WOZ vom 28.08.2008
Nanotubes
Die unheimliche Ikone
Kohlenstoff-Nanoröhren gelten als das Wundermaterial der Zukunft. Dabei sind sie voller bislang unaufgelöster Widersprüche.
Wie kaum ein Objekt aus dem Reich der Moleküle symbolisiert die Kohlenstoff-Nanoröhre die grossen Erwartungen, die mit der Nanotechnik verbunden werden. Im Fachjargon kurz «Nanotube» genannt wartet sie mit geradezu fantastischen Eigenschaften auf. Sie ist fester als Stahl, leitet Strom besser als Kupfer und Wärme besser als Diamant. Damit nicht genug: Ein Nanotube hat mitunter auch die Eigenschaften eines Halbleiters, auf der die heutige Computertechnik aufbaut. Kein Wunder, dass die ForscherInnenherzen angesichts dieser Entdeckung höher schlugen.
Das lang gestreckte Molekül verdankt seine Eigenschaften seiner ungewöhnlichen Struktur, die der Miniaturausgabe eines aufgerollten Maschendrahtzauns ähnelt: Es besteht aus zu Röhren aufgerollten Schichten von Kohlenstoffatomen, die in regelmässigen Sechsecken angeordnet sind. Die hübsche geometrische Anordnung ist zu einer Ikone der Nanotechnik geworden und ziert Buchumschläge und Konferenzplakate gleichermassen. Eine Ikone ist die Nanoröhre allerdings auch in einem anderen Sinne: Sie verkörpert die Widersprüche der Nanotechnik wie kein anderes Material.
Wann wurde sie nun entdeckt?
Das beginnt schon mit der Geschichte ihrer Entdeckung, die ganz unterschiedlich datiert wird, wenn auch diese Diskussion in den Hochglanzbroschüren zur Nanotechnik kaum auftaucht. Die Frage ist nämlich, wie neu diese Nanoröhren wirklich sind – und ob es sich bei vielen Forschungsprojekten mit dem Etikett «Nano» nicht um modische Umbenennungen handelt, um leichter an Forschungsgelder heranzukommen.
Die Entdeckung der Kohlenstoff-Nanoröhren wird meist ins Jahr 1991 datiert, als der japanische Chemiker Sumio Iijima sie im Wissenschaftsjournal «Nature» der Fachwelt präsentierte. Die Röhren waren aber schon in den fünfziger Jahren wiederholt aufgetaucht, als ForscherInnen Rückstände untersuchten, die sich bei einer elektrischen Bogenentladung aus Grafit gebildet hatten – jener Kohlenstoffform, die in Bleistiften vorkommt oder als Schmiermittel genutzt wird. 1976 entdeckte und beschrieb der Japaner Morinobu Endo das längliche Ding. Das Konzept der Nanotechnik existierte damals noch nicht, auch wenn der Begriff zwei Jahre zuvor erstmals in einem Fachartikel verwendet wurde. In den achtziger Jahren formulierten verschiedene ForscherInnen dann die Idee einer Technik im molekularen Massstab. Doch erst 1991 war offenbar die Zeit reif, die langen Moleküle als mögliche technische Objekte zu begreifen.
Im Übrigen entdeckten Wissenschaftler der Technischen Universität Dresden im Jahr 2006 in alten Schwertern aus sogenanntem Damaszener Stahl Nanotubes. Seit langem ist bekannt, dass Stahl seine Festigkeit der geringfügigen Beimischung von Kohlenstoff verdankt. Offenbar hatten die Schmiede des mittelalterlichen Orients unwissentlich beim Schmiedevorgang Nanoröhren erzeugt, die dem Damaszener Stahl seine legendäre Härte verliehen haben muss.
Noch lange nicht bereit
Heute werden Nanoröhren bereits in zahlreichen Industrieprodukten genutzt. Als Zusatz machen sie etwa die Elektroden von Laptopakkus leistungsfähiger oder Fahrradrahmen und Tennisschläger bei gleichem Gewicht stabiler. Mischt man sie in Kunststoffe, werden diese elektrisch leitfähig und eignen sich damit für Plastikumhüllungen, die sich nicht mehr elektrostatisch aufladen, wodurch ein Funkenflug verhindert wird. Das nutzt etwa die Autoindustrie, indem sie Benzinleitungen von Autos nun aus solch sichereren Kunststoffen fertigt.
Während diese Anwendungen bereits Standard sind, erweist sich der Einsatz von Nanotubes in anspruchsvolleren Konzepten als schwierig. Zum Beispiel in der Elektronik: 1998 war es dem niederländischen Physiker Cees Dekker erstmals gelungen, aus einer halbleitenden Nanoröhre einen Transistor zu bauen – den Grundbaustein von Computerchips. Nun haben einzelne Nanotubes einen Durchmesser von nur einem Nanometer, also einem Millionstel Millimeter, und sind damit nur einen Bruchteil so gross wie die Bauteile heutiger Computerprozessoren. Wäre es also möglich, mit Nanotubes Computerchips zu bauen, liesse sich ein Problem lösen, auf das die Computerindustrie unaufhaltsam zusteuert: Die seit Jahrzehnten anhaltende Verkleinerung von Chips wird – mit der heute gängigen Technik – bald an ihre Grenze stossen.
Noch immer ist eine solche «Nanotube-Elektronik» aber weit von einem marktfähigen Produkt entfernt. Es ist eine Sache, einen einzelnen Nanotubetransistor im Labor zu konstruieren. Eine andere ist es, Hunderte von Millionen solcher Schaltelemente auf einem Chip zu platzieren. Bis heute gibt es kein Verfahren, das es erlauben würde, derart viele Nanoröhren so präzise und vor allem so schnell anzuordnen, wie es mit der gängigen Technik gelingt.
Äusserst reissfeste Nanotubegarne und -folien – geeignet etwa zur Fertigung von besonders leichten schusssicheren Westen – stehen vor ähnlichen Hürden. Zwar lassen sie sich bereits im Labor herstellen. Aber wie überführt man die Verfahren in eine industrielle Massenfertigung? Der Weg von der Idee zur marktreifen Nanoanwendung für ein Millionenpublikum ist noch lang. Und das, obwohl Industrie und Regierungen viel investieren: Im Jahr 2007 waren es bereits 13,5 Milliarden Dollar.
Der neue Asbest?
Umsetzungsprobleme sind das eine – von Nanotubes können aber auch neue Gefahren für Umwelt und Gesundheit ausgehen. Als um das Jahr 2000 die Risiken der Nanotechnik erstmals breiter debattiert wurden, muteten die Warnungen so futuristisch an wie die Verheissungen. In wissenschaftlichen Feuilletons wimmelte es von amoklaufenden Nanorobotern, die den Menschen bedrohen, ja den Planeten kahl fressen könnten – irgendwann in ferner Zukunft. 2002 äusserte der US-Forscher Mark Wiesner dann einen irdischeren Verdacht: Nanotubes könnten sich als der «neue Asbest» entpuppen.
Mit einer Länge von meist einigen Mikrometern – also dem Tausendfachen ihres Durchmessers – ähneln Nanotubes in der Tat Asbestfasern. 2004 zeigte der US-Toxikologe Günter Oberdörster in Versuchen mit Ratten, dass Nanoröhren von der Nasenhöhle über den Riechkolben ins Geruchszentrum des Gehirns vordringen und dort das Hirngewebe schädigen können. Für Schlagzeilen sorgte vor allem eine im Mai dieses Jahres veröffentlichte Studie unter der Leitung des Mediziners Ken Donaldson von der Universität Edinburgh: Sein Team hatte Mäusen Nanotubes in das Gewebe der Bauchhöhle gespritzt, die dort ein «asbestartiges Verhalten» zeigten – sie verursachten Entzündungen und als Granulome bekannte Gewebewucherungen.
Bewiesen ist damit allerdings noch nichts. Nur einen Monat zuvor waren andere ForscherInnen zu einem gegenteiligen Ergebnis gekommen: Sie hatten keine Schädigungen durch Nanotubes in Mäusen entdecken können. Der Molekularbiologe Peter Wick von der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) in St. Gallen präsentierte im vergangenen Jahr eine Untersuchung, in der sein Team verglichen hatte, wie verschiedene Nanotubes respektive Asbestfasern auf Bakterienkulturen wirken. Sein Fazit war nicht eindeutig: Nanotubebündel waren weniger toxisch als Asbestfasern, grosse Nanotubeverklumpungen wirkten hingegen toxischer. Zudem scheinen Verunreinigungen, die im Produktionsprozess der Röhren entstehen, einen Einfluss auf ihre Toxizität zu haben. Eine vergangene Woche vorgestellte Studie von Menachem Elimelech von der Yale University weist überdies darauf hin, dass Veränderungen der Form und der Oberflächenbeschaffenheit die Schädlichkeit von Nanoröhren für Bakterien erhöhen.
Diese Befunde widerspiegeln zwei weitere Probleme, die in der Nanotechnik ungelöst sind. Zum einen hängen die Ergebnisse in der Nanotoxikologie stark von den jeweiligen Versuchsanordnungen ab – für die es noch keine internationalen Standards gibt. Das wird sich kaum ändern, solange die Mittel, die Regierungen für die Nanorisikoforschung ausgeben, nur wenige Prozente der jeweiligen Förderbudgets betragen.
Zum anderen fehlen Qualitätsstandards bei den HerstellerInnen von Nanoröhren, obwohl weltweit inzwischen einige hundert Tonnen produziert werden. Die Kapazitäten werden derzeit beträchtlich gesteigert: Der deutsche Chemiemulti Bayer stellte im vergangenen Jahr dreissig Tonnen Nanotubes her &
- 8201;- ab Ende 2009 sollen bereits 200 Tonnen, 2012 gar 3000 Tonnen im Jahr produziert werden können.
Fünf Studien, mehr Meinungen
Obwohl bereits einige hundert einfache Nanotubeprodukte auf dem Markt sind, gibt es keine einheitlichen Regelungen für Sicherheit und Qualität. Wer hier Bedenken anmeldet, wird auf öffentlichen Veranstaltungen seitens der Industrie gerne als BremserIn abgestempelt. Die Chemikerin Vicki Colvin hatte in einer Anhörung vor dem US-Kongress im vergangenen Jahr Behutsamkeit gefordert: «Wenn Sie etwa fünf Teams die Toxizität von Kohlenstoff-Nanoröhren untersuchen lassen und die kommen dann zu fünf verschiedenen Ergebnissen, ist das zwar schmerzlich für Ihre Forschungsinvestitionen, weil das zu Ungewissheit führt. Das Problem ist aber, dass wir zurzeit deutlich mehr als fünf Meinungen zur Nanotubetoxizität haben.»
In der Debatte über die Risiken von Nanomaterialien tritt zudem der schon erwähnte Streit zutage, wie neuartig die Nanotechnik denn nun wirklich sei. Kohlenstoff-Nanoteilchen gebe es als Verbrennungsprodukte, seit der Mensch Feuer mache, die potenziellen Risiken würden unnötig aufgebauscht. So argumentieren dieselben Leute, die sonst betonen, wie einzigartig und innovativ ihre Nanoprodukte seien. Tatsächlich entwickelt die Nanotechnik gerade Materialien, die es so bisher nicht gegeben hat – weder in der Industrie noch in der Natur.
Auf LaiInnen kann das Bild, das sich aus diesen Widersprüchen abzeichnet, nur verwirrend wirken. Die gesellschaftliche Debatte über einen verantwortungsvollen Umgang mit der neuen Nanotechnik jedenfalls kommt nur langsam in Gang – in Deutschland etwa in Form von öffentlichen Dialogen und Bürgerforen. Angesichts der Zahl von Nanoprodukten, die bereits auf dem Markt sind, hinkt sie schon jetzt hinterher. Von Niels Boeing