Presseerklärung, Dezember 1995
Ideologiegesteuerte Dichtung: Vorbilder am Zuckerhut
In ihrem Artikel Im Land des Zuckerhuts: Aus Dreckschleudern wurden Vorbilder vom 9.10.95 veröffentlichte die FAZ eine Laudatio auf deutsche Multinationale Konzerne, die nach ihren Angaben in Brasilien genauso umweltbewußt seien wie in Deutschland. Dabei stützt sich die FAZ offensichtlich ausschließlich auf Pressemeldungen der entsprechenden PR-Abteilungen der genannten Konzerne. Gespräche mit Arbeitnehmervertretern oder Umweltorganisationen vor Ort hat der Verfasser Martin Gester offenkundig nicht geführt. Äußerungen von Beschäftigten deutscher Firmen in Brasilien, die im Sommer zu einem Austausch in die Bundesrepublik gekommen waren, verdächtigte er der ideologiegesteuerten Dichtung.
Nicht Dichtung, sondern Wahrheit ist, daß für das hochgelobte Bayerwerk in Belford Roxo bei Rio de Janeiro im letzten Jahr eine staatliche Untersuchung angeordnet wurde, weil mehrere Un- und Störfälle, Beschwerden von Anwohnern und der Gewerkschaft nicht mehr unter den Tisch gekehrt werden konnten:
Die Anzeige und die Berichte geben Aufschluß über den fortgesetzten Verstoß gegen grundlegende Vorschriften der Arbeitssicherheit und Gesundheit durch das Unternehmen, von der Nichtanerkennung von Berufskrankheiten und Arbeitsunfällen durch das Unternehmen, von der Anwendung der obersten Grenzwerte und der Durchführung von Arbeitszeiten, die über der gesetzlich erlaubten liegen, von der Vergabe spezialisierter und gefährlicher Arbeiten an Dritte und von Restriktionen der Inspektions- und Überwachungstätigkeit betreffender Kommissionen seitens des Unternehmens. (Auszug aus dem Anordnungsbescheid vom 03.Juni 1994 der Regionalen Staatsanwaltschaft am Arbeitsgericht, Rio de Janeiro)
Von Umweltorganisationen wurde Bayer 1993 der Platz vier der „Schmutzigen Sechs“ im Bundestaat Rio de Janeiro verliehen und dem deutschen Konsul ein Dossier mit einer Vielzahl von konkreten Vorwürfen und Beschwerden über „Doppelte Standards“ überreicht. Alles Ideologie? Oder stimmt es, daß gegen das brasilianische Gesetz zur Abfallreduzierung verstoßen und die Emmissionen nicht in dem Maße wie in Deutschland verringert wurden? Im Dossier wird auch von Dokumenten über illegale Einleitungen in einen Fluß berichtet.
Daß Bayer den Fluß Sarapuí und damit die Guanabara-Bucht sehr wohl verschmutzt hat, gab der damalige Werksleiter Wolfgang Mühlhaus 1993 noch selber zu. Leugnen hätte auch keinen Zweck gehabt, da es in einer Studie der Umweltbehörde dokumentiert ist. Mit eigenen Ohren haben auch deutsche Betriebsräte 1990 vor Ort gehört, daß die Funktion der Kläranlage aufgrund von infrastrukturellen Schwierigkeiten deutlich eingeschränkt war.
Moderne Produkte und Anlagen?
Martin Gester hätte auch mit den Angehörigen von zwei im letzten Jahr tödlich Verunglückten über die Vorbildlichkeit von Bayer sprechen können. Obwohl die beiden Chemiearbeiter in einem Tankwagen auf dem Werksgelände erstickten, verlegte Bayer ihren Tod auf außerhalb des Werkes, um den entsprechenden Konsequenzen wie Untersuchungen und Schadensersatz zu entgehen. Acht Menschen starben in den letzten sechs Jahren in einem Werk mit 2500 – 1600 Beschäftigten, drei allein an Verätzungen mit Schwefelsäure. Darüber hinaus gab es Kontaminationen mit Phosgen, Chrom und sehr giftigen Phoshorsäureestern. Mit solchen Zahlen kann selbst das Riesenwerk in Leverkusen mit seinen ca. 30.000 Beschäftigten nicht aufwarten. Noch Ende September gab es in Belford Roxo einen Brand mit so einem „modernen“ Produkt wie Parathion, einem Abkömmling von E605. Diese Chemikalie wurde auf Grund ihrer hohen Toxizität von der WHO in die Klasse Ia, extrem gefährlich, eingestuft. Und der interessierte Leser kann sich fragen, wohin ein Teil des kontaminierten Löschwassers geflossen ist. Gibt es eine separate Kanalisation oder Auffangbecken, wie sie in deutschen Bayerwerken nach der Sandoz-Katastrophe gebaut wurden? Die schlichte Antwort ist, nein!
Der Aussage der FAZ, daß es sich in Belford Roxo ausschließlich um moderne Anlagen handele, hat Bayer in der kürzlich beendeten Lohnrunde selbst widersprochen. Es wurde nämlich dargelegt, daß die Chromatanlage deutlich unmoderner und somit weniger rentabel als die in Argentinien sei. Und Investitionen seien in Gefahr, wenn höhere Löhne gefordert würden. In Malaysien sei nämlich alles viel billiger. Betriebsratsmitglieder von deutschen Bayerwerken forderten schon 1990 für den problematischen Chromatbetrieb Erneuerungsinvestitionen. Und welche modernen Produkte sind gemeint? Phosgen, Schwefelsäure, Chlorbenzol, Phosphorsäureester, Dichromate, Isocyanate? Mindestens seit dem 1. Weltkrieg bekannt!
Und nun zu der ebenfalls vorbildlichen Bayertochter Tibrás, die in der FAZ zu Recht als „Leverkusener Schandfleck“ bezeichnet wurde. Ob die Verbesserungen der Umweltlage mit dem stärkeren Engagement von Bayer oder den enormen Protesten vor Ort zu tun haben, wollen wir mal dahingestellt lassen. Fakt ist, daß die Kinder sich im schwefelsauren Strand (durch die Abfälle der Titandioxidproduktion) in Werksnähe die Füße verätzten. In einer Pressemitteilung wiesen Beschäftigte auf den Widerspruch zwischen dem werbewirksamen, von Tibrás und anderen Firmen gesponserten Naturschutzpark für Meeresschildkröten und ihren Arbeitsbedingungen hin. Unter der Überschrift „Schildkröten wollen Petrochemiker schützen“ berichteten sie von ihren Berufskrankheiten und Vergiftungen, die im Gegensatz zum Schicksal der Schildkröten, kaum jemanden interessierten.
Produktionsfaktor Mensch
Apropos Berufskrankheiten. Obwohl an einer Berufskrankheit leidende Mitarbeiter einen Kündigungsschutz von einem Jahr haben, wurden sie von Tibrás einfach vor die Tür gesetzt. Der Lohn für das eine Jahr, der den Gekündigten mindestens zusteht, wird oft genug auch noch heruntergehandelt. Bei einer Entlassungswelle Anfang der Neunziger mußten 40% der Kündigungen zurückgenommen werden, weil die Betroffenen „zufällig“ an einer Berufskrankheit litten. Die Einsicht in ihre werksärtztlichen Untersuchungsergebnisse mußten die Arbeiter vor Gericht durchsetzen. Eine andere Ungerechtigkeit prangerten 280 Arbeitnehmer und ehemals Beschäftigte letztes Jahr vor dem Werkstor des Unternehmens an. Vierzehn Jahre lang waren ihnen Lohnbestandteile wie Überstundenprozente und Schichtzulagen vorenthalten worden, auch dann noch, als sie durch alle Instanzen vor Gericht gewonnen hatten. Was dieser Lohnraub für die Betroffenen bedeutet, können alle die ermessen, die sich ein bißchen in Brasilien auskennen. Schändlich ist auch, daß der rasante Personalabbau natürlich nicht mit einem Sozialplan abgewickelt wurde, sondern indem man langgediente Kollegen zwei, drei Jahre vor ihrer Rente rausschmiß, und sie damit um einen großen Teil ihrer Rentenansprüche brachte. Im Oktober lieferte Tibrás ein weiteres Beispiel von Vorbildlichkeit. Zwei Beschäftigte erlitten Verbrennungen z.T. dritten Grades bei einer Reparatur eines mit Röntgenstrahlung arbeitenden Gerätes. Der Arzt, der die Betroffenen zuerst untersuchte, verlangte die gesetzlich vorgeschriebenen Anzeige dieses Arbeitsunfalles. Er wurde fünf Tage später entlassen, nachdem ihm eine werksärztliche Kollegin sagte, es handele sich bei den Verletzungen lediglich um banale allergische Reaktionen. Tibrás mußte sich von der staatlichen Atombehörde eines besseren belehren lassen und reichte die Unfallmeldung auf Druck der Gewerkschaft mit zehntägiger Verspätung rückdatiert ein. Soweit zu der Vorbildlichkeit der Bayertochter Tibrás.
„Was für Bayer gilt, dürfte auch für die brasilianischen Hoechst- und BASF-Werke gelten“, schreibt die FAZ. Wie wahr! So verstieß die BASF-Tochter Glasurit 1990 gegen den Standard des Asbest-Verbotes. Deutschen Betriebsräten, die gerade in den heimischen Werken die Asbestsanierung begleiteten, wurde bei einer Werksbesichtigung vom Werksleiter Roth erläutert, daß das brasilianische Gesetz kein Verbot ausspräche und er somit keinen Handlungsbedarf sähe. Doppelter Standard und Menschenverachtung, wie die deutschen Kolleginnen und Kollegen fanden.
Gewerkschafter unerwünscht
Auch was Arbeitnehmerrechte angeht, sind die Multis kein Ruhmesblatt. Erst nach langen Protesten gaben Bayer und BASF ihren Beschäftigten die Möglichkeit, eine betriebliche Interessensvertretung, die nur minimale Rechte hat, zu wählen. Hoechst will damit bis heute nichts zu tun haben. Auch die lange Liste von mit Kündigung bestraften Gewerkschaftern, die ihr immer wieder vorgehalten wird, kümmert sie nicht. So gibt es aktuell zwei Verkäufer in Rio und zehn Gewerkschafter in Suzano, die für ihre gewerkschaftlichen Aktivitäten büßen müssen. Bei dem Besuch der Brasilianer im Sommer sagte der Delegationsleiter und Generalsekretär der Chemiegewerkschaft im Industriegürtel von São Paulo: „Wir würden ja gerne wie Ihr sozialdemokratisch werden, aber man läßt uns einfach nicht. Die Repression läßt uns immer wieder spüren, daß es keinen partnerschaftlichen Umgang gibt.“ So zum Beispiel 1989 beim Streik bei Bayer Belford Roxo, bei dem die Militärpolizei gerufen, und kurz darauf der damalige Werkschutzleiter mit einem militärischen Orden ausgezeichnet wurde, was noch groß in der Werkszeitung gefeiert wurde. Darüber hinaus wurde die gesamte Gewerkschaftsleitung entlassen. Glasurit kündigte ebenfalls Gewerkschaftsaktivisten. Einige wurden mit Unterstützung aus Deutschland wieder eingestellt. Aber Eduardo Machado von Boehringer Ingelheim wartet mit seinen Hoechst-Kollegen bis heute auf Gerechtigkeit.
Daß Fehltritte sich für die Firmen, wie Martin Gester schreibt, nicht lohnten, können wir nicht erkennen. Wir sehen nur, wie sie von der FAZ reingewaschen werden. Gester scheinen sie nicht mal die Mühe einer sorgfältigen Recherche würdig. Was heutzutage zählt, ist internationaler Wettbewerb. Da darf man als Sprachrohr der Chemiemultis die Bedingungen dieses immer rasanter werdenden Wettlaufs natürlich nicht hinterfragen. Als reiche es nicht, daß die brasilianischen Beschäftigten unter den schlechteren Bedingungen leben, müssen sie sich auch noch der Demütigung eines deutschen Journalisten aussetzen, der sein journalistische Berufung darauf beschränkt, Hofberichterstattung zu betreiben. Im übrigen geht es sowohl den deutschen als auch den brasilianischen Beteiligten an dem Chemiearbeiteraustausch nicht um eine generelle Verteufelung von Multinationalen Konzernen, sondern darum, sie beim Wort zu nehmen, damit sie ihre werbewirkamen Erklärungen auch in die Praxis umsetzen und die Gesundheit und die Umwelt nicht als Standortfaktoren mißbrauchen.
Und noch eines möchten wir festhalten. Auch deutsche Betriebsräte und Gewerkschafter werden bedroht, damit sie interne Sicherheitspannen nicht an die Öffentlichkeit tragen. Treuepflicht nennt sich das. Sind die hiesigen Chemiebetriebe denn überhaupt vorbildlich? Die Störfälle bei Sandoz, Hoechst und gerade aktuell wieder bei der BASF zeigen doch, daß auch hier noch einiges zu verbessern ist, und dem Druck dieser Firmen nach Aufweichung von Gesetzen und Vorschriften nicht nachgegeben werden darf.
Ulrich Franz, Chemiekreis
Fritz Hofmann, BASF
Hilde Idziaschek, Merck
Heinz König, Ökumenischer Arbeitskreis Internationale Solidarität, Rüsselsheim
Hans-Werner Krauß, Hoechst, Betriebsräte des Forum
Prof. Dr. N. Mette, Universität Paderborn
Dr. Inno Rapthel, BSL
Dr. Wolfgang Repenthin, Schering, Berlin
Nikolaus Roth, Bayer Lev , Durchschaubare Betriebsräte
Beatrix Sassermann, Bayer Elb, Belegschaftsliste
Dr. Franz Segbers, Ökumenischer Arbeitskreis Internationale Solidarität, Daaden
Klaus-Peter Spohn-Logé, Ökumenischer Arbeitskreis Internationale Solidarität, Mannheim
Teilnehmer am Austausch zwischen brasilianischen und deutschen Beschäftigten deutscher Chemiefirmen. (Angaben zur Firmenzugehörigkeit dienen nur der Information.)
Dezember 1995