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Nachruf

Marius Stelzmann

Ein Urgestein des Klassenkampfes

Ein gemeinsamer Nachruf auf Toni Kilger/München

von Hans See
(Gründer und Ehrenvorsitzender von Business Crime Control/BCC) 

und Axel Köhler-Schnura
(Gründer der Coordination gegen Bayer-Gefahren (CBG) und der Stiftung ethecon) 

Toni Kilger, geboren am 10. Juli 1941, ist im Februar 2025 in München gestorben. Er war schon lange krank, litt an einer behandelbaren Form der Leukämie, hat sich aber niemals von seinen vielfältigen kapitalismuskritischen und friedenspolitischen Engagements abbringen lassen. Toni war nicht nur langjähriges Mitglied und aktiver Unterstützer der vielfältigen Aktivitäten und Aktionen von Business Crime Control (BCC) gegen Wirtschaftsverbrechen und lebenslanger Friedensaktivist. Neben seinen ungezählten anderen Engagements war er auch bundesweit z. B. aktiv beim Dachverband der Kritischen Aktionäre, Mitglied der Coordination gegen BAYER-Gefahren (CBG) und Zustifter der ersten Stunde bei ethecon Stiftung Ethik & Ökonomie. 

In seiner geliebten Heimatstadt München stand der Sozialdemokrat Kilger unbeirrt in der Tradition der „Münchner Räterepublik“ und war stadtbekannt dafür, dass er bei jeder Demonstration gegen von Konzernen und Kapital zu verantwortende Verbrechen präsent war. Bei allem aber fraß die meiste Zeit die „ewige“ Auseinandersetzung mit seiner Partei, der SPD, der er trotz ihrer permanenten Verbürgerlichungspolitik und Trends nach rechts – ohne selbst dabei mitzumachen – zeitlebens die Treue hielt. Den „rechtsabweichlerischen Genossen“ hat er aber immer wieder die Leviten gelesen. Toni war auch – „seit er denken kann“ – Gewerkschafter, Mitglied der Deutschen Postgewerkschaft, dann auch der Gewerkschaft ver.di, in der die PDG aufgegangen ist.

Er war kein Spalter, sondern ein Brückenbauer. Ohne jedwede Berührungsangst arbeitete er mit Linken aller Couleur und auch mit progressiven politischen Kräften des bürgerlichen Lagers zusammen. Die gemeinsame Kraft, der Traum von der demokratischen Entmachtung des Kapitals, waren für ihn die Leitlinie und das Verbindende. Meinungsverschiedenheiten haben ihn nie daran gehindert, bei der Durchsetzuung sozial-, friedens- und umweltpolitischer Ziele die Zusammenarbeit fortzusetzen. Der Antifaschismus gehörte zu seinen politischen Grundwerten.

Beruflich hatte Toni es geschafft, vom stressigen Mittleren Dienst bei der Post über den Zweiten Bildungsweg und ein Jurastudium bis zum Postoberrat aufzusteigen. Trotzdem ist er überzeugtes Mitglied der Post-Gewerkschaft und ver.di geblieben, ein Mitstreiter seiner Klasse geblieben. Selbstverständlich war er auch aktiver Widerstandskämpfer gegen die Privatisierung des Unternehmens unter der Regierung Kohl. Und immer tief verwickelt in die ständigen Kämpfe um Löhne, Arbeitsbedingungen und sichere Arbeitsplätze. Er war kein Mann der oberflächlichen Parolen. Er war erfahren und belesen, und er kannte die Grundlagen seiner politischen Positionen in- und auswendig. 

Da blieb es nicht aus, dass die Material- und Bücherberge in Tonis Wohnung immer umfangreicher wurden. Abhilfe konnte erst geschaffen werden als er – schweren Herzens – endlich alles an das „Archiv der Münchner Arbeiterbewegung“ vermachte. Im Internet findet man dazu folgende Information: „Die Auseinandersetzung um die Postprivatisierung 1987–1995 kann in unserem Archivbestand, ‚Vorlass Toni Kilger‘und den lokalen Protokollen der Deutschen Post Gewerkschaft (DPG) Südbayern nachvollzogen werden. Die Standorte der Bestände sind DPG Südbayern (37.8 und 37.9) und Vorlass Toni Kilger zur Postreform (35.9). Hier finden sich Zeitungsartikel, Stellungnahmen der Parteien und viele interne Veröffentlichung der Deutschen Postgewerkschaft.“

Das war ein Kampffeld, auf dem sich Toni – wenn auch letztendlich ohne Erfolg – mit aller Kraft engagierte. Ein Herzensanliegen war ihm immer auch der Kampf gegen die Kriegs- und Rüstungspolitik im Allgemeinen und speziell gegen die NATO-„Sicherheitskonferenzen“ in München. Seine Unterschrift findet sich auf vielen Friedensresolutionen und Flugschriften, oft neben Persönlichkeiten wie Konstantin Wecker und Conrad Schuhler. 

BCC-Mitglied wurde Toni, als ich, Hans See, ihn in Kassel auf einem „Friedenspolitischen Ratschlag“ kennenlernte. Unter anderem kritisierte ich dort die Aufrüstungs- und Militärpolitik, auch der SPD, die sich damals immer noch damit brüstete, dass ihr berühmter Vorsitzender, der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt, den Friedensnobelpreis erhalten hatte. Was Toni besonders interessierte, war meine These, dass Waffenhandel eine Domäne der kriminellen Ökonomie und ein von der Friedensbewegung leichtfertig übersehener, dennoch zentraler und wirkungsmächtiger Krisen- und Kriegsfaktor ist. 

Toni hat mich regelmäßig per Telefon, eMail oder Briefpost über viele seiner Aktivitäten auf dem Laufenden gehalten. So hat er mir in diesem Zusammenhang in einer eMail die Kopie seines Briefes an den SPD-Bundestagsabgeordneten Michael Roth übermittelt, den ich hier öffentlich zugänglich mache, weil er Biographisches und Politisches knapp und authentisch schildert und so einen Einblick in sein Leben gewährt. Er schrieb:

Lieber Herr Roth,
ich habe wie Sie auch Kriegsdienst verweigert und in Hessisch-Lichtenau Ersatzdienst gemacht (Okt. 1964 – März 1966). Ich bin seit 1970 Mitglied der SPD, aus der ich schon längst hätte austreten müssen, aber es dann doch wieder nicht getan habe als ehemaliger Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung. Allerdings anders als Sie kann ich nicht vergessen, daß die SPD eine Politik gemacht hat und noch macht, die das Gegenteil dessen ist, was ich erwartet hätte. Die SPD ist heute nicht nur der beste Verbündete der Bundeswehr (unterstützt nahezu alles, was die Militärs wollen) und unterstützt über das sog. Verteidigungsbündnis NATO auch alle Kriege, die auf Wunsch der NATO (= USA) geführt werden „müssen“(?), obschon sie weiß, daß der Krieg ein Verbrechen ist (so auch schon Willy Brandt) und kein Mittel der Politik sein darf. Wie man davon reden kann, daß die SPD Friedenspolitik macht, ist mir unter diesen Umständen schleierhaft. Und Sie wundern sich immer noch, daß die SPD von immer weniger Menschen gewählt wird – ich nicht! Gruß Toni Kilger

Nachdem Toni Mitglied von Business Crime Control geworden war, fehlte er auf keiner unserer Tagungen und Konferenzen. Oft kam er zusammen mit seiner ebenfalls friedenspolitisch aktiven und schon lange vor ihm verstorbenen Frau Ursula. Wir, die Verfasser dieses Nachrufs, trafen die beiden immer wieder auf Demonstrationen für Frieden und Abrüstung, soziale Gerechtigkeit und eine antirassistische Willkommenskultur. Es blieb also nicht aus, dass sich im Lauf der Zeit eine enge Freundschaft zu beiden entwickelte und ich, Hans See, die beiden zu meinem 80sten Geburtstag einlud. In einer seiner letzten eMails machte Toni mich auf einen kritischen Beitrag des Friedenpolitikers Jürgen Rose zum überraschenden Rückzug der USA aus Afghanistan aufmerksam. 

Unsere letzte persönliche Begegnung fand im September 2021 in München statt. Dorthin hatte mich die ehemalige Rechtsanwältin des Justiz-Opfers Gustl Mollath, Erika Lorenz-Löblein, im Namen der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ) zu einem Vortrag über Wirtschaftsverbrechen eingeladen, bei dem Toni natürlich nicht fehlen durfte. Wir nutzten die Gelegenheit zu einem gemeinsamen Essen in seinem Lieblingsrestaurant, wo ihn die Kellner freundlich wie einen alten Bekannten begrüßten. 

Tonis Freund Prof. Franz Kohout, den ich nach meinem Münchner Vortrag dort kennenlernte und dessen Buch über „Austeilende Ungerechtigkeit“ ich später rezensierte, war es, der mich noch am Todestag Tonis anrief und mir mittteilte, dass unser Freund am frühen Morgen gestorben sei. Tonis Tod ist nicht nur für uns als seine Freunde, sondern auch für BCC und ethecon, eigentlich für alle Organisationen und Aktionen, besonders für die linke Friedensbewegung, ein herber Verlust. Die jüngeren Generationen, denen er immer Vorbild sein wollte und war, werden – daran glaubte er fest, und wir hoffen das auch – über kurz oder lang die Lücken schließen, die wir Alten naturgemäß hinterlassen. 

Hans See & Hildegard Waltemate
Christiane Schnura & Axel Köhler-Schnura

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