NS-Verbrecher in BAYER-Diensten
Das Kap der letzten Hoffnung
Nach dem Krieg setzte sich der hohe Nazi Walther Rauff nach Südamerika ab. Aber er blieb Deutschland verbunden: Rauff war zeitweilig für BAYER tätig und arbeitete für den Bundesnachrichtendienst.
Walther Rauff hatte gute Gründe, sich nach dem Krieg dem Zugriff der Alliierten zu entziehen. Im „Dritten Reich“ unterstand ihm nämlich die Entwicklung der Gaswagen. Diese mobilen Tötungskammern markierten ein Zwischenstadium hin auf dem Weg zum industrialisierten Massenmord in den KZ. Die Nazis ersannen sie, weil „Erschießen doch nicht die humanste Art sei“, sich seiner Feinde zu entledigen, wie Himmler befand. Seine Sorge galt dabei allerdings nicht den Opfern, sondern den Tätern. Der SS- und Polizeichef hatte 1941 in Minsk Massentötungen beigewohnt und sie als zu belastend für die Ausführenden erlebt. Deshalb erließ er den Befehl, nach einer „humaneren Tötungsart“ zu suchen.
Und so entstanden unter der Ägide von Walter Rauff als Gruppenleiter im Reichssicherheitshauptamt die Gaswagen. Sie leiteten tödliches Kohlenmonoxid von den Auspuffen in den Laderaum und brachten so den dort hineingepferchten Menschen den Tod. Rund 97.000 Menschen kamen auf diese Weise um. Von Minsk bis zum Kaukasus reichte die Blutspur. Rauff lehnte später jede Verantwortung dafür ab. „Ich war niemals persönlich anwesend, wenn die Todeswagen in Tätigkeit gesetzt wurden und in ihnen Personen getötet wurden“, erklärte er bei einer Vernehmung kurz nach dem Krieg. Und 1962 gab der Kriegsverbrecher zu Protokoll, dass seine Arbeit nur „die technische Seite betraf und mit der Tötung von Menschen nichts zu tun hatte“. Das anonymisierte und arbeitsteilige Töten erlaubte es den Nazi-Schergen, sich jeglichen Gefühls persönlicher Schuld zu entledigen – und genau das hatte Himmler mit seinem Vorstoß auch bezweckt.
Die KZ perfektionierten den maschinellen Mord dann weiter und machten die mobilen Gaskammern überflüssig. Rauff ging als Leiter einer Einsatzgruppe der Sicherheitspolizei nach Tunis. Dort verpflichtete er alle männlichen Juden zur Zwangsarbeit und stellte ihrer Gemeinde die Kosten für die durch die alliierten Luftangriffe entstandenen Schäden in Rechnung: 20 Millionen Francs. Nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Nordafrika wechselte der NS-Funktionär nach Italien. Als Leiter der Gruppe „Oberitalien West“ führte Rauff dort ein hartes Regiment. So gab er den Befehl, für jeden getöteten Deutschen zehn Italiener zu erschießen, und ging gegen Streikende und WiderstandskämpferInnen vor. Seine Vorgesetzten dankten ihm dafür, „dass die Unruhen im Keim erstickt wurden oder niedergeschlagen wurden“ und verliehen im noch Februar 1945 das Kriegsverdienstkreuz.
Dementsprechend heißt es in der Akte „Rauff“, die der US-Geheimdienst nach dem Krieg anlegte: „Die Quelle ist, wenn sie je freikäme, als Bedrohung zu betrachten. Sofern sie nicht ausgeschaltet wird, sollte man sie für lebenslange Einsperrung empfehlen“. Auf freiem Fuß blieb Walther Rauff dann auch nicht lange. Er landete im Lager Rimini, brach aber bald aus. Dank bester Verbindungen zum Vatikan fand er zunächst in Klöstern Unterschlupf. Später kam der SS-Standartenführer in Kontakt zu einem syrischen Militär, der ihm anbot, seine NS-Erfahrungen zu nutzen und in dem vorderasiatischen Staat den Geheimdienst mit aufzubauen. Rauff nahm die Offerte an. Nach einem Machtwechsel musste er das Land jedoch wieder verlassen und kehrte über Beirut nach Italien zurück, um von dort aus Ende 1949 nach Südamerika aufzubrechen.
In BAYER-Diensten
Seine erste Station auf dem Kontinent war Ecuador. Nach verschiedenen Tätigkeiten in Handelsvertretungen für MERCEDES BENZ, OPEL und US-amerikanische Pharma-Multis trat Rauff in die Dienste der deutsch-ecuadorianischen Firma Moeller-Martinez ein. Hier durfte er sich wahrhaft zu Hause fühlen, denn die Familie Moeller-Martinez zählte zu den glühensten Parteigängern Hitlers in dem Staat. Firmenchef Gustavo Moeller-Martinez gehörte den ecuadorianischen Ablegern der Wehrmacht und Waffen-SS an, kämpfte wie sein Sohn im Zweiten Weltkrieg und wurde nach 1945 von den Alliierten festgesetzt.
Sein Unternehmen fühlte sich ebenfalls der Heimat verbunden. Es nahm die Interessen des Leverkusener Multis und anderer bundesdeutscher Gesellschaften in Ecuador wahr. Als Prokurist und Verkaufsleiter kümmerte sich Walter Rauff dort unter anderem um die Angelegenheiten des Chemie-Multis. Die „Aufgeschlossenheit“ von BAYER, MERCEDES & Co. für NS-Täter kam nicht von ungefähr. „Die Vertretungen von Firmen wie BAYER, HOECHST und BASF hatten oft alte Kameraden in Europa und Übersee inne“, schreibt der Historiker Gerald Steinacher in seinem Buch „Nazis auf der Flucht“. Simon Wiesenthal bezeichnete derweil die Niederlassungen von SIEMENS, KRUPP und VW in Argentinien als „reine Nazi-Nester“. Bei MERCEDES bestand fast die gesamte Führungsebene aus Einwanderern, darunter Wehrmachtsangehörige, SS-Offiziere und andere Funktionsträger. Sogar die schlimmsten Nazis wie Adolf Eichmann, der Organisator der Massendeportationen von Juden und Jüdinnen, oder der Schlachtflieger Hans-Ulrich Rudel fanden ein Auskommen bei MERCEDES oder anderen bundesdeutschen Betrieben. Steinacher zufolge war dies aber nicht nur ideologischen Seilschaften zu verdanken, auch ganz praktische Erwägungen leiteten diese Personalpolitik: Die Migranten sprachen Deutsch, hatten in der Regel eine gute Ausbildung und gaben sich hoch motiviert.
Über die Zahlen der aus Deutschland, Österreich und anderen Ländern nach Südamerika geflüchteten Nationalsozialisten existieren unterschiedliche Angaben. Die Alliierten gingen von rund 50.000 Kriegsverbrechern aus. Der Historiker Holger M. Meding kommt in seinem Werk „Flucht vor Nürnberg?“ allein für Argentinien auf 19.000 EinwanderInnen. Dabei handelte es sich allerdings nicht nur um „Demokratie-Verfolgte“, wie sich die Faschisten selber nannten. Meding beziffert das Quantum der höheren NS-Funktionsträger unter den Neu-Argentiniern auf 300 bis 800 und das der gesuchten Kriegsverbrecher und Massenmörder auf 50. Gaby Weber spricht in „DAIMLER-BENZ und die Argentinien-Connection“ hingegen von „mindestens 300“ auf den Fahndungslisten stehenden Nazi-Größen.
Wie vielen davon BAYER Unterschlupf gewährte, darüber gibt es in der ohnehin spärlichen Literatur keine Informationen. Bekannt wurde nur noch ein weiterer Fall, der des Juan Felipe Darnand. Er gehörte zu der von den Nazis im besetzten Frankreich gegründeten französischen Miliz. Von Darnands Vater Joseph befehligt, machte die Truppe Jagd auf Resistance-KämpferInnen. Als sich die Vichy-Regierung nach der Landung der Alliierten auf das Schloss Sigmaringen zurückziehen musste, bildeten die Milizionäre zusammen mit ein paar hundert Soldaten ihre Leibgarde. Diese Nibelungentreue machte sie nach dem Krieg zu gesuchten Kollaborateuren. Joseph Darnand erhielt das Todesurteil und wurde erschossen. Seinem Sohn gelang unter dem Decknamen Felipe Foucachon die Flucht nach Argentinien, wo er dann unter anderem bei BAYER Arbeit fand.
Treu zu NS-Diensten
Die Seilschaften, die so etwas ermöglichten, hatten sich in den 1930er Jahren herausgebildet. Im September 1937 hielten die Manager der von BAYER mitgegründeten IG FARBEN fest: „Es versteht sich dabei von selbst, dass keine Männer in unsere ausländischen Niederlassungen geschickt werden, die nicht der Deutschen Arbeitsfront angehören und die keine positive Haltung der neuen Ordnung gegenüber haben. Die dorthin beorderten Männer sollten es als ihre besondere Pflicht ansehen, das nationalsozialistische Deutschland zu repräsentieren“ (rückübersetzt aus dem Englischen, Anm. SWB).
Gemäß dieser Direktive leisteten die Angestellten BAYERs und anderer IG-Firmen wichtige Dienste für das faschistische Vaterland. Oft waren sie überdies direkt für Nazi-Organisationen tätig. So baute der BAYER-Manager und NSDAP-Funktionär Werner Siering den NS-Geheimdienst in Chile auf, während zwei seiner Kollegen in Venezuela für die Partei und den damaligen militärischen Abschirmdienst arbeiteten. In Mexiko war Baron von Humboldt in Personalunion Chef der dortigen IG-Niederlassung und der Gestapo. In Ecuador hatte L. E. Brueckmann, Leiter der zur IG FARBEN gehörenden Firma BRUECKMANN & Co., gleichzeitig das Amt eines Konsuls inne und wählte auch seine Konsulatsmitarbeiter teilweise aus Belegschaftskreisen aus. Darüber hinaus hatten zwei seiner Beschäftigten hohe Positionen in der ecuadorianischen Nazi-Partei inne. In Peru gehörten derweil zwei NS-Geheimdienstler zu den Führungskräften, und die BASF- und BAYER-Zentralen in Rio de Janeiro bezeichnete der für die Nürnberger Prozesse erstellte Untersuchungsbericht sogar als „Hauptzentren der Nazi-Aktivitäten in Brasilien“.
Darüber hinaus stellten die so genannten Verbindungsmänner der IG FARBEN in ihren monatlichen Bulletins wichtige politische, wirtschaftliche und militärische Informationen über die südamerikanischen Länder zusammen und verzeichneten beispielsweise Aufrüstungsbestrebungen oder Waffenlieferungen. „Natürlich verfügt ein Konzern wie die IG FARBEN (…) über Erfahrungen und Wissen, das von den Regierungsstellen nicht gesammelt werden kann (…) Darum ist es die Pflicht unseres Führungspersonals außerhalb Deutschlands, seine Kenntnisse allen staatlichen Einrichtungen zur Verfügung zu stellen“, konstatierte IG-Direktor Max Ilgner 1936 nach einer Lateinamerika-Dienstreise.
Zudem gewährten die südamerikanischen IG-Gesellschaften vielen Nazi-Spionen Unterschlupf und arbeiteten eng mit dem „Aufklärungsausschuss“ zusammen, dem Auslandsableger von Goebbels Propaganda-Ministerium. Auch spendeten sie eifrig für die NSDAP. Allein die brasilianischen BAYER-Niederlassungen brachten mehr als 3,6 Millionen Reichsmark für die Organisation auf.
BAYER & das Militär
Nach dem Krieg lebten diese Traditionen fort. Eine „Entnazifizierung“ hatten die Hitler-Getreuen in Lateinamerika noch weniger zu fürchten als ihre Kollegen daheim. Das politische Umfeld auf dem Kontinent mit seinen oftmals autokratischen oder diktatorischen Regimen kam ihnen dabei sehr entgegen. Die ideologische Wahlverwandtschaft ermöglichte ein enges Verhältnis zu den Machthabern. So klagte noch 1978 der brasilianische Gewerkschaftler Jose Ibrahim über die guten Beziehungen bundesdeutscher Unternehmen zu den Generälen: „Aus der Bundesrepublik Deutschland sind da insbesondere VW, DAIMLER-BENZ, MANNESMANN, KRUPP, BAYER, HOECHST, SIEMENS, BASF, VOIGT u. a. zu nennen. Man könnte die Liste beliebig fortsetzen, zu der etwa 50 große westdeutsche Konzerne gehören, die in Brasilien die Privilegien genießen, die ihnen die Militärdiktatur einräumt“. Und zu diesen Privilegien gehörte vor allem, mit den Beschäftigten nach Belieben umspringen zu können. „Bei allen ausländischen Multis herrscht Repression in den Fabrikhallen: Der Arbeiter, der seine berechtigten Forderung stellt, der reklamiert, der protestiert, wird gefeuert und sofort bei der Polizei denunziert“, so Ibrahim.
Argentinien hat der als „Nazi-Jäger“ berühmt gewordene Simon Wiesenthal wegen seines Wohlwollens gesuchten Nazi-Größen gegenüber einmal als „Kap der letzten Hoffnung“ für Kriegsverbrecher bezeichnet. Andere Länder standen dem Andenstaat jedoch kaum nach. Walther Rauff wählte schließlich Chile als Wahlheimat. Er verließ Ecuador 1958 und beendete damit auch seine Dienste für BAYER. Unter anderem im Bundesnachrichtendienst fand er – wiederum durch alte Seilschaften – einen neuen Arbeitgeber. Seine Überzeugungen änderte Rauff nie. Auslieferungs- und Ausweisungsgesuche, von Wiesenthal, Beate Klarsfeld und anderen betrieben, scheiterten immer wieder. So konnte seine Beerdigung 1984 zu einem Klassentreffen Rechtsextremer werden, mit „Sieg Heil“- und „Heil Hitler“-Rufen und Flugblättern, die den Holocaust leugneten.
Von Jan Pehrke