Im Jahr 1991 erschien im Stichwort BAYER der erste Artikel zu den Risiken und Nebenwirkungen des BAYER-Antibiotikums CIPROBAY. Seither berichtete es mehrfach kritisch über das zur Gruppe der Fluorchinolone gehörende Präparat und seine „Schwester“ AVELOX. Über Zehntausende von PatientInnen haben diese Medikamente schon Leid gebracht. Als „gefloxt“ bezeichnen sich die Betroffenen selbst. Und so langsam reagieren auch die Aufsichtsbehörden. So hat das „Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizin-Produkte“ im Februar 2017 ein Risiko-Bewertungsverfahren für Fluorchinolone und Chinolone auf europäischer Ebene eingeleitet, dessen Ergebnis die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA im Juli bekannt geben will.
Von Jan Pehrke
„Im Oktober 2009, nur ein paar Tage nach meinem 30. Geburtstag, suchte ich wegen Schmerzen in der Blasen-/Prostata-/Nierenregion meinen Arzt auf. Keiner der (Urin-)Tests deutete auf eine bakterielle Infektion hin, aber er dachte, ich könne Prostatitis haben und traf die folgenschwere Entscheidung, mir das Antibiotikum CIPROBAY zu verschreiben (…) Seitdem bin ich vollständig behindert und unfähig zu gehen“, diese Sätze stehen am Anfang der langen Leidensgeschichte, die der US-Amerikaner Jeff R. vor fünf Jahren im Stichwort BAYER erzählte. Das BAYER-Mittel mit dem Wirkstoff Ciprofloxacin hat sein Leben von Grund auf verändert. „Ich habe alles verloren“, resümiert der junge Mann: „Meine Mobilität, meine Unabhängigkeit, mein Einkommen, meine Ersparnisse, meinen Kreditrahmen, meine Träume, meine Ziele, meine Hobbys, meine Freunde, meinen schmerzfreien Körper, meine Hoffnung, meine Lebensqualität, mein Auto – alles weg! Auch die kleinen Freuden des Lebens – weg.“
Dabei hatte alles ganz harmlos begonnen. Zunächst verspürte Jeff nur einen leichten Schmerz in seiner linken Achillessehne. Bis zum nächsten Morgen intensivierte sich dieser und griff auch auf die rechte Achillessehne über. Nachts konnte der junge Mann plötzlich beide Daumen nicht mehr bewegen. Noch nichts Böses ahnend, folgt der US-Amerikaner dem Beipackzettel-Rat, bei Muskelschmerzen einen Facharzt aufzusuchen. Aber dieser kann ihm ebenso wenig helfen wie die anderen MedizinerInnen, die er danach konsultiert. Die Schmerzen breiten sich sogar noch weiter aus, nehmen bald den ganzen Körper in Beschlag und sparen auch die Seele nicht aus: Jeff R. war „gefloxt“.
Immer wieder sollten die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG) in der Folge solche Krankenberichte erreichen. Für eine Frau etwa begann das CIPROBAY-Martyrium, als sie die Tabletten vor einer Gallen-Operation verschrieben bekam. Bald darauf bildeten sich diffuse Symptome wie Druckgefühle, Durchfall, Müdigkeit, Schwäche-Gefühle und Lendenwirbel-Schmerzen aus. Nach dem Eingriff verschlimmerte sich die Situation noch. Es traten Schweißausbrüche, Krampfanfälle, Leisten- und Hüftschmerzen, Herzrasen, Sehstörungen und Suizid-Gedanken hinzu. „Auch wachte ich oft nachts auf und hatte den Gedanken, mir mit einem großen Messer die Hand abzuhacken“, schreibt die Geschädigte.
Als „das größte medizinische Desaster der US-Geschichte“ bezeichnete der US-amerikanische Mediziner Dr. Jay Cohen CIPROBAY und andere Fluorchinolone aus gegebenem Anlass in seinem 2015 erschienenen Buch zum Thema. Die Zahlen sprechen dabei für sich. Von 1998 bis 2013 verzeichnete die US-amerikanische Gesundheitsbehörde FDA 3.000 Todesfälle. Insgesamt erhielt sie in dem Zeitraum 50.000 Meldungen über Nebenwirkungen. Die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA listet von 2002 bis 2017 allein zu Ciprofloxacin 1.116 Todesfälle und 20.353 Meldungen über unerwünschte pharmakologische Effekte auf. Da die Einrichtungen aber längst nicht alle Gesundheitsstörungen, die in Bezug zu der Einnahme der Präparate stehen, erfassen, spiegeln ihre Angaben nicht die wahre Größenordnung der Schädigungen wider. So konstatiert etwa die „Arzneimittel-Kommission der deutschen Ärzteschaft“: „Wir halten es für möglich, dass eine hohe Dunkelziffer an erfolgreichen Suiziden im Zusammenhang mit der Einnahme von 5-Fluorchinolonen vorliegt.“ Dr. Charles Bennett von der „University of South Carolina“ geht für die Periode zwischen 1997 und 2011 von bis zu 300.000 Todesfällen und 21 Millionen Fluorchinolon-assoziierten Nebenwirkungen aus. In den USA haben diese Folgen von CIPROBAY & Co. sogar schon einen eigenen Namen. Unter „Fluorquinolone-Associated Disability“ (FQAD) subsummiert die FDA den Symptom-Komplex.
Die besonders häufig vorkommenden Lädierungen von Muskeln und Sehnen schrei-ben WissenschaftlerInnen dem Einfluss der Fluorchinolone auf bestimmte Enzyme zu, denn die Präparate regen die vermehrte Bildung von Metalloproteasen an, welche die Gefäßwände schädigen. Die Proteasen hemmen nämlich den Aktionskreis der Proteine Kollagen und Elastin, die für die Dehnbarkeit und Festigkeit der Muskel- und Sehnengefäße sorgen und beschwören so die Gefahr von Sehnen-Entzündungen und Sehnen-Rissen herauf. Auch die Hauptschlagader können die Medikamente durch diese Nebenwirkung versehren und so, wenn die Gefäßwand der Aorta durch den Mangel an Kollagen und Elastin porös wird und Blut in sie einfließt, sogar lebensgefährliche innere Blutungen auslösen.
Das große Ausmaß der Nebenwirkungen führen ForscherInnen unter anderem darauf zurück, dass die Fluorchinolone sich bei ihrem Gang durch den Körper nur wenig wählerisch zeigen und nicht bloß die „bösen“ Zellen wie z. B. Krankheitserreger traktieren, sondern sich auch die „guten“ vornehmen. CIPROBAY & Co. lösen nämlich eine Überproduktion von Sauerstoff-Verbindungen – den freien Radikalen – aus, welche die Zellen nicht neutralisieren können. Sie geraten in „oxidativen Stress“, der ihre Kraftzellen, die Mitochondrien, schädigt. Zudem binden die Fluorchinolone Magnesium, Eisen und andere Stoffe, weshalb diese Substanzen dann nur noch in verminderter Zahl dazu fähig sind, Stoffwechsel-Prozesse in den Zellen anzuregen.
Überdies verrichten die Präparate ihre Arbeit bei der Ausschaltung von Bakterien nicht sauber. Die Krankheitserreger hinterlassen Abbau-Produkte, welche die Bildung von gesundheitsschädlichen Antikörpern fördern. So fanden sich beispielsweise bei Fluorchinolone-PatientInnen solche, die den Zucker-Stoffwechsel stören und eine Diabetes hervorrufen können. Überdies hemmen Ciprofloxacin und andere Pillen dieser Medikamenten-Gruppe Enzyme, welche die Verstoffwechselung von Arzneien im Körper steuern. Dadurch verbleiben unter Umständen hohe Konzentrationen von Pharma-Stoffen im Organismus, was die Gefahr von unkontrollierbaren Wechselwirkungen heraufbeschwört. Dabei steht die pharmakologische Ergründung der verhängnisvollen Folgen der Fluorchinolone noch am Anfang: Ein genaues Bild über die Ursachen der unheilvollen Effekte dieser Heilmittel haben die WissenschaftlerInnen bisher nicht.
Das Stichwort BAYER hat zum ersten Mal im Jahr 1991 über die Risiken und Nebenwirkungen dieser Pharmazeutika berichtet. „CIPROBAY lebensgefährlich?“ fragte das SWB schon damals. Immer wieder widmete es dem Antibiotikum und seiner Schwester AVALOX (in den USA: AVELOX) mit dem Wirkstoff Moxifloxacin in der Folge Artikel. Auch die Coordination setzte das Thema bereits frühzeitig auf ihre Agenda. So lud die CBG 2001 den britischen Mediziner Dr. Stephen Karran zur Hauptversammlung des Leverkusener Multis ein, um den Vorstand direkt mit den gefährlichen Effekten der Mittel zu konfrontieren. Der Chirurg konnte darüber so einiges aus erster Hand erzählen. Er war nämlich an einem Arzneimittel-Test mit CIPROBAY beteiligt, bei dem es zu Todesfällen kam. Weil der Konzern diese vor der zuständigen Ethik-Kommission zu verbergen suchte, verklagte Karran BAYER unmittelbar nach dem AktionärInnen-Treffen.
Das industrie-unabhängige Fachmagazin arzneimittel-telegramm warnte bereits 1990 vor den Fluorchinolonen. „Nach Art, Schweregrad und Häufigkeit haben Ofloxacin, Ciprofloxacin und andere Vertreter der Chinolone-Reihe unter allen marktgängigen Antibiotika die bedrohlichsten unerwünschten Wirkungen“, hielt das Fachblatt fest. Der „Arzneimittel-Verordnungsreport“ sah 1997 Handlungsbedarf und riet „aufgrund der unerwünschten Wirkungen“ zu einer „sorgfältigen Indikationsstellung“. Auch VerbraucherInnenschutz-Verbände und Geschädigten-Gruppen machten bereits vor Jahren gegen die Medikamente mobil. Die US-amerikanische Organisation PUBLIC CITIZEN übte beispielsweise starken Druck auf die „Food and Drug Administration“ (FDA) aus und forderte die Behörde auf, ihrer Aufsichtspflicht in Sachen „CIPROBAY & Co.“ besser nachzukommen. Im Jahr 2008 strengte sie deshalb sogar eine Klage an. Hierzulande entfaltete vor allem das FLUORCHINOLONE-FORUM Aktivitäten. Es schrieb unter anderem einen Offenen Brief an das „Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizin-Produkte“ (BfArM) und reichte eine Bundestagspetition ein.
BAYER aber ficht das alles nicht an. Der Konzern steht in Treue fest zu seinem Pharmazeutikum. „Es setzt neue Maßstäbe in der Klasse der Antibiotika“, behauptet er dreist. 1987 brachte das Unternehmen das Medikament auf den Markt, und fast von Beginn an arbeitete es an einer Ausweitung der Verschreibungszone, um die Renditen zu erhöhen. Je näher der Termin für das Ende des Patentschutzes zu rücken drohte, desto mehr verstärkte der Global Player diese Anstrengungen. Dass CIPROBAY den Status eines Reserve-Antibiotikums innehatte, also nur zur Anwendung kommen sollte, wenn andere Präparate versagen, störte den Pillen-Riesen dabei wenig. Die Erschließung neuer Anwendungsgebiete gelang jedoch nicht immer. Die Versuche zum Einsatz von Ciprofloxacin nach Operationen etwa, an denen Stephen Karran beteiligt war, führten wegen desaströser Ergebnisse nicht zu einer weiteren Zulassung. Oftmals glückte es jedoch, eine Verlängerung des Extra-Gewinne versprechenden „Schutzes des geistigen Eigentums“ zuerkannt zu bekommen. So gab es das Mittel dann bald auch zum Inhalieren für Mukoviszidose-PatientInnen mit chronischer Lungenentzündung. Weitere Indikationen, wie etwa leichte und schwere Harnwegsentzündungen, kamen hinzu. Einige dieser Cipro-Variationen waren dabei nicht ohne: Die aus unerfindlichen Gründen patentschutz-würdige „Innovation“ etwa, die Wirkstoff-Konzentration heraufzusetzen, nur damit das Medikament nur noch einmal statt zweimal am Tag genommen werden musste, dürfte nicht unerheblich zur Erhöhung der gesundheitlichen Risiken beigetragen haben. Aber eben auch zu Profiten en masse: Zeitweilig sorgte CIPROBAY in Tateinheit mit dem Herz-Medikament ADALAT für die Hälfte von BAYERs Pharma-Umsatz. Im Jahr 2015 gingen 3,7 Millionen Packungen von Arzneien mit dem Wirkstoff Ciprofloxacin über die Apotheken-Tische, das Original und Nachahmer-Präparate anderer Hersteller zusammengerechnet. Keine Fluorchinolone-Substanz verordneten die MedizinerInnen öfter: 63 Prozent aller Rezepte schrieben die ÄrztInnen auf diesen Stoff aus. Und erschwerend hinzu kommen noch einmal rund eine halbe Million Packungen Moxifloxacin-Antibiotika wie z. B. BAYERs AVALOX.
Diesem florierenden Absatz konnten bisher auch die Maßnahmen zum besseren Schutz der PatientInnen-Sicherheit keinen Abbruch tun. Weder Anwendungsbeschränkungen noch die Verpflichtung der Hersteller zu deutlicheren Warnungen vor den Risiken und Nebenwirkungen sorgten für merkliche Umsatz-Einbrüche. Die FDA sah sich 2008 – nicht zuletzt durch die Forderungen von PUBLIC CITIZEN – veranlasst, die höchste Alarm-Stufe auszurufen. Die Einrichtung zwang die Konzerne, den Beipackzettel der Tabletten mit einer „Black Box Warning“, dem größten Alarm-Zeichen, zu versehen, um den PatientInnen so unmissverständlich das Risiko von Sehnen-Schäden durch Einnahme der Medikamente vor Augen zu führen. Ähnliche Interventionen folgten in kurzen Abständen. 2011 mussten BAYER & Co. auf die Gefahr von Muskel-Schädigungen hinweisen und 2013 auf die von Nerven-Schädigungen. Im Mai 2016 schließlich schränkte die FDA nach der Analyse von Studien über dauerhafte Gesundheitsstörungen durch Fluorchinolone die Indikationen für CIPROBAY und andere Präparate dieser Medikamenten-Gruppe ein. Bei Bronchitis, Sinusitis und einfachen Formen von Blasen-Entzündungen dürfen die MedizinerInnen diese Arzneien jetzt nur noch verordnen, wenn alle andere Mittel versagt haben.
Das „Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizin-Produkte“ hat ebenfalls 2008 zum ersten Mal auf die Gefahren-Lage reagiert, allerdings nicht in so markanter Weise wie die FDA. Den PatientInnen gleich ins Auge springende Warnschilder auf den Packungsbeilagen kommen für das BfArM nicht in Frage. Es geht lieber den Weg über die ÄrztInnen, informiert diese über neue unerwünschte Arznei-Effekte und belässt es ansonsten dabei, der langen Liste der Risiken und Nebenwirkungen auf den Beipackzetteln weitere Posten hinzuzufügen. Im Falle von AVALOX waren das – mitunter sogar tödlich verlaufende – Leber-Schädigungen und Haut-Erkrankungen. Die „Gebrauchsinformationen“ zu CIPROBAY & Co. erhielten im selben Jahr ebenfalls zusätzliche Einträge. Überdies schloss die Behörde leichtere Erkrankungen wie etwa Nasennebenhöhlen-Entzündungen aus dem Anwendungsbereich aus. Eine weitere Ergänzung erfolgte dann im Jahr 2014 mit dem Hinweis auf Erkenntnisse zu Augenleiden. Zudem stieß das BfArM, angeregt durch den jüngsten Vorstoß der FDA, im Februar 2017 ein europäisches Risiko-Bewertungsverfahren für Fluorchinolone an. „Ziel ist eine umfassende Bewertung von schwerwiegenden und persistierenden (dauerhaften, Anm. SWB) Nebenwirkungen, die überwiegend den Bereich des Bewegungsapparates und des Nervensystems betreffen“, teilt das Institut mit. Mitte Juni findet dazu eine öffentliche Anhörung statt. Einen Monat später will die „Europäische Arzneimittel-Agentur“ dann das Ergebnis der Überprüfung verkünden.
Nach Ansicht der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN darf es die EMA nicht dabei belassen, den unzähligen Fortschreibungen der Packungsbeilagen der Präparate weitere hinzuzufügen. Die CBG fordert stattdessen, die Krankenkassen nur noch für ganz bestimmte Fluorchinolone-Anwendungen zahlen zu lassen und DAK & Co. ansonsten von der Erstattungspflicht zu entbinden. Überdies verlangt sie, die Risiken und Nebenwirkungen dieser Mittel bundesweit auf die Agenda von – pharmaindustrie-unabhängigen – Fortbildungsveranstaltungen für MedizinerInnen zu machen und diese zu verpflichten, ihre PatientInnen vor dem Verschreiben von CIPROBAY oder anderen Fluorchinolonen über deren unerwünschte Arznei-Effekte aufzuklären. Darüber hinaus tritt die Coordination dafür ein, BAYER und den anderen Hersteller der Medikamente aufzuerlegen, einen Fonds für die Fluorchinolone-Geschädigten einzurichten. ⎜