Heute vor 90 Jahren wurde der Mörder-Konzern IG Farben gegründet. Zu diesem Anlass veröffentlichen wir einen Artikel des Historikers Dr. Reiner Zilkenat zum Nürnberger IG Farben-Prozess.
2. Dezember 2015
»Gefangene Hitlers«
Ende November 1945 wurden 23 Manager der IG Farben AG verhaftet. Dank ihrer Behauptung, nur unter dem Druck der Nazis gehandelt zu haben, erhielten sie milde Strafen und bekleideten bald hohe Ämter in der Bundesrepublik
In den letzten Novembertagen des Jahres 1945 verhafteten alliierte Militärs zahlreiche Topmanager der IG Farbenindustrie AG und überführte insgesamt 23 von ihnen in das Verhörzentrum für Kriegsverbrecher auf Schloss Kransberg im Taunus. Zugleich begannen die Vorbereitungen eines Prozesses, in dem die führenden Repräsentanten dieses Konzerns wegen folgender Verbrechen angeklagt wurden: Planung, Vorbereitung, Einleitung und Durchführung von Angriffskriegen sowie Invasionen gegen andere Länder; Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit und in diesem Zusammenhang: Teilhabe an der Versklavung von Menschen in besetzten Gebieten sowie an ihrer Misshandlung, Folterung und Ermordung, einschließlich der Organisation von Zwangsarbeit; Mitgliedschaft einiger Angeklagter in einer verbrecherischen Organisation, der SS; Beteiligung an einer Verschwörung, um Verbrechen gegen den Frieden zu begehen.
Die Verhöre der Inhaftierten und die Auswertung umfangreichen Dokumentenmaterials nahmen längere Zeit in Anspruch, so dass erst am 13. Mai 1947 die Anklageschrift beim US-amerikanischen Militärgericht in Nürnberg eingereicht werden konnte. Der Prozess begann am 27. August 1947 und endete erst am 29. bzw. 30. Juli 1948 nach 152 Sitzungstagen mit der Verkündung der Urteile sowie der Verlesung der Urteilsbegründung.
Die besondere Bedeutung des Verfahrens besteht bis zum heutigen Tage darin, dass hier die Mechanismen des staatsmonopolistischen Kapitalismus in der Zeit des Faschismus transparent wurden. Wie unter einem Brennglas wurde die enge Zusammenarbeit, ja Verschmelzung der IG Farbenindustrie mit den staatlichen Machtorganen erkennbar.
Doch zunächst ist ein Blick in die Zeit vor der Machtübertragung notwendig. Denn die Interessengemeinschaft existierte bereits seit 1925. Worin bestand die herausragende Bedeutung dieses Konzerns? 1925 schlossen sich mehrere deutsche Unternehmen der chemischen und pharmazeutischen Industrie, darunter die Badische Anilin- und Sodafabrik (BASF), die Höchst AG und die Bayer AG, zum größten Unternehmen ihrer Branche, sogar der Welt zusammen. Das Aktienkapital der IG Farben lautete auf die damals unvorstellbar hohe Summe von 1,1 Milliarden Reichsmark. Die Beteiligungen dieses Giganten an anderen Firmen, nicht nur in Deutschland, waren selbst für Insider kaum überschaubar. Sie betrafen auch Unternehmen der Schwerindustrie, der Erdölbranche und des Fahrzeugbaus.
Es ist naheliegend, dass eine derart konzentrierte ökonomische Macht im Stande ist, auch einen erheblichen Einfluss auf staatliche Entscheidungen auszuüben. Für die »Pflege der politischen Landschaft« war vor allem das Berliner Büro der IG Farben mit seiner Pressestelle Unter den Linden zuständig. Hier und in der Volkswirtschaftlichen Abteilung wurden detaillierte Expertisen über die Lage in Konkurrenzunternehmen, aber auch in anderen Branchen und Großunternehmen ausgearbeitet. Daneben wurden Analysen der wirtschaftlichen und politischen Situation in anderen Ländern angefertigt. In Kriegszeiten kamen zahlreiche Kriegszieldenkschriften hinzu. Dass die im Ausland tätigen Filialen häufig den deutschen Nachrichtendiensten zuarbeiteten, sei nur am Rande erwähnt.
Eine der während des IG-Farben-Prozesses und danach von den Konzernmanagern verbreiteten Legenden lautete, dass es vor der Machtübertragung an die Faschisten keinerlei ernsthafte Kontakte und auch keine finanziellen Zuwendungen des Konzerns für die Nazipartei gegeben habe. Wie verhielt es sich aber tatsächlich mit den Beziehungen der IG Farben zur NSDAP?
IG Farben und NSDAP vor 1933
Die ersten Kontakte zwischen der faschistischen Partei und Repräsentanten des Chemiegiganten datieren von der Mitte bzw. dem Ende des Jahres 1931. Zwei Anlässe waren ausschlaggebend für die Bereitschaft der leitenden Herren der IG, sich mit Hitler und den Seinen an einen Tisch zu setzen. Zum einen war der Konzern immer häufiger von Nazigazetten ins Visier genommen worden, die ihm bescheinigten, angeblich Bestandteil des internationalen, »jüdisch dominierten« Finanzkapitals zu sein. Die Namen leitender Mitarbeiter, die jüdischer Herkunft waren, mussten als Belege für diese abenteuerliche These dienen, die durch antisemitische Karikaturen (»IG Moloch«, »Isidore G Farben«) noch veranschaulicht wurde. Heinrich Gattineau, der Leiter der Presseabteilung des Konzerns, erreichte durch eine Intervention seines ehemaligen Doktorvaters, des mit Hitler und dem »Stellvertreter des Führers« Rudolf Heß gut bekannten »Geopolitikers« Professor Karl Haushofer, die Beendigung derartiger Angriffe.
Zum anderen war die Ursache für die Kontaktaufnahme zwischen den IG Farben und Hitler handfester Natur. Auf ausdrückliche Anordnung des Vorstandsvorsitzenden Carl Bosch – er hatte 1931 den Nobelpreis für Chemie erhalten – hatten im Oktober/November 1931 Gattineau und Heinrich Bütefisch, Direktor der Leuna-Werke, Hitler um eine vertrauliche Zusammenkunft gebeten. Die Führung der IG Farben wollte sich vergewissern, ob Hitler im Falle seiner als wahrscheinlich erachteten Kanzlerschaft die Aktivitäten des Konzerns unterstützen würde, synthetisches Benzin zu produzieren. Bislang gelang dies wegen der hohen Ausgaben für Entwicklung und Produktion nicht annähernd kostendeckend. Hier bot sich die künftige politische Orientierung auf die NSDAP an. Schließlich planten Hitler und seine Partei für den Fall ihrer Regierungsübernahme, einen Revanchefeldzug für die im Ersten Weltkrieg erlittene Niederlage des deutschen Imperialismus vorzubereiten. Hierfür stellte die Brennstoffautarkie eine wesentliche Voraussetzung dar. Da Erdöl nur in geringen Mengen in Deutschland gefördert wurde, fehlte die Voraussetzung, um einen »modernen« Krieg führen zu können: die kontinuierliche Verfügung über große Mengen Benzins. Angesichts der technischen Möglichkeiten des Chemiekonzerns, dies synthetisch herzustellen, suchte man das Interesse Hitlers zu gewinnen.
Beiden Seiten war klar, dass die beabsichtigte Hochrüstung des deutschen Faschismus und der Kurs auf einen erneuten Angriffskrieg ohne die aktive Einbeziehung der IG Farben nicht möglich waren. Es erscheint daher folgerichtig, dass der Konzern durch Vorstandsmitglied Georg von Schnitzler bei einer Zusammenkunft führender Industrieller im Palais des Reichstagspräsidenten Hermann Göring am 20. Februar 1933 mit 400.000 Reichsmark den größten Beitrag leistete, um die faschistische Partei für die Vorbereitung der am 20. März durchzuführenden Reichstagswahlen mit den nötigen finanziellen Mitteln zu versorgen.
Dies war nicht die erste finanzielle Zuwendung des Konzerns an die faschistische Bewegung. 1983 erinnerte sich der 78jährige Gattineau in einem Interview mit dem ZDF, dass bereits vor dem 30. Januar 1933 einmalig 100.000 Mark und mehrere Monate lang jeweils 10.000 Mark zugunsten der SA überwiesen worden seien, die nach der Machtübergabe noch einmal 250.000 Mark für »Bedürftige« in ihren Reihen erhalten habe. Während der Nazidiktatur erhielten die NSDAP und andere Organisationen rund 40 Millionen Mark »Spenden« von seiten der IG Farben. Daneben bekamen Repräsentanten des Regimes wertvolle »persönliche Geschenke« überreicht. Angesichts einer Verfünffachung des Nettogewinns im Konzern von 1933 bis 1945 handelte es sich bei diesen Zuwendungen an die faschistische Partei um durchaus »lohnende« Investitionen, die sich in Form rasant steigender Profite amortisierten.
Ter Meers Verteidigungsstrategie
Zurück zu den 23 auf Schloss Kransberg inhaftierten ehemaligen IG-Farben-Managern. Sie standen vor der Frage, in welcher Weise sie vor den Verhöroffizieren und später vor den US-amerikanischen Richtern in Nürnberg auftreten wollten. Wie konnte es gelingen, die eingangs genannten fünf Anklagepunkte zu entkräften?
Es ergab sich folgende Situation: Georg von Schnitzler zeigte bei seinen Befragungen gewisse Zeichen von Reue, jedenfalls war er bereit, über die von der IG Farben zu verantwortenden Verbrechen, über die aktive Beteiligung des Konzerns an den Rüstungsprogrammen der Nazis sowie über den Anteil von führenden Industriellen und Bankiers an der Errichtung der faschistischen Diktatur zu sprechen. Immer wieder zog er aber wegen »Übersetzungsfehlern« und »Erinnerungsschwächen« schon einmal formulierte Aussagen zurück – um sie dann wieder ganz oder teilweise erneut zu bestätigen. Der Grund für sein widersprüchliches Verhalten lag jedoch an den Aktivitäten eines seiner ehemaligen Kollegen, der sich nicht scheute, hinter Gittern Druck auf seine Mitgefangenen auszuüben, falls sie seinen Anweisungen nicht folgen wollten.
Während der Haft in Schloss Kransberg bestand immer wieder die Möglichkeit, dass sich die gefangenen IG-Farben-Manager längere Zeit gemeinsam in einer Zelle aufhalten konnten. Hier übernahm Fritz ter Meer das Kommando. Er hatte letztlich mit seinen Bestrebungen Erfolg, eine einheitliche Verteidigungsstrategie auszuarbeiten, möglichst keine Widersprüche in den Aussagen bei den Verhören zuzulassen und die in der Anklageschrift enthaltenen Vorwürfe zu leugnen. Nicht die Verteidiger der Angeklagten, sondern ter Meer spielte bei alledem die maßgebliche Rolle.
Ter Meer war ab 1937 Mitglied der NSDAP, ab 1942 »Wehrwirtschaftsführer«. Während der Haft verfasste er eine knappe »Geschichte der IG Farben«, in der er ihre »Friedfertigkeit« beschwor. Ja, er scheute nicht davor zurück, den Konzern als einen »Hort der Völkerverständigung« zu bezeichnen, der die »abendländische Art zu leben« repräsentiert habe. Zugleich betrieb er die Dämonisierung Hitlers, den er durch sein Sprachrohr, den Strafverteidiger Friedrich Silcher, als »Wahnsinnigen« charakterisierte. Die Führung der IG Farben sei lediglich Befehlsempfänger gewesen. Er bezeichnete sie sogar als »Gefangene Hitlers«. Sie hätten keinerlei Handlungsspielräume gehabt, zumal Zwangs- und Kommandowirtschaft geherrscht habe. Man sei »Objekt der Politik« und einem »Befehlsnotstand« ausgesetzt gewesen. Im übrigen habe man seine »vaterländische Pflicht« erfüllt. Ter Meer gelang es, seine Mitgefangenen und die Verteidiger auf diese »Argumentation« einzuschwören. Vor Gericht verteidigte er sich zumeist selbst und in der Regel in fließendem Englisch. Sein arrogantes und jede Schuld verleugnendes Verhalten bestimmte auch das Auftreten der anderen Angeklagten. Nach der Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe von sieben Jahren schrieb er am 4. August 1948 triumphierend in einem an Vorstände verschiedener Unternehmen gerichteten Brief: »Der schlimmste Punkt der Anklage – das angebliche Bündnis mit Hitler und die Vorbereitung eines Angriffskrieges – haben wir so sauber ad absurdum geführt, dass der diesbezügliche Teil des Urteils für die IG Farben, für die deutsche Industrie und das deutsche Volk eine ganz klare Entlastung bringt.« Und weiter: Das Urteil sei »mehr eine Reinwaschung von wilden Anklagen als die Zuerkennung einer persönlichen Schuld«.
Gattineau, Bütefisch und andere
Neben ter Meer saßen noch weitere 22 Personen auf der Nürnberger Anklagebank. Einige seien an dieser Stelle genannt. Bereits erwähnt wurden Heinrich Gattineau und Heinrich Bütefisch. Seit 1931 leitete Gattineau die Pressestelle der IG Farben, seit 1931/32 diente er außerdem dem Stabschef der SA, Ernst Röhm, als »Berater in wirtschaftspolitischen Fragen«. Deshalb wurde er im Zusammenhang mit dem »Röhm-Putsch« 1934 für wenige Tage festgenommen. Er konnte aber den damals einsetzenden Verfolgungen gegen missliebige SA-Führer und ihre Vertrauten entkommen. Später machte er Karriere als Direktor der IG Farben, als Leiter der Volkswirtschaftlichen Abteilung und als Betriebsleiter der Dynamit-Nobel-Werke in Bratislava.
Heinrich Bütefisch gehörte dem Vorstand an, war Leiter der Leuna-Werke und später Produktionsleiter der IG-Farben-Fabrikanlagen im Vernichtungslager Auschwitz. Hier war er maßgeblich für den Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen zuständig. Ihren massenhaften Tod gemäß der faschistischen Devise »Vernichtung durch Arbeit« nahm er billigend in Kauf. Er bekleidete den Rang eines SS-Obersturmbannführers und gehörte seit 1934 dem exklusiven »Freundeskreis des Reichsführers SS« an. Beim Prozess in Nürnberg spielte Bütefisch den Ahnungslosen. Er habe von den katastrophalen Zuständen im Vernichtungslager Auschwitz sowie in den Unterkünften der Sklavenarbeiter »nichts gewusst«. Mehr noch: »Ich kann mir das auch nicht denken«.
Auch Walter Dürrfeld zählte zu den Angeklagten. Er war zunächst Bauleiter der IG-Farben-Anlagen in Auschwitz-Monowitz. Unter seiner Leitung wurden seit 1941 nicht weniger als 600 Millionen Mark in den gewaltigen Industriekomplex, einen der größten weltweit, investiert, der trotz aller Kriegsschäden nach 1945 einen Wert von 900 Millionen Mark repräsentierte. Seit 1943 amtierte Dürrfeld als Direktor in Auschwitz-Monowitz. Wie Bütefisch war er einer der Organisatoren der Sklavenarbeit von KZ-Häftlingen im IG-Farben-Werk in Auschwitz.
IG Farben und Auschwitz
Einer der zentralen Punkte der Anklage gegen die ehemaligen IG-Farben-Manager war deren aktive Teilhabe bei der Verwendung von Häftlingen zur Zwangsarbeit in Auschwitz. Zugleich ging es um das Giftgas Zyklon B, mit dem Millionen Häftlinge dort und in anderen Vernichtungslagern ermordet worden waren. Dieses Gas stammte aus den Produktionsstätten der Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung (Degesch), zu deren Teilhabern die IG Farben und die Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt (Degussa) gehörten. Sie verdienten an der fabrikmäßigen Ermordung vor allem jüdischer Häftlinge. Von einem gegen diese ungeheuerlichen Verbrechen gerichteten Protest der Verantwortlichen der IG Farben ist nichts bekannt. Im Gegenteil, sie forderten von der SS ständig neue Sklavenarbeiter, für deren Einsatz sie dieser kriminellen Organisation regelmäßig Geld überwiesen.
Der massenhafte Einsatz von KZ-Häftlingen ist eine unumstößliche Tatsache. Ebenso die Praxis, dass die bald entkräfteten Arbeiter mit Zyklon B vergast und anschließend verbrannt wurden. Mehr als 25.000 Häftlinge haben sich in wortwörtlichem Sinne in Auschwitz-Monowitz zu Tode gearbeitet. All das auch nur gewusst zu haben, leugneten die Manager der IG Farben vehement. Ter Meer zog in seinem bereits zitierten Brief vom 4. August 1948 das Resümee, dass die Angeklagten auch im Falle Auschwitz vor Gericht »zu 90 Prozent obsiegt« hätten. Diese Aussagen erscheinen besonders zynisch, weil ter Meer im November 1942, als die Produktion in Monowitz bereits begonnen hatte, durch den Kommandanten des Vernichtungslagers Auschwitz, SS-Obersturmbannführer Rudolf Höß, persönlich durch das Lager und die Produktionsstätten geführt worden war. Dabei hätte er nichts von den zum Himmel schreienden Verhältnissen wahrnehmen können?
Tatsächlich stand die Häftlingsarbeit seit dem Juni 1940 bzw. – bezogen auf Auschwitz – seit dem Januar 1941 auf der Tagesordnung der IG Farben. Sie wurde mit den staatlichen Stellen rege diskutiert und schließlich gemeinsam organisiert. Eine materielle Entschädigung der überlebenden Zwangsarbeiter war bekanntlich viele Jahre lang ein Tabu. Dass sie nicht oder nicht in auch nur annähernd ausreichendem Maße stattgefunden hat, gehört zu den dunkelsten Kapiteln der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte.
Die Urteile
Der Ankläger im IG-Farben-Prozess, der junge US-amerikanische Jurist Josua Du Bois, vertrat seine Sache mit großem Engagement und war überzeugt davon, mit den 23 IG-Farben-Managern eine wichtige Tätergruppe des deutschen Faschismus zur Rechenschaft zu ziehen. Allerdings spürten er und der Chefankläger der USA, Brigadegeneral Telford Taylor, von Anfang an Gegenwind von der eigenen Militärregierung. Kein Geringerer als der US-Militärgouverneur in Deutschland, General Lucius D. Clay, hatte bereits die Einleitung des Prozesses kritisiert. Während des Verfahrens in Nürnberg änderte sich nunmehr die politische Großwetterlage in entscheidender Weise, denn 1947 setzte sich der von den USA und ihren Verbündeten ausgelöste Kalte Krieg als dominierende Tendenz in den internationalen Beziehungen durch. Damit veränderte sich der Umgang der Westmächte mit den von ihnen kontrollierten Zonen in Deutschland beträchtlich. Als Stichworte seien nur genannt: Die Bildung der Bizone aus US-amerikanischer und britischer Zone; die Truman-Doktrin, die im Kern eine auch militärische Bekämpfung von kommunistischen und Volksbefreiungsbewegungen beinhaltete; der Marshall-Plan, der »marktwirtschaftlich« organisierten Nationalökonomien in Europa zinsgünstige Milliardenkredite und »Aufbauhilfe« bot; die Berlin-Krise, die 1948/49 sogar zu einem Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion hätte führen können.
Jetzt stellte sich die Frage, ob eine lang andauernde politische, ökonomische und womöglich auch militärische Auseinandersetzung mit der UdSSR ohne die Einbeziehung des großen wirtschaftlichen Potentials der Westzonen denkbar sein könnte. Die Antwort hierauf war negativ.
Nicht zuletzt deshalb fielen die am 29. bzw. 30. Juli 1948 verkündeten Urteile im IG-Farben-Prozess sehr milde aus, zumal die Manager in den ersten drei der fünf eingangs genannten Anklagepunkte freigesprochen wurden. Vergleichsweise milde Freiheitsstrafen, die über acht Jahre nicht hinausgingen, sowie zehn Freisprüche waren die Folge. Fritz ter Meers Studienfreund und Verteidiger Friedrich Silcher hatte die Dinge in einem Plädoyer am 29. Oktober 1947 auf den Punkt gebracht: Die »Schicksalsfrage unserer Welt« sei der »Konflikt zwischen Sozialismus und Kapitalismus«. Es drohe »die Festung Europa vollends im Chaos zu versinken«. Die Kommunisten und »Nationalsozialisten« hätten gleichermaßen die private Wirtschaft bekämpft. Nun seien es ausgerechnet die USA, »die Hochburg des freien Unternehmertums«, die eine Zerschlagung der IG Farben praktizierten, »worüber sich die Kommunisten freuen« würden.
Karrieren in der BRD
In den folgenden Jahren kamen sämtliche Angeklagte, zum Teil lange vor der Verbüßung ihrer Strafen, wieder in Freiheit. Am 31. Januar 1950 wurde der »Gnadenerlass« des US-amerikanischen Hohen Kommissars, John McCloy, veröffentlicht, nach dem auch einige der im IG-Farben-Prozess Verurteilten auf freien Fuß gesetzt wurden. Daneben wurden Bundeskanzler Konrad Adenauer und Wirtschaftsminister Ludwig Erhardt immer wieder bei den Westalliierten für die Entlassung inhaftierter Kriegsverbrecher vorstellig. Schließlich waren die Manager der IG Farben erneut in wichtigen Positionen aktiv. Zum Beispiel Heinrich Bütefisch, der den Aufsichtsräten der Ruhrchemie AG und der Deutschen Gasolin AG angehörte. Das ihm vom Bundespräsidenten Heinrich Lübke 1964 verliehene Große Verdienstkreuz musste er allerdings aufgrund anhaltender öffentlicher Proteste wieder zurückgeben.
Heinrich Gattineau wurde Vorstandsvorsitzender der Dynamit Nobel AG, Aufsichtsratsmitglied der Gelsenkirchener Bergwerks AG und der Chemischen Werke Hüls. Im Gegensatz zu Bütefisch durfte er sein Bundesverdienstkreuz behalten, das ihm bereits 1953 verliehen worden war. Fritz ter Meer wurde zum Aufsichtsratsvorsitzenden der Bayer AG berufen, einem ehemaligen Unternehmen »seiner« IG Farben. Zugleich gehörte er dem Aufsichtsrat der Commerzbank und des Mischkonzerns VIAG an, der sich zu jener Zeit im Staatsbesitz befand. Während sich die Kriegstreiber, Organisatoren und Helfershelfer eines millionenfachen Völkermords, sich problemlos wieder in die bürgerliche Gesellschaft integrieren konnten, warteten die überlebenden Zwangsarbeiter meistens vergeblich auf irgendeine materielle Entschädigung für das ihnen zugefügte Leid. Die Herren Gattineau, Bütefisch und ter Meer waren im Kalten Krieg als Experten für die industrielle Hochrüstung und Kriegsvorbereitung wieder gefragt, ihre Opfer wurden dagegen in der BRD bis in die 1990er Jahre beschwiegen.