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[Editorial] STICHWORT BAYER 04/2013

CBG Redaktion

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

zwischen 1933 und 1945 fielen hunderttausende Menschen den „rassehygienischen“ Maßnahmen des NS-Staates zum Opfer. Die Verfolgung eingeläutet hatte das erste NS-Rassegesetz, das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN), das die Kategorie des „lebensunwerten Lebens“ in das Rechtssystem einführte. In der ersten Phase der „Euthanasie“ töteten ÄrztInnen über 70.000 Menschen in als Duschen getarnten Räumen durch einströmendes Gas. Diese Vorläufer der späteren Gaskammern waren in sechs Tötungsanstalten des Reichs eingerichtet, welche die von BAYER mitgegründeten IG FARBEN mit Kohlenmonoxid belieferten, bis Hitler 1941 den Stopp der so genannten Aktion T4 anordnete. Danach mordeten MedizinerInnen und Pflegepersonal durch tödliche Medikamente und Nahrungsentzug weiter.
Nach 1945 hatte das Rassegesetz der Nazis für die Zwangssterilisierten und „Euthanasie“-Opfer oder ihre Nachkommen weiterhin Bedeutung, weil die politischen VertreterInnen in den alliierten Besatzungszonen und später in den Bundesländern mit seiner Existenz unterschiedlich umgingen. Von den Siegermächten hob nur die Sowjetunion das GzVeN auf, von den Bundesländern nur Bayern und Thüringen. Die anderen Zonen bzw. Länder fanden unterschiedliche Gründe, dieses nicht zu tun. Bei der britischen Militär-Regierung hieß es sogar, man könne es vielleicht noch einmal brauchen.
Der „Wiedergutmachungsausschuss“ des Parlaments, dem drei ehemalige NS-Mediziner bzw. „Rasse-Hygieniker“ angehörten, entschied 1961, dass das GzVeN nicht im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen gestanden habe. Darum erhielten die Betroffenen oder ihre Angehörigen auch keine Entschädigungen: Das Bundesentschädigungsschlussgesetz von 1965 erkannte zwangssterilisierte und „Euthanasie“-Geschädigte nicht als Verfolgte des Nationalsozialismus an.
Erst im Dezember 1994 ächtete der Deutsche Bundestag die durchgeführten Zwangssterilisationen und „Euthanasie“-Morde. Und erst am 24. Mai 2007 gelang es dem BUND DER „EUTHANASIE“-GESCHÄDIGTEN UND ZWANGSSTERILISIERTEN (BEZ) nach langen Bemühungen, die Ächtung des GzVeN selbst zu erreichen.
Die jetzt gültige Rechtssituation geht davon aus, dass das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses nie in der Bundesrepublik Deutschland gegolten habe und dass es von Anfang an nicht mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen sei. Dass die historische Entwicklung eine andere war, haben die Opfer in den vielen vergeblich geführten Prozessen um Rehabilitation und Entschädigungsleistungen erfahren, in denen die RichterInnen ihr Leid als „nicht-typisches NS-Unrecht“ eingestuft hatten.
Das spiegelt sich auch in den Entschädigungszahlungen wieder, die Zwangssterilisierte erst seit 1980 und „Euthanasie“-Geschädigte erst seit 2002 erhalten. Als der Bundestag sich 2011 symbolträchtig am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus noch einmal mit dieser Frage beschäftigte, hatten die Betroffenen Hoffnung nicht nur auf Leistungsverbesserungen, sondern auch auf ihre Anerkennung als Verfolgte. Diese sollte sich jedoch als trügerisch erweisen. Nach den Beschlüssen erweiterte sich der Kreis der Anspruchsberechtigten lediglich um drei Personen. Und das Entscheidende bleibt beiden Opfer-Gruppen weiterhin versagt: die ethische und moralische Anerkennung als NS-Verfolgte. Für die Regierung eines demokratischen Landes eine vernichtende Bilanz.

Margret Hamm gehört dem BUND DER „EUTHANASIE“-GESCHÄDIGTEN UND ZWANGSSTERILISIERTEN (BEZ) an.