BAYER-Pestizid am Pranger
Ein vergiftetes Leben
Mit dem Verbot des auch von BAYER produzierten, systemisch wirksamen Insektizids Endosulfan im Mai 2011 sollen nun die Bestände, die noch in dem indischen Teilstaat Kerala in der Region der Cashewnuss-Plantagen lagern, vernichtet werden. Jedoch gibt es im gesamten Land dafür weder die optimalen technischen Voraussetzungen, noch scheint der politische Wille vorhanden zu sein, das Verhandlungsergebnis der im vergangenen Jahr verabschiedeten Stockholmer Konvention vollständig umzusetzen. Der Zusammenhang zwischen den Gesundheitsschäden und dem Gift wird von den Befürwortern aus der Chemieindustrie immer noch angezweifelt. Das Agrargift wird weiterhin exportiert und kommt anderswo zum Einsatz. Das Leiden für die Opfer dauert nun seit 35 Jahren an, und für sie ist kein Ende in Sicht.
Von Thomas W. Baier
Kasaragod/Südindien – Das Mädchen heißt Haseena, „die Lächelnde“. Und sie lächelt viel, schaut mit neugierigen Augen in ihrem Zimmer umher, das seit ihrer frühen Kindheit fast alles ist, was sie von der Welt sehen kann. Will sie sich auf dem Bett bewegen, graben sich ihre verkrümmten Füße in die Matratze und schieben ihren verwundenen Körper an die Stelle, an der sie sich am liebsten aufhält: ans geöffnete Fenster. Dabei verzerrt sich ihr offenes Lächeln zu einer angestrengten Grimasse, es ist ein grausamer Kampf gegen ihren verrenkten, verkrümmten Torso. Dann lächelt sie wieder, sie hat sich so bis zum offenen Fenster gerobbt. Das war nicht immer so: Haseena ging früher in die Schule, spielte mit ihren Freundinnen bis sie fünf Jahre alt wurde und das Gift in ihrem Körper zu wirken begann.
Am Fenster steht ihr Vater Karim Shaik und schaut mit leerem Blick durch die Gitterstäbe. Auch er ist verkrümmt, jedoch in seiner Seele. Ihm ist das Leid ins Gesicht geschrieben, die Mimik ist gelähmt vom Gift, die Seele vom Schicksal seiner Tochter. Einzig der 20-jährige Bruder Ashraf Ali scheint unbehelligt, doch leichte Zuckungen verraten, dass das Gift auch in seinem Körper steckt. Alle paar Wochen schüttelt ihn ein unerklärlicher Fieberschub bis auf‚s Mark, und er ist dann tagelang wie gelähmt. Balkise Shaik, die Mutter, kämpft an gegen die Krankheit und die alltäglichen Demütigungen. Sie verteidigt ihre kranke Familie gegen die Gleichgültigkeit der Behörden, der Chemieindustrie und des Schicksals.
Haseenas Distorsionen sind die Folge des nervenwirksamen Insektizids Endosulfan, eine der vermeintlich segensreichen Entwicklungen des deutschen Chemiekonzern HOECHST aus der Zeit, als die Agrarindustrie noch mit dem Schlagwort der „grünen Revolution“ eine bessere Welt schaffen wollte. Überzeugt von den Vorteilen, wurde die Chemikalie der heimischen Unternehmen EXCEL INDUSTRIES Ltd. und HINDUSTAN CHEMICALS Ltd. unter der Patentlizenz der deutschen BAYER AG flächendeckend auf den 6.000 Hektar Cashew-Plantagen von den staatlichen Agrar-ExpertInnen gegen Insektenschädlinge mit Hubschraubern versprüht. Zweimal im Jahr, über 25 Jahre hinweg. Rückstandskontrollen durch das Landwirtschaftsministerium gab es nicht. Der Ort Kasaragod im Norden des Teilstaates Kerala liegt an der geschichtsträchtigen Küste von Malabar in einer der ärmsten Regionen. Der moderat marxistische Staat griff hier regulierend als Unternehmer ein, schuf Arbeitsplätze und vertrat mit dieser Politik nicht nur die Interessen der kleinen LandwirtInnen. Auch Haseenas Eltern arbeiteten auf den Plantagen, ernteten die auffallend leuchtend roten Früchte mit dem außen anhängenden Nusskern, während zweimal im Jahr der Helikopter dröhnend über das Dorf knatterte und seine giftige Fracht über ihren Köpfen ablud.
Balkise und Karim verdienten einen mageren Lohn und gründeten eine Familie. Ihre erstgeborene Tochter ist von dem Gift hochgradig geschädigt, die Arme sind in den Schultergelenken meistens nach oben-, und in den Beugen bogenförmig durchgestreckt und haben so für sie keine Funktion. Sie hat gelernt, einen Stift mit ihren verkrümmten Füßen zu halten und zeigt, dass sie so auf einem Notizblock ein paar Buchstaben zustande bringt. Sie ist eine stolze junge Frau, die auch mit ihrer Schönheit kokettieren kann. Ihre Mutter hat alles Menschenmögliche versucht, um die aussichtslose Situation zu verbessern. Sie hat alle Dokumente unter dem Bett in Haseenas Zimmer hervorgeholt, hat bei den lokalen Behörden vorgesprochen und wurde vertröstet. Sie hat nach Erklärungen verlangt, und die einzige, die sie je erhielt, ist zynisch: Weil ihre Familie in einem gemieteten Haus wohnt, kann sie nach Meinung der Behörden nicht beweisen, dass sie zum Zeitpunkt der Lufteinsätze in der betroffenen Region gelebt hat. Nur so hätte sie einen Anspruch auf ärztliche Versorgung und ein wenig Unterstützung von der Sozialbehörde. Zudem gehören sie als Muslime der sozio-kulturellen Unterschicht Keralas an, die keine Aussicht auf Verbesserung ihrer Lage hat. Balkises tränenvolle Augen schauen durch das Gitterfenster, davor steht ihr Mann und starrt hilflos in das Zimmer.
Bis zu 9.000 Opfer
Im Bezirk gibt es eine Sonderschule. Achtundvierzig mental extrem beeinträchtigte Kinder und junge Erwachsene gehen hier zur Schule. Der Tag beginnt mit einem Lied, das die beiden Lehrerinnen Saline und Suma auf einer Bühne vor den Kindern stehend anstimmen. Es klingt freudig, und jeder hat seinen festen Platz dabei, jeder steht in einem auf dem Boden aufgemalten Kreis. Einige der hinteren Kreise bleiben an diesem Tag leer. Fast jeden Tag fehlen einige der Kinder, weil sie es nicht aus dem Bett schaffen und sie sich verkriechen. 4.880 Personen sind in der Region als Opfer identifiziert, Zahlen zwischen 7.500 und 9.000 werden mittlerweile von ÄrztInnen in der Region als realistisch betrachtet. Zu viele fallen durch das vom staatlichen Menschenrechts-Kommissar zur Anerkennung der von Endosulfan verursachten Schäden vorgegebene Raster. Denjenigen, denen eine Kompensation zusteht, wird mit Betreuung in der Schule und ärztlicher Versorgung geholfen. Es sind schwerste geistige und auch körperliche Behinderungen, die konstatiert werden. Die Schulverwaltung des Distrikts Panjayat spricht von „mental herausgeforderten Menschen“.
Der politisch korrekte Umgangston hat auch in Indien Einzug gehalten und provoziert zu der Frage, ob diese korrekte Form die normal Geforderten vor dem stillen Anspruch der anders Geforderten schützen soll. Keine Frage, jede der in den Betrieb involvierten Personen versucht sein Bestes zu geben, und doch können die rudimentären Bedingungen, unter denen hier sonderpädagogische Arbeit geleistet wird, nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ein Abschiebegleis zur Gewissensberuhigung ist.
Die Dorfpraxis von Dr. Mohanan Kumar inmitten der ehemaligen Plantagen floriert. Es sind nicht die schweren Fälle, die zu ihm kommen, eher die Leute mit kleineren Malaisen. Zu den schweren Fällen geht er zum Hausbesuch. Als Mitglied der indischen Beratungskommission zur medizinischen Forschung ICMR vertritt er im Distrikt eine der Erhebungsstellen, um die Folgen von Endosulfan zu dokumentieren. Die gute Nachricht ist, dass die Schädigungen nach seinen Beobachtungen seit fünf Jahren rückläufig sind, vor allem Kinder sind nicht mehr so stark betroffen. Er verfolgt das Thema seitdem 1974 die ersten Lufteinsätze stattfanden und dokumentierte das Insektensterben, den Verlust der Artenvielfalt und nicht zuletzt die verstümmelten Kinderkörper. Die Konzentration der Lösung betrug 0,1 Prozent und tötete bei jedem Einsatz regelmäßig alles ab, was kreucht und fleucht: für Bienen und andere Insekten, Amphibien und viele Vögel war das eine tödliche Dosis. Seit 1982 konstatierte er die ersten Fälle von Krebs, seither sind 700 Menschen im Distrikt daran gestorben. Und dass Gift wirkt lang anhaltend, da es über das Fettgewebe wie Leber, Nieren, Gehirn und Knochenmark resorbiert wird und dann langsam im Körper seine volle Wirkung entfaltet. Und die schlechte Nachricht? Dr. Mohanan Kumar spricht aus, was andere nicht denken wollen: „Es gibt keine Hilfen für die Spätfolgen. Das Gift wirkt sich auf das Erbgut aus und wird in den nächsten Generationen weiterhin wirken. Die dann auftretenden Symptome wird niemand mehr in Zusammenhang mit Endosulfan stellen. Es wird die Betroffenen zu einem Leben als Bettler auf die Straße zwingen.“
Auch sein direkter Nachbar befasst sich seit langem mit dem Thema. Der Agrar-Journalist Shree Padre schrieb 1979 seine erste Reportage über die Deformationen bei Kühen und machte es an dem chlororganischen Pestizid fest. Er ist als Profi einer derjenigen, die ihre Stimme sehr wahrnehmbar erheben und gegen die Gier der Verursacher wettert. Er wisse als Fachmann, dass zum Verkauf vorgesehene Produkte wie Milch und Honig im Allgemeinen strengeren Auflagen unterliegen, als dies bei Endosulfan der Fall ist. „Die rhetorisch geschulte Lobby führt die Öffentlichkeit seit Jahren absichtlich in die Irre“, steigert er sich im Gespräch hinein, „und der Reigen der Experten erklärt Insektenkundler zu Spezialisten in Sachen menschlicher Gesundheit.“ Ein deutsches Fernsehteam ist aus Neu Delhi angereist und interviewt ihn in einem Waldstück nahe seines Hauses. Das Grundstück liegt paradiesisch in den Hügeln. Der nächste Ort hier heißt Swarg, das bedeutet „Himmel“. Nichts lässt ahnen, dass nicht weit von hier das Unheil Zuhause ist. Vor der Kamera fordert er ganz klar, dass die Verantwortlichen verurteilt und bestraft werden und die Opfer Kompensation erhalten müssen. Ohne Wenn und Aber. „Taim nanda – time‘s out“, sagt er zum Abschied in seiner Landessprache Malayalam, und er münzt es auf die Agrarindustrie.
Die Familie Abubokar ist ein Extrembeispiel. Acht Kinder hat der heute 63-jährige mit seiner Frau Nafeesa zur Welt gebracht und jedes Mal war es ein Hoffen und Bangen, ob es diesmal gut ausgeht. Zwei Söhne sind im Alter von fünf und zwei Jahren an ihren Deformationen gestorben: Unbehandelte Gaumenspalten, verbogene Gliedmaßen und unzählige andere Symptome führten zum Tod. Vier weitere Söhne sind schwer betroffen, aber wunderbarerweise sind die zwei Töchter vollkommen gesund. Der 24-jährige Abdulkabir war am Morgen in der Schule und erkennt das Filmteam wieder. Erst freut er sich, doch als er die Kamera sieht, will er sich schnell verbergen. Dann beginnt er seinem ältesten Bruder Abdulamir aufgeregt in verschlierten Lautbildungen, aber mit viel Temperament von dem aufregenden Schultag mit dem Fernsehteam zu erzählen. Abdulamir ist 36 und war nie in der Schule. Hinter ihm sitzt der zweitälteste Abdulrahman, er ist 27 Jahre alt und hat keine Zähne, sie sind alle weggefault. Der Vater sitzt gebeugt daneben und erzählt uns, dass sie zwar eine offizielle Anerkennung als Opfer bekommen haben, doch erhält er pro geschädigtem Familienmitglied nur 400 Rupien monatlich, das sind für alle vier zusammen knapp 24 Euro. Das Haus hat er mühevoll von seinem Arbeiterlohn aufgebaut, doch abbezahlt ist es noch nicht. Er ist ausgemergelt, er kann die schwere Arbeit nicht mehr verrichten. Nächsten Monat will die Bank die Hypothek kündigen und eine Räumungsklage durchsetzen. Er weiß nicht, wohin er mit seiner Familie gehen soll.
Währenddessen stehen seine Tochter Kadija und ihre Schwester Pathuma mit ihrer Mutter hinter dem Küchenfenster und schauen neugierig auf das Geschehen. Die Ältere ist verheiratet, sie hat Glück gehabt, ihr Mann lebt mit ihr im Elternhaus und unterstützt sie und auch ihre Familie ein wenig. Pathuma ist eine bildschöne Frau mit Lachgrübchen auf der Wange. Sie ist längst im heiratsfähigen Alter und findet keinen Mann. Die Männer haben Angst, dass sie ungesunde Kinder zur Welt bringen könnte, erzählt sie und lächelt beschämt. Als der 26-jährige Bruder Ahemad Kabir, gerade von der Schule kommend, zur Familie stößt, bricht eine gelöste Stimmung aus. Er ist der Sunnyboy, und obwohl auch er schwer von mentalen Defiziten betroffen ist, hat er ein starkes und frohes Wesen, das alle um ihn herum aufmuntert. Am Ende schnattern alle durcheinander, und beim Abschied ist es fast vergessen, dass das Schicksal die vier Brüder solange ihre Eltern leben an die Familie bindet und sie unter anderen sozialen Gegebenheiten keinen Halt mehr fänden. Was nach dem Tod von Abubokar und Nafeesa sein wird, mag sich niemand vorstellen.
Die Endosulfan-Entsorgung
Der nächste Morgen beginnt in der 100.000 Einwohner zählenden Distrikthauptstadt Kasaragod mit lautem Tatütata der Landwirtschaftsminister ist aus der Landeshauptstadt Trivandrum für eine seit langem anberaumte Pressekonferenz angereist. Die VertreterInnen der vom Endosulfan-Skandal betroffenen Bezirke und Gemeinden sitzen im kreisrunden Versammlungsgebäude der Bezirksverwaltung und empfangen die Entourage des Ministers unaufgeregt. Jeder kann sein Anliegen an den Minister K. P. Mohanan richten, sein Sekretär ergreift gerne das Wort zur Replik. Das Mikrofon zirkuliert in der Runde, und die Beschwerden kreisen immer um dieselbe Problematik: Die ärztliche Versorgung ist durch die Minimalausstattung nicht gewährleistet, versprochene Mittel sind nicht verfügbar und Geld kommt nicht an den Stellen an, an denen es gebraucht wird. Zum Thema „Geld“ führt der Minister selbst aus, dass der Umfang an Mitteln in den vergangenen zehn Jahren, als Kerala die Anwendung der Chemikalie als erster Teilstaat Indiens verboten hat, stetig angestiegen sei und insgesamt 186 Crore Rupien ein Crore sind zehn Millionen Rupien und damit umgerechnet etwa 27 Millionen Euro für die Opfer bereitgestellt wurden. Er konstatiert selbstbewusst, die Landesregierung habe die bestmöglichen Voraussetzungen zur Linderung der Not geschaffen. Die Frage des deutschen Fernseh-Korrespondenten, ob er von Opfern wisse, die keine Entschädigung erhalten, wird vom Minister glatt abgebürstet: Solche Opfer kenne er nicht.
Zugleich demonstriert eine Gruppe von ungefähr 40 Müttern und Vätern nun schon den 58. Tag an der Zufahrtsstraße zur Bezirksverwaltung. Es sind keine wütende Menschen, die hier mit vielen Reden und Klagen, und an diesem für sie besonderen Tag auch mit gesungenen Einlagen, ihr Anliegen vertreten. Es sind zutiefst gebrochene Menschen. Auch die Eltern von Haseena sind an diesem Tag da. Sie wollen mobilmachen für eine größere Beteiligung am Tag nach der Pressekonferenz. Es wird ein Sonntag sein, ein Tag, der für sie in die Geschichte eingehen wird. An diesem Tag werden die letzten Fässer des tödlichen Endosulfans in sichere Gebinde verpackt, um endgültig vernichtet zu werden. Es sind die Eltern der Opfer, die keine Entschädigung erwarten können. Die Kolonne des Ministers rauscht an dem bescheidenen Unterstand am Straßenrand vorbei. Der Himmel öffnet seine Schleusen und der Monsunregen prasselt in harten, schweren Tropfen auf die Eltern hernieder.
Auch am darauffolgenden Sonntag Morgen hat der Monsun nichts an Kraft eingebüßt. Das Gelände der staatlichen Pflanzenzuchtanstalt mit seinen Plantagen ist von Polizei und Feuerwehr abgesichert. Das kleine Haus, in dem die Restbestände des Endosulfans lagern, ist umgeben von drei Sicherheitskreisen in den Farben grün, gelb und rot. Im roten Bereich tragen alle Schutzanzüge und Atemgeräte. Seit zehn Jahren stehen hier 950,4 Liter des Giftmülls in vor sich hinrostenden Metallfässern in einem versiegelten Gebäude der Institution, die das Mittel einst vehement propagiert und angewendet hat. Zwei weitere Lagerstätten im Distrikt bergen um die 730 Liter, insgesamt werden 1.683 Liter unschädlich gemacht.
Es brauchte wohl jemanden wie Dr. Mohamad Asheel, der als promovierter Chemiker beim staatlichen Betrieb anfing. Er bezeichnet sich von seiner Herkunft her als ein Teil des Systems. In seiner Auseinandersetzung mit POPs (persistent organic pollutants), zu denen Endosulfan zählt, bekehrte ihn ein Mentor aus Studienzeiten zur Abkehr von der gängigen Praxis. Dessen Name ist C. Jayakumar, ein weltweit gefragter Aktivist. Er ist bei der Versiegelung als Beobachter der „Stockholm Convention“ mit dabei im Gefahrenbereich des Gebäudes. Er steht im Austausch mit dem internationalen PESTIZID AKTIONS-NETZWERK (PAN) und arbeitet mit der Organisation Hand in Hand, auch mit PAN in Deutschland. PAN hat die Aufnahme von Endosulfan in die Liste der verbotenen Stoffe maßgeblich vorangetrieben und leistet darüber fundierte Aufklärungsarbeit.
Nun also kommt der Moment, an dem eine fachgerechte Lagerung die endgültige Vernichtung einleitet. Das Verfahren wird von Dr. Mohamad Asheel, dem zuständigen Task Force Manager so beschrieben: Das flüssige Gift wird aus den alten Fässern abgepumpt und in Kunststofffässer umgefüllt. Dabei wird es mit Sägemehl vermischt, dann in einem chemischen Prozess vom flüssigen in einen festen Zustand überführt. Das nennt der Verfahrensingenieur „Solidifizierung“. Dieser Prozess dauert noch einige Monate, dann kann das Material in einer Sondermülldeponie entsorgt werden.
Noch immer Geschäfte
Weshalb das nicht schon vor zehn Jahren, als das Material eingelagert wurde, geschah? Er meint, dies war unmöglich, weil keine bundesstaatlich gültige Entscheidung zum Verbot bestand. Und Dr. Asheel hat dazu eine dezidierte Meinung. Er ist überzeugt, dass die Befürworter und LobbyistInnen bis zuletzt hofften, das Verbot kippen zu können. Einer der größten Unternehmer des Landes, Vijay Mallay, ist Inhaber der größten Brauerei und der Fluggesellschaft KINGFISHER. Zuvor war er der Leiter von BAYER INDIA Ltd., Tochter des deutschen Lizenzinhabers BAYER AG. Er ist bestens vernetzt in Regierungskreise und wird als oberster Lobbyist beschrieben, der für die Torpedierung des Verbots verantwortlich ist. Und auch der indische Staat selbst hat keine einheitliche Haltung zu dem Thema, denn er ist selbst an den heimischen Chemie-Unternehmen beteiligt. EXCEL INDUSTRIES, HINDUSTAN INSECTICIDES und COROMANDEL sind die drei Großen der Branche im Land, die mit der Agrarchemikalie viel Geld verdienten. Und zuvor war es das deutsche Unternehmen BAYER.
Und das möchten sie auch gerne weiterhin tun. Die Restbestände des chlororganischen Grundstoffes Hexachloroxypopenderol reichen aus, um vier Millionen Liter des Endprodukts herzustellen. Noch wird trotz des weltweiten Verbots durch die am 13. Mai 2011 verabschiedete Stockholmer Konvention kräftig exportiert. Am Tag des Banns vor einem Jahr waren noch 1.090 Tonnen des Stoffs in den Beständen, und die wurden vom Obersten Gerichtshof zum Export freigegeben. Der BRIC-Partner Brasilien, sowie Argentinien und Ecuador sind verlässliche Abnehmer. Auch der Nachbar Bangladesh und Nigeria zahlen gerne viel Geld für den Giftmüll. 10.000 Tonnen pro Jahr produzierten die Unternehmen zuletzt im Land. 70 Prozent deckte EXCEL INDUSTRIES allein ab. Für HINDUSTAN CHEMICALS Ltd. bedeutet der Wegfall der Endosulfan-Produktion einen 70-prozentigen Einkommenseinbruch. Der anhaltende Druck der Lobby auf die Regierung macht es für Dr. Mohamad Asheel umso deutlicher, dass das Landwirtschaftsministerium der Sklave der Industrie ist.
Pradeep Dave, Präsident des „Verbands der Chemischen Industrie“ in Indien geht soweit zu sagen, dass es keinerlei wissenschaftlich Beweise dafür gibt, die den Zusammenhang zwischen den Symptomen und dem Gift belegen können. Im Interview mit dem Fernsehteam sagte er: „Wir haben eine Menge Sympathie für die Menschen in Kerala. Aber dass Endosulfan dafür verantwortlich sein soll, ist nicht zu akzeptieren. Ich bin kein Techniker, aber ich kann sagen: Fehlernährung und Inzucht, das sind die wahren Gründe der Missbildungen.“
Und was wird aus all denen, die keine mächtigen Fürsprecher haben und für die keine Kompensation zu erwarten ist? Haseenas Mutter Balkise sagte zum Abschied, vielleicht bliebe ihr nichts anderes, als sich mit ihrer Tochter das Leben zu nehmen. Bislang bestreitet sie ihren Lebensunterhalt mit der Herstellung und dem Verkauf von bunten Armreifen, doch das reicht nicht einmal für das Nötigste aus. Ihr Mann ist zu apathisch, um einer Arbeit nachzugehen.
Und Vater Abubokar mit seinen vier Söhnen? Wird er demnächst, am Ende seines entbehrungsreichen Lebens, als Bettler im Straßenbild der Distriktkapitale Kasaragod zu sehen sein, vielleicht mit seinen behinderten Söhnen im Schlepptau? Er würde nicht weiter auffallen in diesem Land, das für einige wenige so viel zu bieten hat und für so viele viel zu wenig.
Strafe wg. Endosulfan-Sprühung
In Argentinien verurteilte ein Gericht Ende August 2012 einen Soja-Produzenten und den Besitzer eines Kleinflugzeuges wegen des Versprühens von Endosulfan und Glyphosat zu drei Jahren auf Bewährung. Der Richter befand die beiden für schuldig, gegen die Bestimmungen zum Umgang mit gefährlichen Substanzen verstoßen zu haben. Geklagt hatten Hinterbliebene von Vergifteten, die – wie rund 12 der 40 Millionen ArgentinierInnen – im Umfeld von Soja- und Maisfeldern lebten und so in Kontakt mit den tödlichen Chemikalien kamen.