BAYERs geliebte Pillen-Waisen
Goldgrube „Orphan Drugs“
Seit einiger Zeit stürzen sich BAYER & Co. auf die Entwicklung von Medikamenten für seltene Krankheiten. Solche „Orphan Drugs“ brauchen nämlich nicht den ganzen langwierigen Zulassungsprozess zu durchlaufen. Und noch andere Vergünstigungen winken. Mit der Wirksamkeit der Pillen-Waisen steht es allerdings nicht zum Besten.
Prof. Dr. Gerd Glaeske (Pharmakologe)
Immer noch gibt es viele seltene Krankheiten, für die kaum wirksame Behandlungsoptionen bestehen – Schätzungen sprechen von 6.000 bis 8.000. Gemäß der Definition leiden an einer seltenen Erkrankung (auch Orphan/Rare Disease) maximal fünf Menschen pro 10.000 EinwohnerIn, in der EU also etwa 30 bis 40 Millionen Menschen. Seltene Krankheiten sind zu rund 80 Prozent genetisch bedingt, das bekannteste Beispiel ist die Mukoviszidose.
Um Betroffene besser zu versorgen, wird seit dem Jahr 2000 EU-weit die Forschung pharmazeutischer Unternehmen in diesem Bereich durch regulatorische und ökonomische Anreize gefördert. Eine solche Förderung gibt es auch in den USA, in Australien oder in Japan. Zu den Vorteilen gehören unter anderem ein zehnjähriges Exklusivrecht für die Vermarktung und beschleunigte Zulassungsverfahren für neue Medikamente. Zudem werden Gebühren bei den Zulassungsbehörden erlassen (in Deutschland beim „Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte“), die in den vergangenen fünf Jahren in der EU insgesamt zwischen 9,4 und 13,7 Millionen Euro pro Jahr lagen.
Solche Anreize sollten den „Nachteil“ der eher „übersichtlichen“ Forschungsrenditen wettmachen – schließlich benötigt ja nur eine begrenzte Anzahl von Menschen solche Orphan Drugs, in Deutschland maximal 40.000. Dieser vermeintliche Nachteil hat sich inzwischen allerdings zu einem Vorteil für viele Unternehmen entwickelt, weil auch besonders hohe Preise erzielt werden können: Die Akzeptanz der Gesundheitssysteme für Orphan Drugs ist hoch, weil sie seltene Erkrankungen erstmals behandelbar machen. Es gilt nahezu als „unfein“, in diesem Bereich über Preise zu diskutieren, da es doch um eine Behandlungsoption für PatientInnen geht, vor allem auch für Kinder, die ihrer Krankheit – nicht ausreichend behandelt – bisher ausgeliefert waren.
Der Orphan-Drug-Markt hat sich zu einem lukrativen Segment entwickelt, das Wachstumsraten von rund 7 bis 8 Prozent jährlich verspricht und schon einen Anteil von rund 15 Prozent am weltweiten Arzneimittel-Umsatz erreicht hat. Inzwischen werden Orphan Drugs auch für bestimmte kleine Gruppen von PatientInnen mit onkologischen Erkrankungen entwickelt. Auch hier können pharmazeutische Unternehmen hohe Gewinne erzielen. Laut dem von BAYER gegründeten „Verband der forschenden Arzneimittel-Hersteller“ (VFA) waren im Februar 2018 in der EU 99 Medikamente mit aktivem Orphan-Drug-Status zugelassen. Mehr als die Hälfte betreffen Krankheiten, an denen sogar EU-weit weniger als ein Mensch von 5.000 leidet. Der BAYER-Konzern etwa erhielt die begehrte Zuschreibung für die Lungenhochdruck-Präparate ADEMPAS und VENTAVIS sowie die Krebs-Mittel NEXAVAR, STIVARGA und VITRAKVI.was ist mit dem Nutzen für die PatientInnen? Zwischen 2011 und 2017 durchliefen insgesamt 64 Orphan Drugs das AMNOG-Verfahren, das solche Arznei-Effekte prüft. Dabei wurde bei 33 der Pillen-Waisen zur Behandlung onkologischer und hämatologischer Erkrankungen (Blutkrankheiten, Anm. SWB) kein quantifizierbarer Zusatznutzen gefunden – die Forschung ist wohl doch nicht so erfolgreich, wie es gerne dargestellt wird und wie es die hohen Preise für manche Mittel signalisieren. (Unter anderem fiel BAYERs Leberkrebs-Präparat STIVARGA bei der Prüfung durch. Daraufhin nahm der Leverkusener Multi es in Deutschland vom Markt, weil er wegen des schlechten Zeugnisses Preis-Einbußen hätte hinnehmen müssen, Anm. SWB)
In den USA ist kürzlich ZOLGENSMA, eine Gentherapie der Firma NOVARTIS, auf Basis einer Studie an 15 Kindern zugelassen worden. Damit können Kinder unter zwei Jahren mit Typ 1 der Spinalen Muskelatrophie (ein durch Schädigungen von Rückenmarksnerven verursachter Muskelschwund, Anm. SWB) behandelt werden – betroffen ist eins von 10.000 Kindern. Die Kosten: 2,1 Millionen US-Dollar. Für Deutschland kann man mit etwa 90 bis 100 behandlungsbedürftigen Kindern rechnen, die unbehandelt entweder früh sterben oder ihr Leben lang unter erheblichen Einschränkungen leiden. Dennoch: Wie der Preis zustande kommt, wie hoch die Forschungskosten wirklich waren, welche öffentlichen Institutionen an der Forschung auf Basis von Steuern oder Spenden beteiligt waren, bleibt völlig unklar.
Die Gesundheitssysteme werden weltweit mit immer höheren Arzneimittel-Preisen konfrontiert werden – der Nutzen für die PatientInnen wird in vielen Fällen zweifelhaft bleiben. Wir brauchen dringend gesundheitsökonomische Evaluationen, damit Orphan Drugs nicht zum finanziellen Super-GAU unseres Gesundheitssystems werden.
Erstveröffentlichung in Dr. med. Mabuse, Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe, Nr. 241 (September/Oktober 2019), S. 47, www.mabuse-verlag.de