Presseinfo im Fall Duogynon
9. Januar 2016
Ein zweiter Fall Contergan?
Evtl. tausende Missbildungen durch Duogynon in den 60er und 70er Jahren? Medien und Wissenschaftler haben Einsicht in die Akten im Landesarchiv in Berlin!
Neue Dokumente, bestehend aus mehr als 7.000 Seiten, aus dem Landesarchiv in Berlin werfen ein dunkles Licht auf Schering bzw. Bayer. Der Konzern schien mehr gewusst zu haben und hat nicht gehandelt. Bis heute versucht Bayer die Ausmaße der damaligen Schering zu vertuschen. Die vertraulichen Dokumente des Pharmakonzerns sind der Öffentlichkeit noch nicht zugänglich, aber Medien und Wissenschaftler können die Dokumente im Landesarchiv in Berlin einsehen. In England findet seit Herbst 2015 eine öffentliche Untersuchung statt! Bayer kann hier noch verklagt werden!
Es ist eine britische Kinderärztin, die 1967 erstmals über einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Medikament Duogynon des Arzneimittelherstellers Schering und Fehlbildungen bei Ungeborenen schreibt. Kinder kamen mit offenen Rücken, Herzfehlern, fehlenden Gliedmaßen, deformierten Därmen oder Genitalien zur Welt. Der Verdacht, den viele Mütter der geschädigten Kinder bis heute haben: Duogynon könnte Schuld sein an ihrem Leid.
Vertrauliche Dokumente zeigen nun, dass Schering Chemicals Limited, das britische Tochterunternehmen des Berliner Pharmakonzerns Schering, damals einen externen Statistiker beauftragte, die Ergebnisse der Wissenschaftlerin zu überprüfen.
Er befand ihren Bericht für „an sich korrekt“ und riet zu weiteren Untersuchungen. Doch die Forschungsabteilung lehnte ab: „Es bestünde die Gefahr, dass eine derart ausgedehnte Studie erst recht die Aufmerksamkeit auf den Verdacht lenken und so zu unerwünschtem Aufsehen führen würde.“
André Sommer ist einer der Betroffenen, er wird 1976 mit einer Blasenekstrophie geboren, seine Harnblase ist außen am Bauch angewachsen. Heute ist er 39 Jahre alt und will wissen, was diese Fehlbildungen verursacht haben könnte. Schätzungsweise gab es europaweit Tausende Betroffene.
Die TAZ zeichnet am Wochenende anhand der Unterlagen das Psychogramm einer der einst mächtigsten Firmen der Bundesrepublik, der spätestens seit Mitte der sechziger Jahre Zweifel an ihrem Produkt bekannt waren. Die sich aber dennoch weigerte, Konsequenzen zu ziehen – vielleicht auch, weil sie gewiss sein konnte, gesetzeskonform zu handeln. Marie Lyon und Andre Sommer waren Detektive in eigener Sache im Landesarchiv in Berlin.
Duogynon war in den Sechzigern eine Innovation. Der Pharmakonzern Schering stellte es als Injektion und Dragee her. Es wurde bei Menstruationsstörungen und als hormoneller Schwangerschaftstest empfohlen – wenn die Regel nach der Einnahme des Mittels nicht einsetzte, galt die Patientin als schwanger. Zweimal klagte André Sommer als Betroffener gegen die heutige Bayer AG auf Akteneinsicht. Zweimal hat er wegen Verjährung verloren. Auch Marie Lyon ist auf der Suche nach Erklärungen. Die heute 69-Jährige brachte 1970 ihre Tochter Sarah zur Welt, deren linker Unterarm fehlt, die Finger wachsen aus dem Ellenbogen. Auch sie hatte während der Schwangerschaft Duogynon genommen.
Im Frühsommer 2015 erhalten Sommer und Lyon wegen persönlicher Betroffenheit schließlich eine Sondererlaubnis, die mehr als 7.000 Seiten mit vertraulicher Korrespondenz des Pharmakonzerns im Landesarchiv Berlin einzusehen.
„Duogynon“, sagt André Sommer, „das ist vielleicht ein zweites Contergan.“ 15 Operationen hat er heute hinter sich, allein wegen des künstlichen Harnausgangs am Bauch. Sommer will Antworten. Wann hatte Schering erstmals Hinweise darauf, dass das Medikament embryonale Fehlbildungen verursachen könnte? Und falls es sie gab: Warum nahm der Konzern das Medikament nicht früher vom Markt? Warum verbot er nicht den Einsatz als Schwangerschaftstest?
Bis heute antwortet der Hersteller nicht auf diese Fragen. Es gibt auch keine Rechtsgrundlage, die Antworten zu erzwingen. Denn, das scheint unbestritten: Das Unternehmen hat nicht gegen geltendes Recht verstoßen.
Deutschland hinkte hinterher.
Doch die vertraulichen Dokumente zeigen, dass es auch intern Beunruhigung über die Wirkung von Duogynon gab. Zwei britische Schering-Mitarbeiter forderten in einem Schreiben schon 1968 weitere Untersuchungen. Ohne Erfolg. 1975, schrieb einer der beiden erneut an die Muttergesellschaft in Berlin: In den „letzten fünf Jahren hat die Arzneimittelüberwachung an Schwangeren ergeben, daß bei denen, die einen hormonalen Test gehabt hätten, ein relatives Risiko von 5:1 bestehe, ein missgebildetes Kind zu bekommen“.
Und auch als die Pillen 1978 in Großbritannien wegen Fehlbildungsgefahr schließlich vom Markt genommen werden, änderte sich in Deutschland wenig. Schering nahm für Duogynon nur die Empfehlung als Schwangerschaftstest zurück und benannte das Präparat um. Erst 1981 wurde es aus dem Handel genommen – mit der Begründung, die Behandlung mit dem Medikament sei überholt.