30 Jahre Bhopal
„Es wird immer schlimmer“
Am 3. Dezember 2014 jährt sich der Tag der Katastrophe von Bhopal zum dreißigsten Mal. In einem Pestizid-Werk von UNION CARBIDE explodierten damals 25 bis 40 Tonnen der Chemikalie Methylisocyanat und bildeten eine Gaswolke, die sich über das Fabrik-Gelände und das anliegende Elendsviertel legte. Allein die sogenannte „Nacht des Massakers“ forderte 8.000 Menschenleben. Insgesamt starben etwa 20.000 InderInnen. Und noch immer fordert das Desaster Opfer, denn Sanierungsarbeiten fanden nicht statt. Anabel Schnura, Tochter von CBG-Vorstand Axel Köhler-Schnura, hat in einer Bhopaler Klinik ein dreimonatiges Praktikum absolviert und gibt Auskunft über die aktuelle Situation vor Ort.
Wo genau hast Du dein Praktikum gemacht?
Anabel Schnura: In Bhopal, in der „Sambhavna Trust Clinic“, die die Opfer von UNION CARBIDE behandelt. Sie betreut aber nicht nur die Leute vor Ort, sondern kämpft auch immer noch dafür, dass etwas passiert und die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden.
Die Klinik ist nur für die Bhopal-Opfer?
Ja, 29.000 sind dort registriert.
Es kommen immer noch neue dazu?
Ja, dadurch, dass es sich in den Genen festgesetzt hat und dass das Grundwasser verseucht ist. Heute sind es die Nachfolge-Generationen, die Probleme haben. Es sind größtenteils Atem-Probleme, Lungen-Probleme. Es gibt aber auch Fälle von Krebs und Blindheit.
Wie sah deine Arbeit konkret aus?
Wir haben mit den Health Workern zusammengearbeitet. Sie sind immer in die umliegenden Communities und Slums gegangen, um Aufklärungsarbeit zu machen für die Menschen vor Ort, die es nicht schaffen, in die Klinik zu kommen. Sie warnten sie unter anderem davor, das Wasser zu trinken und malten ihnen aus, was dann passieren kann: Hautausschläge und anderes.
Es gab nie Bestrebungen, die Böden zu reinigen und das Gelände insgesamt zu sanieren?
Nein, es sieht dort seit 30 Jahren noch genauso aus wie in der Nacht selber. Da wurde nichts gereinigt, da stehen immer noch die Chloroform-Flaschen herum, und direkt daneben die Slums. Und jetzt im Mai waren Wahlen, da durfte niemand das Gelände betreten, weil es immer noch zur Diskussion steht, was da jetzt passieren soll.
UNION CARBIDE hat auch nichts gemacht?
Das Unternehmen hat kleine Schadenersatz-Zahlungen geleistet, aber wirklich geschehen ist nichts. 2001 wurde UNION CARBIDE dann verkauft. Es gehört jetzt zu DOW CHEMICAL, und die sagen: „Wir haben damit nichts mehr zu tun.“ Weil deshalb die Chemikalien immer noch ins Grundwasser sickern, ist es verseucht. Und die Leute trinken das, denn Wassertanks gibt es nicht viele. Die waschen sich damit, die reinigen ihre Lebensmittel damit, alles.
Dann ist es ja eine unendliche Geschichte
Ja. In der Nacht selber und unmittelbar danach sind etwa 20.000 Menschen gestorben, und jetzt sind es 100.000, die betroffen sind. Es wird immer schlimmer. 2007 haben zwei Wissenschaftler eine Studie gemacht, um zu prüfen, welche Ausmaße die Kontaminierung des Bodens und des Grundwassers hat. Und wir haben das mit einem einfachen Kupferdraht-Test ein bisschen fortgeführt, wo man nur sehen kann, das ist kontaminiert oder nicht, den Umfang jedoch nicht bestimmen kann. Dass das Gebiet direkt drumrum verseucht ist, das ist klar, aber wir sollten jetzt prüfen, inwieweit das Gebiet noch größer geworden ist. Das hat zwar nicht so gut geklappt, weil reiner Kupferdraht schwer zu bekommen war, aber grundsätzlich ist das mittlerweile so ein großes Gebiet … das verbreitet sich immer mehr.
Es wird auch nicht gesagt: Wenn wir schon nicht sanieren können, dann quartieren wir wenigstens die Bewohner um?
Bhopal hat 1,8 Millionen Einwohner. Da sind so viele Menschen auf so kleinem Raum, die kann man nicht mal eben umsiedeln. Bhopal ist durch Seen getrennt. Es gibt einmal die alte Stadt und einmal die neue Stadt. Die Explosion hat sich in der alten Stadt, dem Slum-Gebiet, ereignet. Die Leute, die dort leben, können es sich nicht leisten, dort wegzuziehen. Die Leute von der anderen Seite hingegen sagen, wir haben damit nichts zu tun, das ist deren Sache. Sie trauen sich gar nicht auf die Seite, wo sich die Explosion ereignet hat, weil dort die Kriminalität stärker ist und Armut herrscht. Und bei ihnen wird alles neu gebaut und schön gemacht.
Die Fabrik war wirklich mittendrin?
Ja, wir haben 500 Meter Luftlinie von dem alten Fabrik-Gelände gelebt. Wir haben es uns auch angeguckt. Es ist einfach eine riesige Ruine, mit einem Zaun drumrum, der aber überall Löcher hat. Und unmittelbar in der Nähe des Zauns wohnen dann die Leute in ihren Wellblechhütten. Sie bauen da auch ihre Lebensmittel an, und die sind natürlich auch alle verseucht. Viele Leute sind sehr unwissend. Wir haben einen älteren Mann kennen gelernt, der hat auf der anderen Seite von Bhopal gewohnt, war aber politisch interessiert und kannte auch die Geschichte von Bhopal. Er ging aber trotzdem jeden Tag in dem See, der verseucht ist, schwimmen, wo wir gesagt haben: Um Gottes Willen, das würden wir niemals tun!“. Sie machen alle auch ein bisschen die Augen zu und angeln dort ihren Fisch. Wir haben auch einmal Fisch dort gegessen, und wurden dann von einem Arzt gesehen und haben direkt einen auf den Deckel bekommen, wie wir denn den Fisch essen könnten!
Gibt es keine Parteien, die sagen, wenn wir an die Macht kommen, dann machen wir etwas?
Doch, die gibt es schon, aber die sind sehr klein. Die Frau des Klinik-Leiters ist in der AAP, der „Partei der kleinen Leute“. Die setzt sich dafür ein, dass Sanierungsarbeiten beginnen.
Und wie war es bei der letzten Wahl im Frühjahr?
Die AAP hat ein paar Prozent bekommen. Das ist nichts gewesen.
Wenn eine Partei in Bhopal sagt: „Wir wollen, dass hier endlich mal etwas geschieht“, dann könnte man doch eigentlich denken, dass sie Stimmen bekommt.
Die Leute in den Slums haben kaum Bildung, während die gebildeten Leute auf der anderen Seite die Augen verschließen und sagen: „Wir haben damit nichts zu tun, wir wohnen hier, wo es sicher ist“. Und da kommt dann so ein Modi und erzählt den Bauern: „Ich bring euch Strom und Wasser.“ Und dann glauben die das. Der ist im Fernsehen, der ist überall zu sehen, der macht tolle Plakate. Was soll ich da so eine kleine Frau wählen, die da mit dem Besen in der Hand steht und sagt: „Ich kämpfe für eure Rechte“, wo auf der anderen Seite jemand ist, der Geld hat und sagt: „Ich bring euch Strom und Wasser.“
Wird der 30. Jahrestag etwas an der Situation ändern?
Die Klinik hat schon vor, wieder große Aktionen zu machen. Sie hoffen, dass da mal was passiert. Aber ob sich etwas tut, weiß kein Mensch. Es bleibt auch abzuwarten, inwieweit die Behörden politische Betätigungen zulassen werden.
Vor fünf Jahren zum 25. Jahrestag fand eine große Rundreise der Bhopal-Initiative statt. Sie machten auch an den BAYER-Standorten in Leverkusen und im US-amerikanischen Institute Station, weil die dortige Fertigungsstätte ursprünglich UNION CARBIDE gehörte und das Schwester-Werk zur Fertigungsstätte in Bhopal war. Bei einer Explosion im Jahr 2008 wäre es dann auch fast zu einer ähnlichen Katastrophe gekommen.
Ja, sie haben schon mehrere Rundreisen unternommen, sie haben auch durch die USA schon mal eine Tour gemacht.
Du hast in dem Archiv der Klinik auch Material der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN gefunden?
Ja, ich habe dort Veröffentlichungen der CBG entdeckt (1). Ich habe Sathyu, den Leiter der Klinik, auch darauf angesprochen, aber er hat es leider nicht richtig verstanden und erst ein paar Tage vor meiner Abfahrt realisiert, dass ich die Tochter von Axel bin und die Coordination unterstütze. Da ist bei ihm erst der Groschen gefallen: „Ooh, ich habe so viel Respekt vor der Arbeit, die die machen.“ Und er hat mir dann noch den CBG-Newsletter gezeigt, den er immer bekommt: „Hier, guck mal!“
(1) Es handelte sich dabei um ein Exemplar der Broschüre „Menschenrechts-Charta gegen Industrie-Gefahren“ und das Manuskript der Rede, die Axel Köhler-Schnura 1994 auf dem Bhopal-Tribunal gehalten hatte. Es wurde anlässlich des 10. Jahrestages vom „Permanent People’s Tribunal“, der Nachfolge-Einrichtung des Russell-Tribunals, abgehalten. Zum Abschluss präsentierten die TeilnehmerInnen den Entwurf der „Charter of Health, Safety and Environmental Rights of Workers and Communities“. Die CBG hat dann auch an der Endfassung mitgewirkt und den Text 1996 zweisprachig unter dem Titel „Menschenrechts-Charta gegen Industrie-Gefahren“ veröffentlicht.