22. November 2010, Der Spiegel
Missbildungen bei Kindern
Dokumente belasten Pharmakonzern Bayer Schering
Vor dem Beginn eines Verfahrens wegen schwerer Missbildungen bei Kindern sind belastende Briefe aufgetaucht. Nach Informationen des SPIEGEL legen die Dokumente den Verdacht nahe, dass der Pharmakonzern Bayer Schering von den schlimmen Nebenwirkungen seines Medikaments Duogynon gewusst hat.
Hamburg – Der Konzern Bayer Schering Pharma gerät durch neu aufgetauchte Dokumente in Erklärungsnot. Kopien alter Briefe aus den Jahren 1967 bis 1969, in denen sich britische Wissenschaftler mit deutschen Kollegen über schwere Missbildungen bei Kindern austauschen, legen nach SPIEGEL-Informationen den Verdacht nahe, dass der Pharmahersteller Schering frühzeitig über mögliche schlimme Nebenwirkungen des Medikaments Duogynon informiert war.
Manche Frauen, die dieses Präparat in den siebziger Jahren zum Schwangerschaftsnachweis verwendet hatten, bekamen anschließend schwerbehinderte Kinder. Damals diskutierten die Experten etwa die Ergebnisse eines „Ärztemustertests“.
Ein Wissenschaftler schreibt am 13. November 1967: „Die offenkundige Korrelation zwischen der Zunahme geborener Missbildungen und dem Verkauf des Schwangerschaftstests erscheint ziemlich alarmierend.“ Bei der Anwendung des Präparats bei Schwangeren „müssen wir extrem vorsichtig sein“.
„Warum schwiegen die Herren?“
Die Mutter von André Sommer aus Pfronten, der schwer behindert an Blase und Geschlechtsorganen zur Welt gekommen war, hatte 1975 Duogynon verschrieben bekommen. „Warum tauschten sich die Herren intern aus und schwiegen in der Öffentlichkeit?“, fragt Sommer nun.
In der kommenden Woche wird seine Klage gegen Bayer Schering beim Berliner Landgericht verhandelt, einige der jetzt aufgetauchten Papiere werden den Richtern vorgelegt. Der Lehrer will Einsicht in sämtliche Unterlagen zu Duogynon erzwingen. Sie sollen die Grundlage für eine spätere Klage auf Schadensersatz sein.
Etwaige Ansprüche auf Auskunft und Schadensersatz seien längst verjährt, schreibt dagegen der Bayer-Anwalt dem Gericht, zudem bestehe kein Zusammenhang „zwischen der Anwendung von Duogynon und dem Auftreten embryonaler Fehlbildungen“. Der Berliner Anwalt Jörg Heynemann widerspricht. Der Fall sei nicht verjährt, noch vor fünf Jahren habe Sommer wegen seiner Behinderung operiert werden müssen.