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Der Konzern stürzt immer tiefer in Krise

Marius Stelzmann

Kahlschlag bei BAYER

Im November 2023 verschärfte sich die angespannte Lage beim Leverkusener Multi noch einmal. Dementsprechend arbeitet das Management rund um die Uhr an einer Krisenbewältigungsstrategie. Klar ist bisher nur eines: Die Maßnahme wird Arbeitsplätze vernichten.

Von Jan Pehrke

„Der Kapitalmarkt hat bekommen, was er gefordert hat“, so kommentierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Frühjahr 2023 die Entscheidung des BAYER-Aufsichtsrats, den amtierenden Konzern-Chef Werner Baumann vorzeitig abzulösen und zum 1. Juni durch Bill Anderson zu ersetzen. Und wirklich hatten die Hedgefonds darauf gedrungen, den Vorstandsvorsitzenden nicht bis zum Ende seines Vertrags bleiben zu lassen, weil sie diesem nicht mehr zutrauten, das Unternehmen aus dem MONSANTO-Tief führen und den Aktien-Kurs wieder nach oben treiben zu können.

Mit konkreten Plänen für ein solches Unterfangen hielt der Baumann-Nachfolger allerdings lange zurück. Anderson sprach nur vage davon, beim Leverkusener Multi eine andere Unternehmenskultur schaffen zu wollen. Flachere Hierarchien, weniger Meetings und weniger „Top down“-Management schwebten ihm vor. „Ich habe sehr viel positive Eindrücke gewonnen – insbesondere über die Innovationskraft und die Identifikation mit der Mission. Ein Feedback ist aber auch, dass wir im Unternehmen noch viel Bürokratie haben“, fasste er seine ersten Wochen bei der neuen Arbeitsstelle zusammen. Was genau er unter Bürokratie versteht, konkretisierte der US-Amerikaner dann am 8. November 2023 bei der Vorstellung der Geschäftszahlen für das dritte Quartal, die einen Verlust von 4,5 Milliarden Euro auswiesen: Arbeitsplätze. Dementsprechend kündigte er ein Umbau-Paket an, das „die Belegschaft erheblich reduzieren werde“.

Arbeitsplatzvernichtung

Obwohl die letzte, nach dem Kurs-Sturz der Aktie in der Folge der Glyphosat-Prozesse eingeläutete Rationalisierungsrunde, die 12.000 Jobs kostete, erst im Jahr 2021 auslief, steht beim Global Player also wieder eine beträchtliche Arbeitsplatzvernichtung an. Diesmal setzt der Kahlschlag bei den Beschäftigten mit Leitungsfunktion an, die rund 17 Prozent der rund 100.000 Beschäftigten bei BAYER ausmachen.

„Trotz zahlreicher Umstrukturierungen ist die Zahl der leitenden Angestellten gleich geblieben“, hat Anderson nämlich zu seinem Leidwesen herausgefunden. Als reines Kostensenkungsprogramm möchte er die Maßnahmen jedoch nicht verstanden wissen: „Wir beginnen nicht mit einer Zahl. Wir stellen den Kunden und das Produkt in den Mittelpunkt. Dann schauen wir, welche Ressourcen dafür nötig sind. Alles andere muss weg.“ Und im Handelsblatt findet der Vorstandsvorsitzende drastische Worte für diejenigen, die nicht mitziehen wollen.„Es gibt Leute, bei denen sich alles um ihr Ego dreht oder die keine Lust auf Veränderung haben. Sie können vielleicht in einer traditionellen Arbeitsumgebung effektiv sein, aber sicher nicht in unserer. Wer für diese Veränderung nicht offen ist, wird es bei BAYER schwer haben“, droht Anderson. „Das hat Methode bei BAYER. Stets müssen die Beschäftigten für Fehler des Managements büßen“, kritisierte die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG) deshalb die Pläne des Vorstandsvorsitzenden.

Statt der Annoncierung solcher Einschnitte hatten viele BeobachterInnen von Anderson eigentlich eher Aussagen zur Zerschlagung der Aktien-Gesellschaft erwartet, drängen die FinanzinvestorInnen doch bereits seit Langem auf eine solche Operation. Für Blackrock & Co. ist nämlich das Ganze weniger wert als die Summe seiner Teile. Hier jedoch blieb der BAYER-Boss unkonkret und verwies auf den Kapitalmarkt-Tag im März 2024, an dem der Agro-Riese dann seine Entscheidung bekanntgeben will.

Aber Zwischenergebnisse der internen Beratungen präsentierte der US-Amerikaner bereits. „Einige Optionen sind mittlerweile vom Tisch. So haben wir beispielsweise die Möglichkeit geprüft, das Unternehmen gleichzeitig in drei Teile aufzuspalten. Diese Option schließen wir aus“, bekundete er. Zur Disposition steht jedoch eine Trennung von der Agrar- oder der „Consumer Care“-Sparte. Die Veräußerung der Abteilung mit ASPIRIN und den anderen nicht rezeptpflichtigen Medikamenten erscheint dabei wahrscheinlicher, da sich momentan wegen der Glyphosat-Rechtsrisiken kaum Interessenten für die Division „Landwirtschaft“ finden dürften. Tatsächlich stieß der Konzern nach den teuren Glyphosat-Urteilen auch bereits seine Anteile an dem Chemie„park“-Betreiber CURRENTA, das Tierarznei-Segment, einzelne „Consumer Care“-Produkte und den Geschäftsbereich „Environmental Science“ ab, aber die Trennung von einer ganzen Sparte wäre nicht so einfach. BAYER hat 2016 nach der Abspaltung des Kunststoff-Sektors nämlich seine Holding-Struktur aufgegeben und und die übriggebliebenen Bereiche „Agrar“, „Pharma“ und  „Consumer Care“ wieder enger miteinander verzahnt.

„Der Status Quo ist für BAYER schlicht keine Option“, konstatierte Bill Anderson aber auf jeden Fall schon einmal und versicherte den AktionärInnen: „Es zählt nur, was nachhaltig Wert schafft. Und wenn man überzeugt ist, dass sich ein Geschäft außerhalb von BAYER besser entwickeln kann, muss man entsprechend handeln. BAYER hat übrigens genau das bewiesen, als man sich von Chemie und Kunststoffen trennte.“, resümierte das Webportal Börse Online.

Neue Hiobsbotschaften

Wenig später kamen dann erneut schlechte Zahlen und Nachrichten, die den Druck auf den Konzern noch einmal erhöhten. Am 17. November 2023 verlor BAYER den vierten Schadensersatz-Prozess in Sachen „Glyphosat“ nacheinander. Hier sah er zuletzt optimistischer in die Zukunft, weil er seine Prozess-Strategie geändert hatte. Nur noch bei besonders aussichtsreichen Fällen riskierte die Aktien-Gesellschaft Gerichtsverfahren und strebte ansonsten Vergleiche mit den Krebskranken an. „Aktuell geht es um Abschreckung“, mit diesen Worten umriss das Handelsblatt die Strategie. Und tatsächlich ging diese zunächst auf. Der Agro-Riese gewann neun Prozesse in Folge. Nun aber geht die Abschreckungsstrategie nach hinten los: Viele neue Betroffene sehen sich durch die jüngsten Entscheidungen ermutigt, vor Gericht zu ziehen. „Im amerikanischen Rechtssystem mit Laien-Jurys und emotionaler Prozess-Führung lässt sich leider nicht ausschließen, dass auch mal Prozesse verlorengehen, obwohl wir die wissenschaftlichen Fakten auf unserer Seite haben“, erklärte der Global Player. Er kündigte zwar wacker an, die Urteile anfechten zu wollen, aber die InvestorInnen konnte das nicht beruhigen. Sie mahnten ein Überdenken der Prozess-Strategie an. Und ein weiteres Urteil zu Ungunsten BAYERs, das RichterInnen am 5. Dezember in Philadelphia fällten, bestätigte sie darin.

Zwei Tage später folgte die nächste Hiobsbotschaft, die den Pharma-Giganten noch schlimmer traf. Er musste den Abbruch einer Zulassungsuntersuchung mit seinem Gerinnungshemmer Asundexian bekanntgeben. Es war ein Scheitern mit Ansage: Das Unternehmen begann die klinischen Tests der Phase 3 mit dem Präparat, obwohl die Ergebnisse zweier Prüfungen der Phase 2 enttäuscht hatten. Der Wirkstoff konnte weder die Zahl der Hirninfarkte noch die der ischämischen, also durch verstopfte Hirn-Arterien ausgelösten Schlaganfälle verringern und erreichte die jeweiligen Studien-Ziele nicht. Der Pillen-Riese machte aber trotzdem weiter, weil er unter Zugzwang steht, einen Nachfolger für seine Milliarden-Seller Xarelto und Eylea zu finden, deren Patente bald auslaufen. Und Asundexian hat er seinen InvestorInnen schon als einen solchen präsentiert: Ein Umsatz-Potenzial von fünf Milliarden Euro traute der Global Player dem Mittel zu.

Also ließ er die Versuche „Oceanic AF“ und „Oceanic Stroke“ der Phase 3 anlaufen. Mit insgesamt 30.000 ProbandInnen aus 46 Ländern zählten diese zu den bislang größten – und teuersten – klinischen Prüfungen in seiner Geschichte. Nun aber verkündete BAYER für „Oceanic AF“ das vorzeitige Aus.

Dem Konzern zufolge zeigte sich „eine unterlegene Wirksamkeit von Asundexian im Vergleich zum Kontrollarm der Studie“, deren TeilnehmerInnen ELIQUIS von PFIZER/BRISTOL MYERS SQUIBB erhalten hatten. Ganz freiwillig geschah der Abbruch überdies nicht. Das die Studie beaufsichtigende „Data Monitoring Committee“ war eingeschritten, als sich das negative Resultat abzeichnete, um die Asundexian-PatientInnen nicht länger einer suboptimalen Arznei-Therapie auszusetzen. Aber die Aktiengesellschaft gibt sich noch nicht geschlagen. Sie kündigte an, „Oceanic Stroke“ fortzuführen, und überdies nach Anschlussverwendungen für die Arznei zu suchen, etwa bei „Patienten, die eine antithrombotische Behandlung benötigen“.

Zuvor schon hatte es einen herben Rückschlag für BAYERs Pillen-Sparte gegeben. Das Unternehmen musste den Verkauf seines Krebsmittels ALIQOPA einstellen. Es hatte ein beschleunigtes Zulassungsverfahren durchlaufen und gelangte auf der Basis eines Tests der Phase 2 mit lediglich 104 ProbandInnen auf den Markt. Die nachgereichte Studie der Phase 3 mit einem weit größeren TeilnehmerInnen-Kreis bestätigte die Heil-Wirkung jedoch nicht, was das Schicksal des Medikaments besiegelte.

Die Nachricht vom neuerlichen Pharma-Flop schickte die BAYER-Aktie auf Sinkflug. Zeitweilig verlor sie mehr als ein Fünftel ihres Wertes – das hatten nicht einmal milliarden-schwere Urteile zu Entschädigungszahlungen in Sachen „Glyphosat“ vermocht. Weil das Unternehmen bei dem aktuell schwachen Kurs von kaum über 30 Euro – im Jahr 2015 waren es fast 144 Euro – Opfer von Hedgefonds oder feindlichen Übernahmen zu werden droht, hält Aufsichtsratschef Norbert Winkeljohann nach Informationen der Rheinischen Post gerade fieberhaft Ausschau nach einem verlässlichen Großaktionär.

„Eine Ikone der deutschen Industrie befindet sich in freiem Fall“, konstatierte die FAZ. Die Zeit fragte indessen: „Weltapotheke am Ende?“, und Markus Manns von Union Investment hielt fest: „Der Umgang mit Asundexian ist ein weiteres Beispiel für das Versagen des Risiko-Managements bei BAYER“.

Tatsächlich ruhten alle Pharma-Hoffnungen einzig auf Asundexian. Ansonsten sieht es mau aus. Nur zwei weitere Arznei-Kandidaten des Leverkusener Multis befinden sich aktuell in Klinischen Prüfungen der Phase 3 und drei in solchen der Phase 2. Zum Vergleich: BOEHRINGER als zweitgrößtes bundesdeutsches Medikamenten-Unternehmen kommt auf vier bzw. zwölf. Nach Ansicht von Bill Anderson floss lange Zeit einfach zu wenig Geld in die Pillen-Sparte. „Wir hatten einige Jahre mit Unter-Investitionen bis etwa 2018“, sagte er der Financial Times.

Zur Schadensbegrenzung berief BAYER schon kurz nach der Katastrophen-Meldung eine Telefon-Konferenz mit den Finanz-AnalystInnen ein. Dort gab der Vorstandsvorsitzende sich kleinlaut. „Ich bedaure das zutiefst. Die Ereignisse der vergangenen Tage waren eine große Herausforderung für uns, aber wir sind uns auch der sehr negativen Auswirkungen bewusst, die sie auf unsere Anlieger hatten“, bekundete er. Pharma-Chef Stefan Oelrich gestand derweil: „Wir müssen nun das Spitzenumsatz-Potenzial von Asundexian neu bewerten“ und fügte hinzu: „[A]ber es ist unnötig zu sagen, dass es mit Sicherheit unter fünf Milliarden sein werden.“

Einen nochmals erhöhten Handlungsbedarf erkannten die ManagerInnen des Leverkusener Multis jedoch nicht. „Wir machen es so schnell, wie wir können, aber in einer sinnvollen Art“, erklärte Bill Anderson in dem Telefon-Call: „Wir wollen nicht zu einem Urteil eilen und dabei eine falsche Abzweigung nehmen.“ Auch hat sich die Ausgangslage, die er bei der Vorstellung der Geschäftszahlen für das dritte Quartal 2023 skizzierte, nicht verändert: „Ich denke, die Möglichkeiten sind dieselben.“

Beschäftigte beunruhigt

In der Belegschaft herrscht schon seit Andersons Ankündigung, die Zahl der Beschäftigten „erheblich reduzieren“ zu wollen, Unruhe. Die Meldungen über den Studien-Flop von Asundexian sorgten dann noch einmal für zusätzliche Verunsicherung. Er könnte nämlich das Ausmaß des Kahlschlags erheblich erweitern und nicht mehr nur das mittlere Management, sondern auch andere Stellen betreffen. So wollte BAYER mit Asundexian die neue Produktionsstätte „Solida-1“ in Leverkusen einweihen, zu deren Richtfest der Bundeskanzler Olaf Scholz höchstpersönlich angereist war. „Die Investition beweist großes Vertrauen in den Standort Leverkusen und in die Region als Zentrum der Chemie- und Pharma-Industrie. Projekte wie diese sind entscheidend dafür, dass Deutschland auch im 21. Jahrhundert wirtschaftlich und technologisch zu den globalen Spitzenreitern gehört“, sagte er damals über den Bau.

Mit Asundexian kann der Pillen-Riese das nun kaum mehr demonstrieren, auch wenn er beteuert, das Mittel weiterhin dort produzieren zu wollen und ansonsten auf die Modernität der Fabrik verweist, die schnell auf alle Gegebenheiten reagieren könne. „Solida-1 ist modular aufgebaut und somit flexibel in der Produktion – auch im Hinblick auf künftige Entwicklungen im Pharma-Bereich“, verlautet aus der Konzern-Zentrale. Ob das aber reicht, um alle 100 Solida-1-Arbeitsplätze zu halten, steht sehr in Frage.

„Auch wir prüfen derzeit die Situation“, ließ sich Gesamtbetriebsratschefin Heike Hausfeld deshalb vernehmen. Und in Wuppertal fand am 30. November 2023 eine Betriebsversammlung zum Stand der Dinge bei BAYER statt.

Gegen eine Aufspaltung hatte sich die IG BERGBAU, CHEMIE, ENERGIE schon im Frühjahr ausgesprochen, als aktivistische InvestorInnen eine solche Lösung eingefordert hatten. „Aus Sicht der Beschäftigten ist BAYER mit seinen drei Standbeinen genau richtig aufgestellt für die Herausforderungen der Zukunft“, erklärte Francesco Grioli vom Vorstand der IG BCE damals. „Die Transformation der Industrie bewältigt man nur mit einer Unternehmenspolitik, die auf Risiko-Streuung und Nachhaltigkeit beruht – und nicht auf Hedgefonds-Aktivismus“, so Grioli, der auch im BAYER-Aufsichtsrat sitzt. Ob er die Kapital-Seite in dem Gremium mit dieser Ansicht überzeugen kann, wird sich im Verlaufe dieses Jahres zeigen – dem Jahr der Entscheidung für BAYER. ⎜

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