Gift für Äcker
Dass es den Bienen nicht gut geht, war in den letzten Jahren häufig zu lesen. Einer der hauptverdächtigen Ursachen: Insektizide der Stoffklasse „Neonikotinoide“ wie etwa die BAYER-Wirkstoffe Imidacloprid und Clothianidin sowie SYNGENTAs Thiamethoxam. Doch während man sich allseits um die fliegenden Helferlein sorgt, findet ein Raum kaum Beachtung: Der Boden. Denn der größte Teil der Gifte bleibt dort, wo sich normalerweise eine riesige Zahl von Insekten und anderen wirbellosen Tieren und Mikroorganismen um die Bodenfruchtbarkeit kümmert. Die reagieren meist ebenfalls negativ auf die Gifte. Und das hat negative Folgen, auch für die LandwirtInnen. Denn Studien weisen darauf hin, dass Insektizide den Nährstoff-Kreislauf so stark unterdrücken, dass sogar die Erträge leiden können.
Von Sebastian Tilch
„1:0 für die Bienen“ verkündete Martin Häusling, agrar- und umweltpolitischer Sprecher der Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament. Der Umweltausschuss des Europäischen Parlaments hatte am 22. Juni 2017 mit großer Mehrheit den Vorschlag der EU-Kommission bestätigt, die drei als besonders bienengefährlich geltenden Insektizide aus der Gruppe der Neonikotinoide vollständig zu verbieten und einen Gegenvorstoß der Konservativen damit abgeschmettert. Und das 2:0 kam Ende Februar 2018. Da hatte die Europäische Behörde für Lebensmittel-Sicherheit (EFSA) ihre Risiko-Bewertung der Mittel vorgelegt und festgehalten: „Die meisten Anwendungen neonicotinoider Pestizide stellen ein Risiko für Wild- und Honigbienen dar.“ Aber geschlagen gab sich der Leverkusener Multi damit noch nicht: „BAYER ist mit den Ergebnissen der Risikobewertung der Europäischen Behörde für Lebensmittel-Sicherheit (EFSA) für die Wirkstoffe Imidacloprid und Clothianidin grundsätzlich nicht einverstanden.“ Ob die EU sich dem Votum beugt und die Ackergifte endgültig aus dem Verkehr zieht oder sich auch für eine Verlängerung der Lebenszeit dieser Pestizide wieder willige PolitikerInnen finden lassen, wie es im Fall von Glyphosat mit Christian Schmidt (CSU) der Fall war, bleibt abzuwarten.
Bereits seit 2013 besteht ein EU-weites Verbot für die Verwendung der drei meistverwendeten Neonikotinoide Imidacloprid, Clothianidin und Thiamethoxam. Allerdings nicht flächendeckend, sondern nur für Kulturpflanzen, die von Bienen angeflogen werden, sowie für Mais und Sommergetreide. Ausgenommen sind et-wa Wintergetreide und Zuckerrüben, aber auch Gewächshaus-Kulturen. Die direkte Blattbehandlung ist nur zulässig, sofern sie nach der Blüte stattfindet.
Die Begründung des Verbotes lautet „akute Gefährdung von Bienen“. Der Ausfall dieser Insekten hat Konsequenzen, da diese maßgeblich für die Bestäubung vieler Feldfrüchte und Obstplantagen und damit für die Nahrungssicherheit notwendig sind. So hängen Erntemenge und Qualität von über drei Vierteln der weltweit meist genutzten Nahrungspflanzen voll oder zu einem gewissen Grad von Tier-Bestäubung ab, schreibt der Weltbiodiversitätsrat IPBES.
Seit Anfang der 1990er Jahre werden Neonikotinoide in der Landwirtschaft und in Gärten gegen Schadinsekten wie Blattläuse, Käfer, Mottenschildläuse und Kleinschmetterlinge eingesetzt. Inzwischen sind sie die meistverwendete Insektizid-Gruppe weltweit. Größter Hersteller ist der BAYER-Konzern mit so klangvollen Produktnamen wie CALYPSO (Thiacloprid), ADMIRE bzw. CONFIDOR und GAUCHO (Imidacloprid), oder PONCHO (Clothianidin). Hauptsächlich wird das Gift in Form von Saatgut-Beize angewendet, von wo aus es systemisch in alle Pflanzenteile übergeht – auch in Nektar und Pollen.
Neonikotinoide stören das Nervensystem verschiedener Organismen, vor allem Insekten, indem sie an den Nikotinischen Acetylcholinrezeptor (nAChR) binden und so eine neutrale Reizübertragung behindern. Neonikotinoide sind enorm potent, einige sind bis zu 10.000 Mal giftiger für Bienen als das berüchtigte Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT), das in der EU seit Jahrzehnten verboten ist.
Doch das Gift wirkt nicht spezifisch auf die Schadinsekten. Zwar belegten die Hersteller in Versuchen immer wieder, dass die im Freiland anzutreffenden Konzentrationen in der Regel nicht tödlich für Honigbienen sind, inzwischen ist jedoch klar, dass sie zumindest subletal wirken, also nicht direkt tödlich sind, aber dennoch die Tiere nachhaltig schädigen (1). So hatten die WissenschaftlerInnen unter anderem herausgefunden, dass Honigbienen durch Neonicotinoide auf ihren Flügen die Orientierung verlieren und nicht in den Stock zurückkehren bzw. beim Schwänzeltanz falsche Informationen zu Futterquellen weitergeben. Auch schwächten die Toxine das Immunsystem von Honigbienen und förderten die Ausbreitung von Krankheiten und Parasiten wie etwa der Varroa-Milbe. Dies könne ganze Bienenvölker gefährden, so die ForscherInnen.
80 % weniger Insekten
„Um die Honigbiene mache ich mir gar nicht so große Sorgen“, sagt dagegen Professor Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ). Diese zeigten sich im Verhältnis zu anderen Nichtziel-Arten deutlich weniger empfindlich gegenüber Neonikotinoiden (2). Außerdem würden sie als domestizierte Art ja vom Menschen gehegt und gepflegt. Für die Bestäubung mindestens genauso wichtig hätten sich die vielen anderen Bienenarten gezeigt. So gibt es in Deutschland allein rund 550 verschiedene Wildbienen. Weltweit sind es sogar 20.000. Dazu kommen Schmetterlinge, Fliegen, Käfer usw. Deren Zahl schrumpft derzeit dramatisch, warnte der „Entomologische Verein Krefeld“ vergangenes Jahr. Vergleiche der Bestände in den 1990er Jahren mit den heutigen hatten einen Rückgang von rund 80 Prozent, vor allem von Schmetterlingen, Bienen und Schwebfliegen, ergeben. Als Ursache nennen die AutorInnen unter anderem auch Neonikotinoide.
Nun dürfte der Mehrheit der deutschen LandwirtInnen das Bestäuber-Sterben höchstens ein müdes Schulterzucken abringen. Zumindest aus wirtschaftlicher Sicht, denn lediglich 2,5 Prozent ihrer Erträge hängen laut Weltbiodiversitätsrat IPBES von Bestäubern ab. Dennoch beschränken sich die Kampagnen der Neonikotinoid-GegnerInnen auf die Rettung der Honigbiene. Dabei fällt ein ganzer Lebensraum unter den Tisch, der für die hiesige Ernährungswirtschaft vermutlich noch bedeutender sein dürfte: Der Boden.
So werden laut Silva et al. (3) bei gebeiztem Saatgut nur 1,6 Prozent der Neonikotinoide von der Pflanze aufgenommen. Über 98 Prozent bleiben im Boden und reichern sich dort an. Rückstände davon lassen sich noch bis zu drei Jahre nach der Anwendung nachweisen. Ein Effekt, der von den konventionell arbeitenden LandwirtInnen durchaus geschätzt wird, wirkt er doch längerfristig lästigen Schadinsekten entgegen, die sich an die Pflanzen-Wurzeln heranmachen. Doch indem GAUCHO & Co. den Fraß einiger weniger Organismen verhindern, machen sie auch viele weitere Arten zunichte, deren Leistungen für eine natürliche Bodenfruchtbarkeit nötig sind.
Der Boden wimmelt von Insekten, Milben, Asseln, Würmern und anderen Arten-Gruppen, die den LandwirtInnen buchstäblich den Boden bereiten. Regenwürmer und Ameisen transportieren abgestorbenes Material in verschiedene Erdschichten, lockern dabei die Erde auf und machen sie aufnahmefähig für Luft und Wasser. Tausendfüßler, Asseln und Milben zerkleinern totes Pflanzen-Material. Vor allem aber Mikroorganismen wie Pilze und Bakterien bauen das tote Material ab und überführen die Nährstoffe in einen mineralischen Zustand. Pro Hektar werden auf diese Weise bis zu 15 Tonnen organische Substanz umgewandelt. So entsteht Humus, der den Pflanzen die Nährstoffe zur Verfügung stellt.
„Ohne Bodenorganismen wären die Böden überhaupt nicht ertragfähig“, sagt Hubert Höfer, Bodenökologe am Staatlichen Museum für Naturkunde in Karlsruhe (4). Die Nährstoffe, die durch die Ernte einem landwirtschaftlichen System entnommen werden, könnten durch Düngung ersetzt werden. Ob und wie lange sie aber den Pflanzen zur Verfügung stehen, entschieden die von Bodenorganismen geschaffenen und erhaltenen Strukturen wie Poren, Ton- und Humusgehalt.
Ökosystem Boden leidet
Da Ziel- und Nichtziel-Organismen sehr ähnliche physiologische Eigenschaften besitzen, ist es wenig verwunderlich, dass Neonikotinoide auch im Boden viele „Unschuldige“ treffen. Zumal die Bewohner hier den Giften mitunter wesentlich direkter und vor allem dauerhafter ausgesetzt sind. „Neonikotinoide werden im Zulassungsverfahren der EU wie alle Pflanzenschutzmittel auf repräsentative Arten aller relevanten Lebensgemeinschaften getestet, seien es Vögel, Kleinsäuger, Nichtziel-Arthropoden, Nichtziel-Pflanzen, Wasserlebewesen und auch Bodenorganismen“, meint Prof. Dr. Christoph Schäfers vom „Fraunhofer Institut für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie“. Bei Unsicherheiten oder besonderen Bedenken bezüglich des Wirkmechanismus‘ oder der Anwendungsweise würden weitere Tests bis hin zu Empfindlichkeitsverteilungen zahlreicher Nicht-Standardarten oder Freilandstudien durchgeführt.
Rund 400 Publikationen zu den Auswirkungen von Neonikotinoiden gab es 2012 laut eines Überblicks von Thiel et al. (5), der weitaus größte Teil davon hat die Gesundheit von Menschen und anderen Säugetieren im Blick. Lediglich rund drei Prozent der Studien betrachten Insekten, und hier dominiert wieder die Honigbiene das Feld. Zu Bodenorganismen finden sich in der Literatur einige Daten zur mittleren tödlichen Dosis, Reproduktionsentwicklung und Verhalten. Manche dieser Untersuchungen widmen sich den Regenwürmern. Mit bis zu 80 Prozent der gesamten tierischen Biomasse im Boden sind sie die wohl bedeutendsten Gestalter dieses Lebensraums, zumindest in unseren Breiten. Die neurologischen Prozesse der Regenwürmer laufen ähnlich ab wie die der Insekten und sprechen deshalb ebenfalls auf GAUCHO & Co. an. Imidacloprid, das als die toxischste Substanz unter den Neonikotinoiden gilt (6), heftet sich gerade an feuchte, mit organischen Stoffen angereicherte Bodenkrume an, die Regenwürmer so lieben. Wang et al. (7) schätzen das Mortalitätsrisiko durch Körperkontakt für Regenwürmer um mindestens zehn Mal höher ein als durch orale Aufnahme.
Dass die effektive Konzentration im Boden die letale Dosis erreicht, ist bei Regenwürmern allerdings eher unwahrscheinlich. Die AutorInnen weisen jedoch auf ein klares Risiko für subletale Effekte hin. Schon geringe Konzentrationen im Boden von 0,1 bis 0,5 ppm (Anteile pro Million, Anm. SWB) riefen bei Würmern Gewichtsverlust und Verhaltensveränderungen hervor. Realistische Konzentrationen seien zwischen 0,3 und 0,7 ppm. Die WissenschafterInnen verweisen darauf, dass diese Effekte Auswirkungen auf die wichtigen Funktionen der Würmer im Boden haben könnten. Vor allem fehlten Kenntnisse zu Langzeitwirkungen, da die Stoffe zum Teil lange im Boden nachweisbar seien.
Auch Ameisen krempeln den Boden gehörig um. Sie gehören wie die Bienen zu den Hautflüglern, und entsprechend wirken die Nervengifte auch bei ihnen. Zwar verloren sie in Versuchen von Thiel und Köhler (8) nicht wie Honigbienen die Orientierung, allerdings änderte eine der untersuchten Arten ihr Verhalten auf fatale Weise. So steigerte Imidacloprid die Aggressivität einer eigentlich untergeordneten Art. Die Arbeiterinnen attackierten wesentlich öfter Vertreterinnen einer anderen Art, mit der sie sonst friedlich koexistieren. Dies senkte die individuelle Überlebenswahrscheinlichkeit um über 60 Prozent, was längerfristig das Volk benachteiligen dürfte.
Eine zentrale Rolle im natürlichen Nährstoff-Haushalt spielen Springschwänze (Collembola) – zwischen 0,1 und 17 Millimeter große Insekten, die sich von totem Pflanzenmaterial, Pilzen und Bakterien ernähren. Sie erhöhen die Zersetzungsgeschwindigkeit von Laub um bis zu 30 Prozent (9), unterstützen die Umwandlung von Nährstoffen in aufnehmbare Formen und beeinflussen dadurch auch entscheidend das Pflanzenwachstum (10). Genau diese Artengruppe zeigte sich in verschiedenen Studien als besonders empfindlich gegenüber Neonikotinoiden. Eine dreijähriger Versuch von Peck (11) mit Imidacloprid belegte den Rückgang diverser Gliedertiere, einschließlich Springschwänzen, um 54 bis 62 Prozent. Imidacloprid war dabei zehn Mal giftiger als Thiacloprid.
Weniger Wachstum
Doch was bedeuten die negativen Auswirkungen auf die Bodenorganismen nun für das Ökosystem Boden? Dies ist bisher so gut wie nicht untersucht worden. Einige Studien-AutorInnen vermuten hier entsprechende Auswirkungen auf Funktionen wie Bodenauflockerung und Nährstoffverfügbarmachung, also Leistungen, die wesentlich das Wachstum der Pflanzen beeinflussen.
Eisenhauer et al. (12) beobachteten in einem Freilandversuch mit Chlorpyrifos (das nicht den Neonikotinoiden angehört, aber ebenfalls systemisch wirkt), dass Graspflanzen unter dem Einfluss des Insektizids weniger gut wuchsen als in der Kontrolle. Unter den untersuchten Boden-Tierarten waren Springschwänze die am stärksten dezimierte Gruppe. Insbesondere deren Ausfall und die damit unterbundene Mineralisierung und Verfügbarkeit von Nährstoffen seien vermutlich für das geringere Wachstum verantwortlich, schlossen die Autoren. Das Ergebnis zeige, wie wichtig eine intakte Artengemeinschaft im Boden für das Pflanzenwachstum sei und dass der Wegfall von Nützlingen die Vorteile von Insektiziden mindestens neutralisieren könne, so ihr Resümee.
Insektizide haben aber alle verschiedene Eigenschaften, weshalb man ein solches Ergebnis nicht einfach verallgemeinern könne, meint Christoph Schäfers. Hier bedürfe es stoffspezifischer Untersuchungen. „Sollte ein negativer Effekt auf das Pflanzenwachstum allerdings auch bei Neonikotinoiden zu beobachten sein, wäre dies ein wichtiger Grund, die Auswirkungen auf die Bodenfunktionen in das Zulassungsverfahren einzubeziehen“, meint er. Seines Wissens würde das Pflanzenwachstum unter Insektizid-Einfluss im Gegensatz zu dem unter Herbizid-Einfluss im Prüfverfahren bisher jedoch nicht untersucht.
Mindestens zehn Prozent Mehrertrag stellen die Hersteller der Neonikotinoide den LandwirtInnen in Aussicht – ein Versprechen, das offenbar nicht grundsätzlich einzuhalten sein dürfte. Im Gegenteil: Vermutlich hätte ein vollständiges Verbot von Insektiziden wie Neonikotinoiden kaum Ertragseinbußen zur Folge. Dies lässt auch das Ergebnis einer aktuellen, groß angelegten Studie (13) vermuten, die knapp tausend französische Bauernhöfe auf die Effektivität ihres Insektizid-Einsatzes überprüft hat. Im Schnitt könnten 42 Prozent davon eingespart werden – ganz ohne Ertragsverluste, rechnen die Autor-Innen vor.
Natürlich geht es aber auch nicht nur um die Erträge hier und heute. Unsere Böden müssen auch noch viele weitere Generationen ernähren. Doch deren Qualität sinkt. Durch die Intensiv-Bewirtschaftung gehen laut Bundesverband Boden e. V. in Deutschland pro Hektar und Jahr etwa 20 Tonnen fruchtbaren Bodens verloren, vor allem durch Wind- und Wasserabtrag. Durchschnittlich maximal eine Tonne Humus pro Hektar können jedoch jährlich neu gebildet werden – wenn die Bodenorganismen ihre Arbeit machen dürfen (14).
„Wir vergiften Insekten mit Insektiziden und wundern uns, dass die Vergiftungen wirken“, fasst Peter Neumann, Professor für Bienengesundheit an der Universität Bern, die Situation zusammen. Dass politisch noch immer über die negativen Wirkungen diskutiert würde, ärgert ihn. Neonikotinoide seien unspezifische Insektizide, die Insekten töten oder zumindest gravierende subletale Effekte hätten, was inzwischen hundertfach wissenschaftlich belegt worden sei.
Entsprechend sieht Europa-Parlamentarier Martin Häusling in dem nun von der Kommission vorgeschlagenen Totalverbot von Imidacloprid, Thiamethoxam und Clothianidin lediglich einen Anfang. Denn es sind weitere Stoffe wie Thiacloprid und Acetamiprid auf dem Markt. Außerdem warte die Industrie auf die EU-Zulassung ihrer Weiterentwicklungen wie Cyantraniliprol, Flupyradifuron und Sulfoxaflor mit dem gleichen Wirkmechanismus. Laut der EU-Risikobewertungsbehörde EFSA könnten auch für diese Substanzen Risiken für Bestäuber und andere Gliederfüßer nicht ausgeschlossen werden. Was man tatsächlich bräuchte, sei eine konsequente Anwendung des Vorsorge-Prinzips und somit ein Totalverbot für die gesamte Stoffklasse der Neonikotinoide. Dies sei auch im Interesse der Landwirtschaft selbst, die auf Bestäuber und andere Nützlinge angewiesen sei, so Häusling.
„So funktioniert aber das Zulassungsverfahren von Pflanzenschutzmitteln nicht“, sagt Christoph Schäfers. Im Gegensatz zur EU-Chemikaliengesetzgebung würden im Pflanzenschutz nur bestimmte Anwendungen zugelassen. Im Extremfall könne die Zulassung wieder zurückgenommen werden, wenn Gefahr im Verzuge sei. „Ein komplettes Verbot ist nur möglich, wenn der betreffende Stoff Eigenschaften mitbringt, die eine Risikobewertung unmöglich machen, wie etwa eine sehr hohe Lebensdauer, die Anreicherung im Körper, krebserzeugende, erbgut- oder fruchtschädigende Wirkungen oder wenn nachgewiesen werden kann, dass hormon-ähnliche Wirkungen Populationen bestimmter Organismen gefährden.“ So bliebe kein anderer Weg, als jede neue Neonikotinoid-Substanz durch das aufwändige Zulassungsverfahren zu schleusen. Das sei aus seiner Sicht im Übrigen wesentlich besser als sein Ruf.
Allerdings sollten Zulassungsverfahren auch die Frage nach der generellen Sinnhaftigkeit einer Pflanzenschutz-Maßnahme beantworten können – also nicht nur, ob eine Substanz auf die Zielarten wirkt, sondern auch, ob sie am Ende wirklich zu einem Netto-Ertragszuwachs führt. Dazu ist die Einbeziehung sämtlicher relevanter Ökosystem-Funktionen notwendig, auch die der Bodenlebewesen. Das ist aufwändig, aber bei der Reichweite der ökologischen Konsequenzen nur legitim.
Einstweilen gilt es erst einmal abzuwarten, wie Brüssel auf die von der EFSA vorgelegte Risikobewertung für Imidacloprid, Clothianidin und Thiacloprid reagiert.
Doch selbst wenn sämtliche Neonikotinoid-Anwendungen untersagt würden: Ein Verbot ist immer nur so gut wie seine Umsetzung. Das bisherige Teilverbot jedenfalls brachte der Insektenwelt bisher recht wenig. „Sowohl Absatz- als auch Einsatzmengen von Neonikotinoiden sind trotz EU-Verbot nahezu gleich geblieben, da von den Mitgliedstaaten immer wieder großzügig Ausnahmegenehmigungen beantragt und von der Kommission genehmigt wurden“, sagt Häusling. ⎜
Sebastian Tilch ist Diplom-Biologe und arbeitet am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) als Pressereferent und Online-Redakteur des „Netzwerk-Forums zur Biodiversitätsforschung Deutschland“
(NeFo), das diesen Text auch als erstes veröffentlichte.
(1) Simon-Delso, N.; Amaral-Rogers, V.; Belzunces, L. P.; Bonmatin, J. M.; Chagnon, M.; Downs, C.: Systemic insecticides (neonicotinoids and fipronil): trends, uses, mode of action and metabolites. In: Environ Sci Pollut Res 22 (1), S. 5–34. DOI: 10.1007/s11356-014-3470-y
(2) Rundlöf, Maj; Andersson, Georg K. S.; Bommarco, Riccardo; Fries, Ingemar; Hederström, Veronica; Herbertsson, Lina (2015): Seed coating with a neonicotinoid insecticide negatively affects wild bees. In: Nature 521 (7550), S. 77–80. DOI: 10.1038/nature14420
(3) Lima E Silva, Cláudia de; Brennan, Nicola; Brouwer, Jitske M.; Commandeur, Daniël; Verweij, Rudo A.; van Gestel, Cornelis A. M. (2017): Comparative toxicity of imidacloprid and thiacloprid to different species of soil invertebrates. In: Ecotoxicology (London, England) 26 (4), S. 555–564. DOI: 10.1007/s10646-017-1790-7
(4) www.biodiversity.de/schnittstellen/produkte/interviews/experten/uns-fehlen-flachendeckend-verlassliche-daten-bodentieren
(5) Thiel, Sarina; Köhler, Heinz-R.: A sublethal imidacloprid concentration alters foraging and competition behaviour of ants. In: Ecotoxicology 25 (4), S. 814–823. DOI: 10.1007/s10646-016-1638-6
(6) Alves, Paulo Roger L.; Cardoso, Elke J. B. N.; Martines, Alexandre M.; Sousa, José Paulo; Pasini, Amarildo (2013): Earthworm ecotoxicological assessments of pesticides used to treat seeds under tropical conditions. In: Chemosphere 90 (11), S. 2674–2682. DOI: 0.1016/j.chemosphere.2012.11.046
(7) zit. n. Pisa, L. W.; Amaral-Rogers, V.; Belzunces, L. P.; Bonmatin, J. M.; Downs, C. A.; Goulson, D.: Effects of neonicotinoids and fipronil on non-target invertebrates. In: Environ Sci Pollut Res 22 (1), S. 68–102. DOI: 10.1007/s11356-014-3471-x
(8) Thiel, Sarina; Köhler, Heinz-R.: A sublethal imidacloprid concentration alters foraging and competition behaviour of ants. In: Ecotoxicology 25 (4), S. 814–823. DOI: 10.1007/s10646-016-1638-6
(9) A‘Bear, A. Donald; Boddy, Lynne; Hefin Jones, T. (2012): Impacts of elevated temperature on the growth and functioning of decomposer fungi are influenced by grazing collembola. In: Glob Change Biol 18 (6), S. 1823–1832. DOI: 10.1111/j.1365-2486.2012.02637.x
(10) Filser, Juliane; Faber, Jack H.; Tiunov, Alexei V.; Brussaard, Lijbert; Frouz, Jan; Deyn, Gerlinde (2016): Soil fauna. Key to new carbon models. In: SOIL 2 (4), S. 565–582. DOI: 10.5194/soil-2-565-2016
(11) zit. n. Pisa, L. W.; Amaral-Rogers, V.; Belzunces, L. P.; Bonmatin, J. M.; Downs, C. A.; Goulson, D.: Effects of neonicotinoids and fipronil on non-target invertebrates. In: Environ Sci Pollut Res 22 (1), S. 68–102. DOI: 10.1007/s11356-014-3471-x
(12) Eisenhauer, Nico; Sabais, Alexander C.W.; Schonert, Felix; Scheu, Stefan (2010): Soil arthropods beneficially rather than detrimentally impact plant performance in experimental grassland systems of different diversity. In: Soil Biology and Biochemistry 42 (9), S. 1418–1424. DOI: 10.1016/j.soilbio.2010.05.001
(13) Lechenet M, Dessaint F, Py G, Makowski D, Munier-Jolain N (2017): Reducing pesticide use while preserving crop productivity and profitability on arable farms. In: Nature Plants; Mar 1; 3:17008. Doi: 10.1038/nplants.2017.8
(14) Blume, Hans-Peter; Horn, Rainer; Thiele-Bruhn, Sören (2011): Handbuch des Bodenschutzes. Bodenökologie und -belastung : vorbeugende und abwehrende Schutzmassnahmen. 4., vollständig überarbeitete Aufl. Weinheim: WILEY-VCH