Bei BAYER in Brasilien herrschen katastrophale Verhältnisse. Dies stellte eine Kommission nach einer Werksbesichtigung fest. Sie fordert umfangreiche Maßnahmen zur Arbeits- und Produktionssicherheit, die bei den Verantwortlichen auf taube Ohren stoßen.
Vor Beginn der Öko ’92 im nahegelegenen Rio de Janeiro, ereignete sich in der BAYER-Fabrik in Belford Roxo ein Unfall. Eine weiße Wolke versetzte die Bevölkerung in einem Umkreis von 5 Kilometern um die Produktionsanlagen in Panik und veranlaßte viele Anwohner in andere Stadtteile zu flüchten. Die Presse und die für solche Unfälle eigentlich zuständige Behörde FEEMA ließen sich von BAYER mit der Behauptung, die Wolke sei ungiftig, abspeisen. Zunächst sah es ganz so aus, als ob BAYER ohne weitere Unannehmlichkeiten davonkommen würde. Doch am 26.6.1992 fand doch noch eine genauere Inspektion der BAYER-Anlagen statt, an der Beamte des Gesundheitsministeriums des Staates Rio de Janeiro, Wissenschaftler der bundesstaatlich finanzierten Stiftung Oswaldo Cruz und Vertreter der ChemiarbeiterInnengewerkschaft von Nova Iquacu, in deren Bereich die BAYER-Fabrik liegt, teilnahmen. Auch drei Landtagsabgeordnete waren bei der Begehung zugegen, darunter der Abgeordnete Carlos Minc, der in ganz Brasilien wegen seiner Umweltaktivitäten bekannt ist. Ziel der Inspektion war nicht nur eine Klärung der Ursachen des Unfall vom 29. Mai, sondern vor allem die Verbesserung des Informationsstands über die Risiken der BAYER-Produktion für Beschäftigte und AnwohnerInnen. Die Besichtigung konnte nur nach einigem Widerstand der BAYER- Geschäftsleitung stattfinden. Der offizielle Bericht der Kommission liegt uns jetzt vor.
Der Bericht kommt zum Schluß, daß die BAYER-Behauptung, die Wolke sei mit Sicherheit nicht giftig gewesen, unhaltbar ist. Die Wolke sei sehr wohl giftig gewesen und die Folgen des Unfalls für die ArbeiterInnen und die Anwohner- Innen noch nicht geklärt, so der Bericht. Die BAYER-Behauptung, menschliches Versagen habe das Unglück verursacht, gibt der Kommission zufolge nur die halbe Wahrheit wieder. Die Inspektion hat eine ganze Reihe betrieblicher Mängel aufgedeckt, die den Unfall mitverursacht haben. Über den Ablauf der Geschehnisse an jenem 29.Mai 1992 brachten die nicht gerade willkommenen BesucherInnen des BAYER-Areals folgendes ans Tageslicht: der Unfall fand in einer Abteilung des Betriebes statt, in der Lackrohstoffe mit dem Handelsnamen Desmodur (L und N) hergestellt werden. In dem Unglücksreaktor mit der Bezeichnung »5 R 23«, aus dem das Gas entwich, wird nur Desmodur hergestellt. Zum Zeitpunkt des Unfalls wurde dort Desmodur L produziert, das sich aus zwei Verbindungen zusammensetzt: Dem Toluoldiisocyanat (TDI), eine gelbe hochgiftige und sehr flüchtige Flüssigkeit sowie einer Mischung von Poliolen (Dietylenglycol und Trimetylpropan). Desmodur wird im Dreischichtbetrieb von 5 Gruppen produziert, die jeweils 7 Tage arbeiten und dann drei Tage Pause haben. Der Beginn der Produktion von Desmodur L im Reaktor 5 R 23 war eigentlich schon für den Morgen des 29.05.1992 vorgesehen. Ein Arbeiter der Frühschicht traf die Vorbereitungen. Die Fässer mit dem Gemisch aus Polyolen befanden sich unter einer Decke, unter der sie mit Dampf aufgewärmt worden waren, da ihr Inhalt sonst zu zähflüssig gewesen wäre. Um Verwechslungen zu vermeiden, wird normaler
weise das Ausgangsmaterial für jeden Reaktor getrennt gelagert. Für jene Fässer aber, die erwärmt werden müssen, steht nur begrenzter Platz zur Verfügung: der Raum unter der Decke sowie ein Ofen mit Kapazität für vier Fässer. Deshalb werden Fässer, die vor ihrer Verwendung erwärmt werden müssen, zusammen gelagert, auch wenn sie für verschiedene Reaktoren bestimmt sind. Auf diese Weise ist es am Unglückstag zu einer folgenschweren Verwechslung gekommen. Eines der Fässer, das der Arbeiter der Frühschicht unter der Decke hervorholte, enthielt statt eines Gemisches von Polyolen die Substanz Desmophen 4051B.
Die Verwechslung ist erst später aufgefallen. Der Arbeiter war zwischendurch anderweitig beschäftigt. Auch die nachfolgende Schicht hatte anfangs einen anderen Auftrag zu erledigen. Als ein Arbeiter schließlich um etwa 17 Uhr damit begann, den Inhalt der Fässer in den Reaktor 5 R 23 zu füllen, in dem sich schon das TDI befand, war höchste Eile geboten. Das Desmodur L nämlich wurde bereits zur weiteren Verarbeitung gebraucht.
Das Faß mit dem Desmophen war als leztes dran. Noch bevor es ganz zugefüllt war, ging wegen der plötzlichen Zunahme von Druck und Temperatur im Reaktor der Alarm in dem betreffenden Sektor los. Die vorgesehene Reaktion findet normalerweise bei etwa 100 °C und ohne Überdruck statt. Diesmal schnellten die Zeiger zum Maximalausschlag von 200°C und 3 Bar hoch. Welche Temperatur und welcher Druck letztendlich erreicht wurden, konnte nicht mehr festgestellt werden. Praktisch im selben Moment ging die Sicherheitscheibe zu Bruch und der Ausgang durch den Sicherheitskamin wurde durch Harz, das durch die unkontrollierte Reaktion (Polymerisation) enstand, verschlossen. Sofort wurden Feuerwehr und Betriebsleitung informiert.
Das Risiko
Die Explosion des gesamten Anlagenteils wurde wahrscheinlich nur durch die geistesgegenwärtige Handlung eines Arbeiters verhindert, der die Halterung des Reaktordeckels lockerte. Als der Druck zu hoch wurde, öffnete sich der Deckel und eine große Menge Gas trat aus. Die Ingenieure von BAYER behaupteten, bei der Reaktion sei Polyuretan (ein Kunststoff) entstanden, das sich in ungiftige Bestandteile zerlegt habe (die Wolke sei daher mit Sicherheit ungiftig). Der Kommissionsbericht indes geht davon aus, daß bei der Zersetzung von Polyuretan bei mehr als 200°C in einer Atmosphäre ohne Sauerstoff hunderte, vielleicht sogar tausende von verschiedenen Gasen, darunter auch giftige, freiwerden können.
Die Opfer
„Einige Mitglieder der Kommission interviewten die AnwohnerInnen des BAYER-Werkes. Daraus ergibt sich folgendes Bild: Am Tag des Unfalls nahmen fast alle einen starken, unangenehmen Geruch und eine dichte Rauchwolke wahr, die die ganze Gegend bedeckte und eine Panik auslöste. Viele AnwohnerInnen rannten verängstigt und schreiend auf die Straße hinaus. Andere verließen sofort ihre Wohnhäuser um weiter entfernt liegende Orte, wie die Häuser von Freunden und Verwanden in Nachbarvierteln, aufzusuchen. Viele schlossen sich ein und legten sich feuchte Tücher auf das Gesicht. Es kam zu Husten, Reizung der Augen und Atemwege, Kopfweh und bronchitischen Anfällen, wovon besonders Kinder betroffen waren. BAYER hat es unterlassen, an die Personen, die ratsuchend anriefen, Informationen zu geben. Auch sonst hat man nichts unternommen, die Bevölkerung zu schützen oder zu warnen. Stattdessen hat BAYER eine Brücke, die den Zugang zum Betrieb bildet, geschlossen, was unter den AnwohnerInnen zusätzlich Unruhe schuf. Immerhin hatten viele von ihnen Verwandte und Freunde im Betrieb.
Einige AnwohnerInnen erklärten, daß sie nach dem Unfall eine Abnahme der Zahl der Vögel beobachtet hätten, daß Pflanzen gelb geworden und Haustiere ohne erkennbaren Grund gestorben seien. Die Befragung ergab zudem, daß die Bevölkerung den BAYER-Betrieb mit Umweltverschmutzung, Erkrankungen der Haut und der Atemwege, sowie Allergien und Atem- erkrankungen bei Kindern in Verbindung bringen. Auch lastet man die Tatsache, daß die Früchte in der Gegend nicht reifen, dem BAYER-Werk an.
Das wirkliche Ausmaß der gesundheitlichen Folgen des Unfalls vom 29.05.92 festzustellen, ist aufgrund des mangelhaften Gesundheitswesens in Belfort Roxo nicht möglich. Die Kommission wirft BAYER vor, den Unfall systematisch heruntergespielt zu haben. Die Möglichkeit einer Explosion schließe man, so der Vorwurf, grundsätzlich aus. Dies, obwohl sie wahrscheinlich nur durch die geistesgegenwärtige, nicht vorhersehbare Reaktion eines Arbeiters verhindert wurde. Die Wolke sei als ungiftig eingestuft worden, ohne daß man ihre Zusammensetzung genau gekannt habe. Ein Vorarbeiter habe bei der Begehung, also vier Wochen nach dem Unfall, sogar behauptet, der betreffende Fabrikteil wäre seit 67 Tagen unfallfrei.
Die Forderungen
“Der Kommissionsbericht sieht zwischen der Verharmlosung des Unfalles und der Praxis der Nichtanerkennung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten bei BAYER einen direkten Zusammenhang, der sich auch im allgemeinen Umgang mit Problemen der Arbeitssicherheit im Betrieb widerspiegelt. Er wirft BAYER vor, aus Unfällen nicht die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Notwendig wären eine Erhöhung des Personalstandes entsprechend der Zunahme der Produktion und eine bessere Ausbildung des Personals, insbesondere auch bei von BAYER beauftragten Leihfirmen, die einen großen Teil der Belegschaft stellen. Die Kommission fordert weiter die Erstellung eines Notfallplanes, an dem die umliegende Bevölkerung und die zuständigen Institutionen beteiligt werden. BAYER soll endlich die Gesundheitsmaßnahmen für die AnwohnerInnen finanzieren, die wegen der BAYER-Produktion und der damit verbundenen Gefahren notwendig sind.
Die Kommission besichtigte auch noch andere Betriebsteile. Fast immer gerade dann, wenn sie auftauchte, war die Produktion gerade unterbrochen worden. Meist mit ziemlich fadenscheinigen Begründungen. Die ArbeiterInnen, so der Bericht, seien sichtlich eingeschüchtert gewesen und hätten selbst über die Tätigkeiten, die sie in dem Moment ausführten, nur zögernd Auskunft gegeben. Trotzdem wurden zahlreiche weitere Sicherheits- mängel festgestellt und BAYER entsprechende Auflagen gemacht. Für die Kommission war die Betriebsbesichtigung nur der Anfang einer langfristigen Auseinandersetzung mit BAYER in Belford Roxo. Alle Betroffenen und die zuständigen Behörden sollen zusammengeführt werden, um eine Verbesserung der Situation zu erreichen.