Die IG BCE mit neuer Führung
Kuschelkurs 3.0
Neuer Mann, alte Politik: Michael Vassiliadis, der frisch gekürte Vorsitzende der INDUSTRIEGEWERKSCHAFT BERGBAU, CHEMIE, ENERGIE (IG BCE) setzt den unternehmerfreundlichen Kuschelkurs seiner Vorgänger Hubertus Schmoldt und Herrmann Rappe fort. Angesichts stetig sinkender Mitgliederzahlen schließt dies inzwischen die Gefahr des Untergangs der Gewerkschaft mit ein.
Von Paul Kranefeld-Wied
Kolleginnen und Kollegen, die den neuen IG BCE-Vorsitzenden in den 80er Jahren als Mitglied der Gesamtjugendvertretung der BAYER AG kennenlernten, berichten, schon damals habe der junge Gewerkschafter die Karriere fest im Blick gehabt. Der Förderung – zunächst durch den BAYER-Betriebsratsvorsitzenden Erhard Gipperich und dann durch den Gewerkschaftschef Hubertus Schmoldt – habe er sich immer sicher sein können.
Während andere junge Gewerkschafter oppositionelle Listen gründeten und die verstaubte Politik der ewigen Anpassung an die Unternehmerseite ablehnten, war Vassiliadis schon in jungen Jahren ein angenehmer Verhandlungspartner für die BAYER-Vorstandsriege. Auch die dürfte früh erkannt haben, dass da einer vom Schlage der Schmoldt und Rappe heranwächst, mit dem man immer werde „reden“ können. Öffentliche Förderung hat es gleichwohl nie gegeben, denn die wäre kontraproduktiv gewesen.
Bereits im Alter von 16 Jahren war Michael Vassiliadis 1980 Mitglied der IG BCE-Vorgängerin IG CHEMIE, PAPIER, KERAMIK geworden. Er absolvierte eine Lehre als Chemielaborant und war danach drei Jahre lang in diesem Beruf tätig. Bereits 1986 wurde er hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionär. Das dürfte auch eine Belohnung dafür gewesen sein, dass er erfolgreich den Versuch der IG Metall abwehrte, beim Kamera- und Filmproduzenten AGFA einzusteigen. Mit der kämpferischen Metaller-Gewerkschaft wäre die spätere Abwicklung der AGFA durch die BAYER AG sicher schwieriger geworden. Damals soll Hubertus Schmoldt nach Informationen der Tageszeitung Die Welt (11. 10. 2009) auf Vassiliadis aufmerksam geworden sein.
Vassiliadis wurde zunächst Sekretär der IG CHEMIE-PAPIER-KERAMIK in der Verwaltungsstelle Leverkusen, ab 1990 im Bezirk Nordrhein-Westfalen und von 1994 bis 1997 Geschäftsführer der Verwaltungsstelle in Leverkusen. In das Ende seiner Leverkusener Amtszeit fielen die bundesweit ersten Verhandlungen über den sogenannten Standortsicherungsvertrag, der 1997 abgeschlossen wurde. Inhalt des Vertrages waren weitgehende Zugeständnisse des Betriebsrats und der Gewerkschaft in puncto Flexibilität bei Arbeitszeit und -platz, beim Abbau nichttariflicher Lohnbestandteile und bei der Betriebsausgliederung. Im Gegenzug sicherte die BAYER AG zu, nicht betriebsbedingt zu kündigen. Diese damals völlig neue Vertragsform wurde hundertfach – nicht nur in der Chemiebranche – übernommen.
Vassiliadis verließ dann 1997 Leverkusen. Er wurde auf dem ersten Gewerkschaftstag der neuen IG BCE zum Vorstandssekretär gewählt und leitete in der Hauptverwaltung in Hannover die Abteilung „Vorsitzender/Personal“. Damit ist er bereits die rechte Hand von Schmoldt.
Dessen Kurs des Co-Managements wird Vassiliadis unbeirrt fortsetzen. Seine Haltung als rechter SPDler ist gefestigt. Als der Kapitalismus im Zuge der Krise in die Kritik geriet, antwortete Vassiliadis auf die Frage „Bekennen Sie sich zum Kapitalismus?“ folgendermaßen: „Ich bekenne mich zur sozialen Marktwirtschaft. Absolut. Und auch zu ihren innewohnenden Grundgesetzen. Wir werden weltweit kein anderes System finden, das den Wohlstand der breiten Bevölkerung besser entwickeln könnte. Und ohne die Dynamik der Marktwirtschaft wird es kaum gelingen, die großen Zukunftsfragen zu erfolgreich beantworten: Klima, Umwelt, Ernährung“.
Fraglich bleibt, ob der Kuschelkurs mit dem Kapitalismus der Gewerkschaft eine Perspektive bietet. Zum Kuscheln gehören bekanntlich zwei. Doch das Unternehmerlager zieht die Daumenschrauben immer weiter an; der „Verband der Chemischen Industrie“ (VCI) förderte mit der Einführung eines Tarifvertrags extra für Dienstleister die Entstehung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft in der Chemie-Branche mit Stammbelegschaften auf der einen und deutlich schlechter gestellten Beschäftigten auf der anderen Seite. Das führte zu einem rapiden Mitgliederverlust der IG BCE. Die einstige Millionen-Gewerkschaft hat nur noch 690 000 Mitglieder – Tendenz sinkend.
Aber auch die Zugeständnisse, welche die Chemie-Multis bisher im Bereich der Kernbelegschaften machten, werden immer mehr abgebaut. Exemplarisch lässt sich dies an Vassiliadis alter Wirkungsstätte in Leverkusen verfolgen. Die alte „BAYER-Family“ ist dahin. Der Leverkusener Multi hat traditionsreiche Einrichtungen wie Kaufhäuser, Schwimmbäder oder Sportvereine etc. dichtgemacht oder „gesundgeschrumpft“. Große Teile der alten AG hat das Unternehmen ausgelagert. Die neuen Firmen gehören zwar noch zum Konzern, stehen jedoch großenteils nicht mehr unter dem Schirm der Chemietarife. Die Standortvereinbarungen sind immer weniger das Papier wert, auf dem sie stehen. Das betrifft vor allem den angeblichen Kündigungsschutz. Bereits jetzt ist es der Konzernspitze möglich, auch Mitglieder der Kernbelegschaft schrittweise aus dem Betrieb zu drängen. Und bezüglich der neuen Standortvereinbarung fordert der BAYER-Vorstand, dass der Kündigungsschutz auch formal fällt – noch wehrt sich die IG BCE.
Ein bedrohliches Signal ist auch die Regelung der Nachfolge des mächtigsten Mannes der deutschen Chemie-Industrie, des BAYER-Bosses Werner Wenning. Wie der neue Gewerkschaftschef ist auch Wenning gelernter Chemielaborant. Das heißt, die beiden kommen aus dem gleichen BAYER-Stall. Dass dies nicht unwichtig ist, konnte man beobachten, als vor drei Jahren die Sparte BAYER INDUSTRY SERVICES (BIS) komplett ausgelagert werden sollte. Nach zähem Widerstand der Belegschaft gab Wenning insofern nach, als extra für BIS ein neuer Chemietarif geschaffen wurde, der den Betrieb nicht völlig in die Rechtslosigkeit entlässt. Auch vom massiven Arbeitsplatzabbau sah der BAYER-Vorstand ab. Wenning, der bis heute mit Kollegen aus seiner Lehrzeit befreundet ist, konnte als bodenständiger BAYER-Mann wohl nicht anders.
Dieses Problem wird jetzt angegangen. Zum erstenmal in der Geschichte der BAYER AG holt man sich einen Konzernchef, der nicht von der Pieke auf bei BAYER gelernt hat. Der neue hat noch nicht einen Tag beim Pharma-Riesen gearbeitet. Es handelt sich um den gebürtigen Niederländer Marijn Dekkers, der ab dem 1. Oktober 2010 BAYER-Chef wird. Das dürfte es ihm leichter machen, sich von BAYER MATERIAL SCIENCE (BMS) zu trennen, wie es FinanzinvestorInnen seit Ausbruch der Wirtschaftskrise fordern. Eine Arbeitsplatzvernichtung in großem Ausmaß wäre die Folge.
Mit diesen für die gesamte Chemie-Industrie typischen Entwicklungen hat es der neue IG BCE-Chef zu tun. Sein erklärtes Ziel, neue Mitglieder zu gewinnen, ist unter diesen Umständen nahezu utopisch; es sei denn, die IG BCE begänne ähnlich wie die IG Metall, die vor allem junge Mitglieder gewinnt, einen kämperischeren Umgang mit den Unternehmern. Vassiliadis prägt in diesem Zusammenhang den Begriff „Zukunftsgewerkschaft“, den er sich sogar rechtlich hat sichern lassen. Doch ist kaum zu sehen, wohin diese Zukunftsgewerkschaft gehen soll. Vassiliadis Einlassungen zu diesem Thema bleiben nebulös: „Eine Zukunftsgewerkschaft ist nicht statisch. Sie muss vorwärts denken, die gesellschaftlichen und technologischen Zukunftsfelder erkennen und analysieren, sich dann entscheiden, wo sie hingehen will und schließlich verantwortlich handeln. Das gilt beispielsweise für Arbeitswelt, Demografie und Technologie.“ Das kann alles und nichts bedeuten. Die IG BCE und ihr Vorsitzender stecken in einem massiven Dilemma. Bleiben sie beim Kuschelkurs, begeben sie sich in die Hände der Unternehmer. Und da ist es alles andere als kuschelig.