Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
die Stadt Brüssel hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zur „Lobby-Hauptstadt“ Europas entwickelt. Von den dort ansässigen 15.000 Lobbyisten vertreten rund zwei Drittel die Interessen von Industrie und Konzernen. Immer wieder gelingt es ihnen, Gesetze für Umwelt- und Verbraucherschutz oder für Arbeitnehmerrechte zu verwässern oder zu blockieren. Eine Koalition von mehr als 100 Organisationen aus ganz Europa, darunter ATTAC, GREENPEACE und die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN, hat daher EU-Kommissionspräsident José Barroso in einem Offenen Brief aufgefordert, den exzessiven Einfluss konzern-gesteuerter Lobbygruppen einzuschränken.
Die Chemie-Industrie ist in der Brüsseler „Lobby-Szene“ besonders stark repräsentiert. Unternehmen wie BASF, BAYER, DOW und DUPONT haben eigene Vertretungen bei der EU. BAYER ist zudem Mitglied hunderter von Lobbygruppen, darunter die European Crop Protection Association (Pestizid-Lobby), Europabio (Gentechnik-Lobby) und die European Federation of Pharmaceutical Industries. An der Spitze der Chemie-Propagandisten steht das European Chemical Industry Council – mit 140 MitarbeiterInnen eine der größten und einflussreichsten Lobbygruppen in Brüssel.
Momentan schießt die Chemie-Industrie aus allen Rohren gegen die Bestrebungen der EU-Kommission, Tausende von Chemikalien erstmals auf Umwelt- und Gesundheitsgefahren hin zu untersuchen. Aufgrund des Störfeuers der Konzerne, dem sich auch Bundeskanzler Schröder und BAYER-Intimus Clement angeschlossen haben, musste die EU die geplanten Gesetze jedoch erheblich abschwächen. In der Überarbeitung von REACH befinden sich zahlreiche Schlupflöcher für giftige Chemikalien – sofern sich nicht eine starke Bewegung für eine Erhöhung der Chemikalien-Sicherheit bildet, sind die Aussichten der Initiative sehr schlecht.
Dies ist nur ein aktuelles Beispiel dafür, wie es der Industrie immer wieder gelingt, den Entscheidungsprozess der EU zu manipulieren. Der Offene Brief an José Barroso betont daher, dass Europa vor einem Abdriften hin zu einer Steuerung der Politik durch die Konzerne, wie sie in den USA zu beobachten ist, bewahrt werden muss.
Immer wieder ist zu beobachten, dass EU-Kommissare oder hochrangige EU-Beamte die Seite wechseln und für Lobby-Organisationen arbeiten. Wir fordern daher mehrjährige Fristen, in denen solche Wechsel verboten sind. Darüberhinaus benötigen wir eine strikte Offenlegung der finanziellen Abhängigkeiten aller Lobbyisten. Die EU sollte hierfür eine verbindliche Registrierung aller Lobbyisten einführen, wobei auf Erfahrungen in Nordamerika aufgebaut werdenkann. PR-Firmen und Lobbygruppen, die auf EU-Institutionen einwirken, müssen verpflichtet werden, regelmäßige Berichte zu veröffentlichen, so dass Budgets, Tätigkeitsgebiete und Klienten über öffentliche Datenbanken jederzeit einsehbar sind.
Nur mit Hilfe solcher Schritte ließe sich eine demokratische Kontrolle der europäischen Gesetzgebungsverfahren zurück erlangen.
Erik Wesselius ist Mitarbeiter des Corporate Europe Observatory (Amsterdam), www.corporateeurope.org