Liebe Leserinnen und Leser,
so hatte sich die EU-Kommission das nicht vorgestellt. Für Jobs und Wachstum sollte das Freihandelsabkommen zwischen der EU und des USA stehen, für den zukünftig größten Wirtschaftsmarkt der Welt. Doch seit die Verhandlungen vor einem halben Jahr begonnen haben, dominieren andere Schlagworte Berichterstattung und öffentliche Wahrnehmung: Geheimniskrämerei hinter verschlossenen Türen, Sondergerichtsbarkeit für Konzerne, die Staaten auf Unsummen wegen vermeintlich entgangener Profite verklagen können, Chlorhühnchen und Genfood auf dem Tisch der europäischen Verbraucher. Und auch die Mär vom Wachstum durch den Abbau von Handelsbarrieren ist entzaubert: Ein jährliches Wachstum von gerade 0,05 Prozent in der EU durch das Abkommen, unter günstigen Bedingungen – das besagt ausgerechnet eine von der EU-Kommission selber in Auftrag gegebene Studie des Münchner Ifo-Instituts.
Zwar rudert die EU-Kommission angesichts des gesellschaftlichen Drucks derzeit ein wenig zurück. Dass sie aber vom Verhandlungsziel der „Transatlantic Trade and Investment Partnership“, kurz TTIP (so der offizielle Titel des geplanten Abkommens) abrückt, nämlich Regulierungen, Standards und Gesetze in nahezu allen Bereichen der Wirtschaft und des öffentlichen Sektors anzugleichen, ist nicht zu erwarten. Darum geht es im Kern: Um Regulierungen, Gesetze und Standards, auf die sich die EU und die USA bilateral einigen, nicht um Zölle oder Exportquoten, wie der offizielle Begriff „Freihandelsabkommen“ suggeriert. Vor allem geht es um die Frage, wer die Regeln diktiert, die Gesetze schreibt und die Standards festlegt. Denn was im TTIP festgelegt wird, hat es in sich. Sobald dieser Vertrag in Kraft tritt ist, steht er sowohl über dem EU-Recht als auch über dem Recht der Nationalstaaten. Damit ist TTIP für transnationale Konzerne von strategischer Bedeutung. Er ist das Mittel, endlich die Bestimmungen außer Kraft zu setzen, die ihnen im EU- oder US-Recht schon immer ein Dorn im Auge waren.
Tatsächlich hat die EU-Kommission die Wunschliste der Konzerne und ihrer Lobbygruppen im Vorfeld der Verhandlungen abgefragt; 119 gemeinsame Treffen hat es dafür gegeben, nur einige wenige mit Gewerkschaften und VerbraucherschützerInnen, so berichtet CORPORATE EUROPE OBSERVATORY. Nicht anders sieht es im laufenden Verfahren aus: mehr als 600 Berater aus der Industrie haben Zugang zu wichtigen Dokumenten, die zum Teil nicht einmal den Regierungen der EU-Länder vorliegen, schreibt die Süddeutsche Zeitung.
BAYER als einer der sechs weltweit führenden Gentechnikkonzerne sitzt über Lobbyvereinigungen diesseits und jenseits des Atlantiks mit am Tisch. Deren Positionspapiere wiederum lassen keinerlei Zweifel, wohin die Reise gehen soll – ins Rechtssystem der USA, also: keine Kennzeichnungsregeln für Genfood und kein Vorsorgeprinzip, stattdessen beschleunigte Zulassungsverfahren für Gentech-Pflanzen. Und als Krönung gegenseitige Anerkennung von im je anderen Wirtschaftsraum zugelassene Gentech-Produkte – was in den USA zugelassen ist, wo Behörden lediglich „deregulieren“, also eine Anmeldung entgegennehmen, soll ohne weitere Prüfung und Sicherheitsbewertung auf die EU-Märkte gelungen dürfen. „Harmonisierung“ lautet das Zauberwort. BAYER würde sofort profitieren: Alle Gentech-Pflanzen, die das Unternehmen in der EU vermarkten will, haben eine US-Zulassung.
Bis Ende 2015 sollte das Abkommen unter Dach und Fach sein, so der ursprüngliche Plan des EU-Handelskommissars de Gucht. Dass daraus nicht wird, dafür engagieren sich immer mehr Organisationen quer durch die EU und die USA.
Heike Moldenhauer ist Leiterin der Abteilung „Gentechnik-Politik“ beim BUND FÜR UMWELT- UND NATURSCHUTZ DEUTSCHLAND (BUND)