BAYERs Blut-Skandal
Mit einem neuen Untersuchungsbericht über die verheerenden Folgen virus-haltiger Blut-Produkte von BAYER & Co. in England findet ein Skandal seine Fortsetzung, der Anfang der 1980er Jahre seinen Ausgang nahm.
Von Jan Pehrke
3.000 Tote, 30.000 mit HIV und/oder Hepatitis C infizierte Personen von 1970 bis 1998 in England durch verseuchte Blut-Präparate von BAYER & Co. – so die Bilanz des am 20. Mai 2024 veröffentlichten Untersuchungsberichts. Vor allem Bluter zählten zu den Opfern eines der größten Medizin-Skandale der letzten Jahrzehnte. „Ich muss berichten, dass dies weitgehend, wenn auch nicht vollständig, hätte vermieden werden können“, sagte der ehemalige Richter Sir Brian Langstaff bei der Vorstellung der über 2.500 Seiten starken „Infected Blood Inquiry“. „[J]-ene, die die Verantwortung hatten, die Ärzte, die Blutbanken und mehrere aufeinanderfolgende Regierungen“ klagt er an. Die Pillen-Riesen hingegen verschont Langstaff mit seiner Kritik. So bleibt es Zeitungen wie The Guardian vorbehalten, von der „Gier der pharmazeutischen Unternehmen“ zu sprechen. Eine Strafverfolgung hält die Zeitung eher für unwahrscheinlich, obwohl es in England seit 2007 den Straftatbestand „Totschlag durch Unternehmen“ (Corporate Manslaughter) gibt. „Eine Organisation, auf die dieser Abschnitt Anwendung findet, macht sich einer Straftat schuldig, wenn die Art und Weise, in der ihre Tätigkeiten ausgeübt oder organisiert werden (a) den Tod einer Person verursacht und das (b) auf eine grobe Verletzung einer relevanten Sorgfaltspflicht der Organisation gegenüber dem Verstorbenen zurückzuführen ist“, heißt es im Gesetzestext. Und falls es doch Ermittlungen geben sollte, dann dürften eher die Blutbanken oder die britische Gesundheitsbehörde NHS ins Fadenkreuz der Staatsanwaltschaft geraten als BAYER & Co.
Der Leverkusener Multi plädiert in Sachen „Kapitalverbrechen“ natürlich auf unschuldig. Er spricht in seinem Statement zu dem Report vielmehr von schicksalshaften Ereignissen: „BAYER bedauert zutiefst, dass es zu dieser tragischen Situation gekommen ist und dass Therapien, die von Tochter-Unternehmen BAYERs entwickelt und von Ärzten verschrieben wurden, um Leben zu retten und erträglicher zu gestalten, schlussendlich so viel Leid verursacht haben.“ Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG) stellte das in ihrer Presseerklärung zum Untersuchungsbericht umgehend richtig. „BAYER & Co. haben wissentlich viren-belastete Blut-Präparate verkauft“, hielt die CBG fest.
In dem betreffenden Zeitraum hatte BAYERs US-Tochter CUTTER bei den Gerinnungsprodukten für Bluter eine marktbeherrschende Stellung inne. Das SpenderInnen-Blut für KOGENATE mit dem Blutgerinnungsfaktor VIII und andere Medizin-Produkte bezog sie vornehmlich von Risiko-Gruppen wie Strafgefangenen, Prostituierten und Drogenabhängigen. Die Firma unterhielt in Haftanstalten und in Vierteln mit vielen Prostituierten und Drogenabhängigen sogar eigene Blutabnahme-Stellen.
Bis zu 400.000 Blutspenden führte sie in einem Pool zusammen, was das Auftreten von Kontaminationen fast unvermeidlich machte. Bereits Ende 1982 wusste das Unternehmen um diese Gefahren. „Es gibt klare Belege, die nahelegen, dass AIDS durch (…) Plasma-Produkte übertragen wird“, hieß es in einem internen Firmen-Dokument. Auch forderten einzelne Beschäftigte Maßnahmen, wie aus einem Memo an den CUTTER-Chef Jack Ryan hervorgeht, auf das die „Infected Blood Inquiry“ in dem Kapitel „Das Wissen um das AIDS-Risiko“ verweist. So drang ein Angestellter darauf, auf den Packungsbeilagen entsprechende Warnhinweise anzubringen.
Die Geschäftsleitung reagierte auf solche Appelle nicht. Sie weigerte sich ebenfalls, Tests zum Aufspüren von Hepatitis-Erregern einzuführen, die Hinweise auch auf eine mögliche HIV-Infektion geliefert hätten. Und als eine Methode zur Abtötung der Viren durch Hitze-Behandlung aufkam, tat der Konzern gemeinsam mit anderen Pharma-Riesen alles, um deren Zulassung so lange wie möglich hinauszuzögern, denn er fürchtete, auf seinen Lager-Beständen mit den Faktor-VIII-Präparaten sitzenzubleiben. Zudem schreckte CUTTER vor den Anlaufkosten für die Produktionsumstellung zurück. An langfristige Liefer-Verträge zu festgelegten Preisen gebunden, hätte dies nämlich die Rendite geschmälert. Deshalb startete das Unternehmen eine großangelegte Desinformationskampagne. „AIDS hat in einigen Ländern irrationale Reaktionen hervorgerufen“, schrieb die BAYER-Tochter in einem Brief an LieferantInnen aus Frankreich und 20 anderen Staaten und sprach darin von „substanzlosen Spekulationen, dass das Syndrom durch einige Blut-Produkte übertragen werden könnte“. Sogar per Gericht versuchte sie die Fakten zu bestreiten.
Ab dem Sommer 1984 musste sich CUTTER dann aber ins Unvermeidliche fügen. Immer mehr westliche Industrie-Nationen machten das Hitze-Verfahren obligatorisch. Für die ManagerInnen stellte sich damit das Entsorgungsproblem. „Wir haben noch Unmengen von nicht erhitzten Beständen“, stöhnten sie und entschieden, nochmals „die internationalen Märkte zu beobachten, um zu bestimmen, ob mehr von dem Produkt verkauft werden kann“. Es konnte. Ende des Jahres hatte die BAYER-Tochter bereits 400.000 alte Faktor-VIII-Einheiten in den Fernen Osten geliefert und 300.000 nach Argentinien. Insgesamt exportierte sie noch 25 Millionen Chargen im Wert von vier Millionen Dollar vornehmlich nach Asien und Lateinamerika.
Nicht einmal als das Hongkonger Gesundheitsministerium den Vertriebs-Chef von CUTTER vorlud, weil die Patienten immer mehr Druck machten und auch die Medien auf das Thema aufmerksam wurden, änderten die Verantwortlichen ihre Haltung. Ihre einzige Reaktion: „Wir haben den Universitätsärzten (…) 350 Flaschen des neuen, hitze-behandelten KOATEs besorgt (…) für jene Patienten, die am lautesten jammern.“ In Japan verfiel das Pharma-Unternehmen sogar darauf, die Zulassung des hitze-behandelten KOATE HT hinauszuzögern, um noch möglichst viel von der Altware absetzen zu können. Dem Journalisten Egmont R. Koch gegenüber zeigte ein CUTTER-Beschäftigter späte Reue: „Ich denke, ich habe Fehler gemacht. Ich denke, ich hätte Dinge besser machen können. Und ich denke, unter diesen Umständen, wenn man die Folgen sieht, bin ich froh, jetzt darüber reden zu können“.
Die CBG begleitet der Blut-Skandal bereits seit Jahrzehnten. 1997 nahm sie erstmals Kontakt zu Betroffenen in den USA auf. Im gleichen Jahr erschien im Stichwort BAYER ein Interview mit Todd Smith. Er berichtete dort von dem zähen Ringen der Betroffenen um ein Schuld-Eingeständnis BAYERs und Entschädigungen. „Die meisten von uns konnten sich zunächst gar nicht vorstellen, dass Firmen, die so bedeutende Medikamente produzieren, geradezu schreckliche, von reiner Gier geprägte Entscheidungen fällen könnten“, so Smith. Dann aber machten sie viel Druck. Ab dem Sommer 1996 hielten die Geschädigten im Wochen-Rhythmus Kundgebungen vor dem Konzern-Standort Berkeley ab. „BAYER got profits – we got AIDS“ war auf ihren Schildern etwa zu lesen. Auch der Bluter-Vereinigung „National Hemophilia Foundation“ statteten sie Besuche ab, denn sie tat fast nichts, wofür nicht zuletzt üppige Zuwendungen von BAYER & Co. gesorgt hatten.
Dem Bluter zufolge hat der Leverkusener Multi bei den Auseinandersetzungen um Kompensationszahlungen die Linie vorgegeben: „BAYER, die größte Hersteller-Firma für Gerinnungspräparate in den USA, hat die juristischen Weichen für die ganze Branche bestimmt. Die drei anderen Firmen sind sozusagen Mitläufer. Denn BAYER bestimmte die Gerichtsstrategie.“
Ein Jahr später stellte Todd Smith den damaligen Vorstandsvorsitzenden Manfred Schneider und dessen VorstandskollegInnen auf der BAYER-Hauptversammlung direkt zur Rede. „Viele meiner bluterkranken Mitmenschen in den USA – Tausende – wurden durch BAYER-Produkte infiziert, und Tausende weitere sind weltweit infiziert. Viele von ihnen sind an AIDS gestorben, und viele haben auch miterlebt, wie Ehefrauen und Kinder starben, die unwissentlich von ihren Partnern infiziert wurden. Und das alles durch ein Produkt, das sicher hätte sein können und auch müssen. Herr Schneider, warum hat der BAYER-Konzern seine Kunden bis heute nicht gewarnt, dass sie sich durch seine Produkte mit dem AIDS-Virus infizieren könnten oder dass bei der Herstellung in vollem Wissen auf Blut von Hochrisikospendern zurückgegriffen wurde?“, fragte er damals. Und am Ende gab Smith selbst die Antwort: „So lange Profite wichtiger sind als Sicherheit, werden Menschen ihr Leben verlieren. Tausende tote Bluter sind der Beweis dafür.“
Todd Smith starb im Jahr 2012. Aber den Kampf um Entschädigungen gewann er noch. 1997 kam es zu einem Vergleich zwischen ihm und rund weiteren 6.200 Klägern mit BAYER, ALPHA THERAPEUTICS, ARMOUR PHARMACEUTICAL und BAXTER HEALTH CARE. Die Unternehmen willigten ein, 600 Millionen Dollar zu zahlen, wovon der Leverkusener Multi mit 290 Millionen den größten Teil zu tragen hatte. Nach Abzug der Kosten für die Rechtsbeistände blieben jedem Betroffenen rund 100.000 Dollar. JapanerInnen bekamen höhere Summen, rund 315.000 Euro pro Kopf. Zudem rangen sie dem Global Player eine Entschuldigung ab. In anderen Ländern konnte er sich zu einer solchen Geste allerdings nicht entschließen. Sie entspräche den speziellen Gepflogenheiten in dem Staat, so der Konzern. „In Japan ist es in einer solchen Situation üblich, die Gefühle offen auszusprechen“, erklärte der BAYER-Manager Theo Plitschke. Die damalige Unternehmenssprecherin Christiana Sehnert verwies ebenfalls auf die „kulturellen Gegebenheiten“ in Japan und lehnte eine Wiederholung ab. „Wenn wir uns in Deutschland entschuldigen, ist doch gleich von Schuld die Rede“, so Sehnert. Hierzulande musste BAYER noch nicht einmal die Portokasse antasten. Der Staat übernahm zum größten Teil die Kosten für die monatlichen Renten-Zahlungen an die Betroffenen in Höhe von 750 bis 1.500 Euro. Und in Großbritannien will die Regierung die angekündigten elf Milliarden Euro Entschädigungen auch dem Steuertopf entnehmen. Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN wird jedoch alles dafür tun, dem Konzern eine Beteiligung abzutrotzen. ⎜