAYER steht ein Vergleich unmittelbar bevor.
Dabei sieht der Pharma-Riese selber die SPHERAMINE-Untersuchungen als nicht ganz unheikel an. „Wenn chirurgische Interventionen nötig sind, stehen kontrollierte, günstigstenfalls Placebo-kontrollierte Studien vor der Herausforderung, eine Balance zwischen ethischen und wissenschaftlichen Erfordernissen zu finden“, trug Dr. Elke Reissig von BAYERs SPHERAMINE-Studiengruppe im letzten Jahr in Berlin auf einem NeurologInnen-Kongress vor. Aber die Vorkommnisse in Atlanta und Tampa störten dieses Gleichgewicht offenbar nicht nachhaltig. Der Konzern kündigte an, im Jahr 2009 mit großflächigen SPHERAMINE-Tests zu beginnen.
Staatlich beauftragte Arznei-PrüferInnen haben da offensichtlich ein anderes Moralempfinden. So stoppten sie unlängst eine Studie mit Diabetes-Präparaten vom Leverkusener Multi und anderen Herstellern. Diese wollte prüfen, ob BAYERs PRECOSE und weitere Mittel in einer hohen Dosierung lebensverlängernd wirkten, erbrachte aber das gegenteilige Resultat. In der entsprechenden Gruppe starben deutlich mehr PatientInnen als in derjenigen mit der Standardtherapie, woraufhin die Forschungsleiter die Erprobung vorzeitig beendeten.
Solche Zwischenfälle häufen sich, weil ständig mehr Studien stattfinden. Die Börse straft Pillen-Produzenten ohne aussichtsreiche Neuentwicklungen in der „Pipeline“ gnadenlos ab, und so testen sie, was das Zeug hält. Von 40.000 im Jahr 2000 auf 59.000 im Jahr 2006 stieg die Zahl der Untersuchungen. Die zunehmenden Experimente mit bio- oder genmedizinischen Therapieformen erhöhen das Risiko zusätzlich, denn die Wirkungsweise von SPHERAMINE und ähnlichen Präparaten ist schwieriger vorherzusehen als diejenige von synthetisch hergestellten Medikamenten. Schlagzeilen machte im letzten Jahr die Erprobung eines monoklonalen Antikörpers an acht Versuchspersonen in England, bei der alle sechs Nicht-Placebo-ProbandIinnen einen lebensgefährlichen Immunschock erlitten, an deren Spätfolgen ein Tester wenige Monate später starb.
Diese Vorfälle bewogen die EU, ein neues Reglement für solche Studien vorzubereiten. Diese „Richtlinie über Strategien zur Identifizierung und Minderung von Risiken bei Phase-1-Studien mit experimentellen mediznischen Produkten“ rief sofort die Global Player auf den Plan. Nicht weniger als 58 Eingaben mit Verwässerungsvorschlägen von Einzelunternehmen oder Pharmaverbänden erhielt die Europäische Arzneimittelagentur EAMA. Die auch BAYER zu ihren Mitgliedern zählenden Gentech-Verbände „EuropaBio“ und „European Biopharmaceutical Enterprises“ etwa machten sich Sorgen um den medizinischen Fortschritt, wenn auf ihren Labor-Hervorbringungen der „Hochrisiko-Stempel“ pappt und plädierten dafür, bloß von einem höheren statt von einem hohen Risiko zu sprechen. Wie immer zeigte sich die EU aufgeschlossen für die Änderungswünsche und überarbeitete ihren Entwurf. Auch wenn die EAMA verfügte, die Anfangsdosis der Testsubstanzen zu senken und sie immer nur einer Testperson zur Zeit zu verabreichen, dürfte der „medizinische Fortschritt“ deshalb auch in Zukunft noch so einige Opfer wie Suzanne Davenport kosten.