Skandal um BAYER-Produkt
BAYSILONE in Brustimplantaten
Das Silikon, das im Mittelpunkt des Brustimplantate-Skandals steht, stammt von BAYER. Der Leverkusener Multi meldete BAYSILONE 1967 zum Patent an und vertrieb es zuletzt gemeinsam mit GENERAL ELECTRIC. Im Jahr 2006 trennte sich der Konzern von dem ganzen Silikon-Segment. Das vom Implantate-Hersteller POLY IMPLANT PROTHÈSE verwendete BAYSILONE stellte schon der neue Besitzer MOMENTIVE her, über den Chemie-Händler BRENNTAG gelangte die Substanz nach Frankreich.
Von Jan Pehrke
BAYSILONE – dieses von BAYER im Jahr 1967 zum Patent angemeldete Silikon fand sich in den minderwertigen Brustimplantaten der französischen Firma POLY IMPLANT PROTHÈSE (PIP). Das Unternehmen setzte den in solcher Form nicht für medizinische Zwecke zugelassenen Stoff zusammen mit Silopren und dem krebserregenden Rhodorsil an und produzierte auf diese Weise unschlagbar billige Gel-Kissen. Entsprechend hoch fiel die Profit-Rate aus. „Eine Frage des Gewinns“ sei es gewesen, sich für diese Fabrikationsart zu entscheiden, sagte der PIP-Anwalt Yves Haddad dann auch laut Frankfurter Rundschau: „Das ist Kapitalismus, so ist das eben“.
Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten. Im Jahr 2006 informierte der schottische Schönheitschirurg Awf Quaba die britischen Aufsichtsbehörden über gerissene Implantate, aus denen BAYSILONE & Co. austrat. Und auch das Silikon selber beanstandete er. „Es war auch offensichtlich, dass das in dem PIP-Implantat verwendete Silikon Irritationen verursachte“, so Quaba. Seine französischen KollegInnen gaben ab 2008 Schadensmeldungen ab. Aber es dauerte lange, bis die Behörden reagierten. Die französische AFSSAPS verhängte im März 2010 ein Verkaufsverbot und riet am 23.12. 2011 zu einer Herausnahme der Gel-Kissen. Das „Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte“ folgte nach einigem Zögern Anfang Januar 2012.
Das vornehmlich als Dichtungsmasse im Bau-Bereich verwendete BAYSILONE stammte aus dem Leverkusener Chemie-Park, über den Krefelder Chemikalien-Händler BRENNTAG gelangte es nach Frankreich. Hergestellt hatte es die Niederlassung des US-Unternehmens MOMENTIVE. Dieses hatte 2006 GE BAYER SILICONES übernommen, das 1998 von BAYER und GENERAL ELECTRIC (GE) gegründete Joint Venture, und damit auch die Rechte an BAYSILONE und anderen Silikon-Fabrikaten erworben. Die beiden Konzerne wollten ursprünglich mit solchen Produkten, hergestellt für Anwendungen im Maschinenbau, in der Elektronik-Industrie und in der Medizin, eine marktbeherrschende Stellung auf dem Gebiet der Silikon-Chemie erlangen, aber die Erwartungen erfüllten sich nicht, so dass sie sich zu einem Verkauf entschlossen. Ob sich schon GE BAYER SILICONES oder vor 1998 BAYER selber in der Lieferkette von PIP befand, konnte Stichwort BAYER nicht ermitteln.
Zumindest aber GE verfügt über einschlägige Erfahrungen in dem Bereich. Der Multi war gemeinsam mit DOW CORNING, einem Joint Venture von DOW CHEMICAL und CORNING das erste Unternehmen, das Silikon im industriellen Maßstab herstellte. Unter strenger Geheimhaltung kam es im Zweiten Weltkrieg zum Einsatz. Silikon-Fett schützte Flugzeuge in großen Höhen vor einem Einfrieren der Instrumente und der von den Motoren produzierten Feuchtigkeit. Darüber hinaus isolierte die Substanz Zündkerzen, Transformatoren und Leitungen und diente als Dämmstoff und Antischaum-Mittel. „Das Fett, das half, den Krieg zu gewinnen“, hieß es deshalb nach 1945 über die Chemikalie.
Erst japanische ÄrztInnen entdeckten dann in der Zeit der US-Besatzung seine schönheitschirurgischen „Qualitäten“ und injizierten es Frauen zur Brustvergrößerung direkt. Der „Re-Import“ für diesen Verwendungszweck erfolgte bald. Das Silikon fand als Rohstoff der Schönheitsindustrie große Verbreitung und richtete verheerende Gesundheitsschäden an. Sie reichten von Gewebe-Entzündungen und Rheuma über Dickdarm-Erkrankungen und Wirbelsäulen-Problemen bis hin zu Fruchtschädigungen und Tod. Darum erging 1975 ein Verbot.
Aber DOW CORNING hatte schon vorgesorgt und verpacktes Silikon als Alternative ersonnen: Die ersten Implantate entwickelten die beiden plastischen Chirurgen Frank Gerow und Thomas Cronin im Auftrag des Unternehmens. Andere Konzerne folgten nach. Mit drei von ihnen, der MEDICAL ENGINEERING COOPERATION, der HEYER-SCHULTE-COOPERATION und der MCGHAN MEDICAL COOPERATION, trat GENERAL ELECTRIC von 1971 bis 1976 in Geschäftsbeziehungen. In enger Abstimmung mit den Firmen entwickelte GE spezielle Silikone für Brust-Erweiterungen; RTV 6191, RTV 6193, RTV 6195 oder RTV 7100 lauteten die Bezeichnungen. Die Produktsicherheit hielt sich jedoch weiterhin in Grenzen. Es entstanden nämlich häufig Risse in den Implantaten, aus denen der Füllstoff entwich. Rheuma, Arthritis, Multiple Sklerose, Geschwür-Bildungen und Darm-Erkrankungen gehörten zu den Nebenwirkungen. Viele Frauen mussten ihren Beruf aufgeben und waren für immer an einen Rollstuhl gefesselt. Von „systemic silicone desease“ sprachen die MedizinerInnen. Auf 50.000 schätzte der Rechtsanwalt Geoffrey White im Jahr 2001 die Zahl der Opfer.
GENERAL ELECTRIC und die anderen Hersteller wussten von den Gesundheitsschädigungen. Schon 1958 bescheinigte eine GE-Studie dem Silikon, in den Organismus gelangen zu können. Wie spätere Untersuchungen der Firma ergaben, handelte es sich bei der Substanz nämlich keineswegs um einen chemisch inaktiven Stoff. Sie war nach den Erkenntnissen ihrer ForscherInnen sogar imstande, durch die Implantat-Hülle zu dringen. Angesichts dieser Gefahren und des Risikos späterer Schadensersatz-Prozesse beschloss der Konzern zunächst, Silikon nicht für medizinische Zwecke zu vermarkten, revidierte dann aber seine Entscheidung und stieg in das Brustimplantate-Business ein. Die Befürchtungen bestätigten sich bald. So heißt es 1976 in den Unterlagen des GE-Kunden HEYER-SCHULTE: „Dr. Vinnick ist besorgt darüber, dass das in den Implantaten benutzte GENERAL-ELECTRIC-GEL: 1. nicht stabil und 2. giftig ist.“ GE teilte wohl die Sorgen: Im selben Jahr zog sich das Unternehmen offiziell aus diesem Geschäftsfeld zurück. Und ist nach eigenem Bekunden auch nie wieder eingestiegen, jedenfalls nicht willentlich, wie es ein wenig relativierend in einer Anfang der 2000er Jahre abgegebenen Erklärung bekundet. „GE SILICONES AMERICAS, GE BAYER SILICONES und GE TOSHIBA SILICONES werden nicht bewusst den Gebrauch unserer Produkte für Anwendungen empfehlen oder für Applikationen verkaufen, in denen sie länger als 29 Tage im menschlichen Körper verbleiben“, so der Konzern. Darüber hinaus bekräftigte er noch, kein Silikon für Injektionen oder Verhütungsmittel zu vermarkten.
GENERAL ELECTRIC gab dieses Statement Anfang der 2000er Jahre im Rahmen eines Prozesses ab. Zahllose solcher juristischen Auseinandersetzungen begleiteten die Brustvergrößerungen per Chemie. Von einem „Alptraum“ für die Multis sprach deshalb die Los Angeles Times. Über die erste Schadensersatzklage entschieden die RichterInnen 1977; sie sprachen dem Silikon-Opfer 170.000 Dollar zu. In späteren Jahren sollten die Summen dann noch beträchtlich steigen. 1994 kam es zur bisher größten Sammelklage in der US-amerikanischen Justizgeschichte. Allein DOW CHEMICAL sah sich am Ende mit 20.000 KlägerInnen konfrontiert. Wegen der Milliarden-Forderungen erklärte sich das Unternehmen Mitte der 1990er Jahre für zahlungsunfähig, schaffte es schließlich aber doch, die Krise zu überstehen. Nur GE konnte sich schadlos halten. Obwohl die Firma ihre Silikone in Kooperation mit den Implantat-Unternehmen entwickelt hatte, gelang es ihr, die Verantwortung für die Risiken und Nebenwirkungen der Silikon-Kissen seinen Kunden anzulasten.
Angesichts von über zwei Millionen operierter Frauen zwang der Medizin-Skandal auch die Aufsichtsbehörden zu handeln. 1992 verhängte die US-amerikanische „Food and Drug Administration“ (FDA) ein Moratorium für Implantate und andere Silikon-Anwendungsgebiete. So lange die Hersteller keine Unbedenklichkeitsnachweise vorlegen, bleibt der Verkauf untersagt, ordnete die FDA an. Und das hatte auch Konsequenzen für BAYSILONE. Es fiel unter die neue Richtlinie für Silikon-Produzenten und durfte nicht mehr in diaphragma-ähnlichen Barriere-Verhütungsmitteln wie LEAS SHIELD zum Einsatz kommen. „Die Silikone von DOW-CORNING, WACKER und BAYER sind komplett vom Frauenprodukte-Markt zurückgezogen worden“, ließ der Kontrazeptiva-Hersteller 2002 wissen.
Mit dem schlechten Image von Silikon hatte sich noch der Neubesitzer von GE BAYER SILICONE, die US-Firma MOMENTIVE, herumzuschlagen. Darum beteuerte der damalige Konzern-Chef John Rich 2007 in einem Interview zwar: „Im Allgemeinen zeigt Silikon eine gute Verträglichkeit mit dem menschlichen Körper“, beeilte sich anschließend aber festzustellen: „Wir engagieren uns nicht im Implantate-Markt“. „Willentlich“, hätte er hinzufügen müssen, wie es GE Anfang der 2000er Jahre tat, denn über den Chemie-Händler BRENNTAG geriet das BAYSILONE dann doch in die Gel-Kissen der Firma PIP.
Mit der Zeit gelang es dem Silikon jedoch, sich ein wenig von seinem schlechten Ruf zu befreien, denn mehrere Studien relativierten den Zusammenhang zwischen der Chemikalie und ernsthaften Erkrankungen. Das im Jahr des Silikon-Banns vom Kongress mit der Untersuchung der Langzeit-Folgen beauftragte „National Institute of Cancer“ fand keine Hinweise auf eine besondere Brustkrebs-Gefahr. Auch andere Karzinome traten bei den Frauen mit Implantaten nicht häufiger als bei nicht-operierten. Nur bei Lungenkrebs und Gehirntumor stießen die WissenschaftlerInnen auf erhöhte Zahlen. Frauen mit Gel-Kissen starben zwei bis dreimal so häufig an Gehirntumor und dreimal so häufig an einem Krebs der Atemwegsorgane wie Frauen ohne Silikon im Körper. Und nur letzteres erreichte eine statistische Relevanz. Ansonsten aber gaben die MedizinerInnen Entwarnung und stellten die Implantate sogar als Gesundbrunnen dar. Nicht nur von den meisten Krebs-Arten, sondern auch von Krankheiten des Immun-, Kreislauf- und Hormonsystems und der Verdauungsorgane waren Implantate-Trägerinnen nicht so oft betroffen wie ihre übrigen Geschlechtsgenossinnen, konstatierten die ForscherInnen.
Allerdings reichten die Daten oftmals für eine genaue Aufbereitung nicht aus. Bei Gewebe-Erkrankungen etwa hatten die Forscher nur Zugang zu 34 bis 40 Prozent der Kranken-Unterlagen. Und wenn sie auf Diagnosen wie „wahrscheinlich Rheuma“ stießen, was nicht selten vorkam, haben sie diese wegen des Unsicherheitsfaktors nicht mit in die Analyse der Nebenwirkungen einbezogen. „Das Risiko, aufgrund von Brustimplantaten eine Gewebestörung zu entwickeln, wurde, obwohl es etwas erhöht ist, als statistisch nicht signifikant betrachtet“, resümierte das Institut und mahnte weitere Untersuchungen zu dem Thema an.
Trotz solcher Unwägbarkeiten hatte die Erhebung einen großen Anteil daran, die Silikon-Einsätze zu rehabilitieren. Die Produzenten nahmen die Arbeit an Weiterentwicklungen auf und fassten Mut, die Gesundheitsbehörde von deren Unschädlichkeit überzeugen zu können. Dies gelang ihnen allerdings erst 2006. Im November des Jahres erteilte die FDA erstmals wieder Genehmigungen. Sie machte den Antragstellern MENTOR und ALLERGAN – berühmt-berüchtigt für BOTOX – allerdings strenge Auflagen.
So mussten die Hersteller Langzeit-Untersuchungen über die Verträglichkeit ihre Produkte durchführen. Die bisher vorliegenden Resultate sprechen nicht unbedingt für einen Qualitätssprung. Bei den 1008 MENTOR-Patientinnen traten nach der ersten Schönheitsoperation in 13,6 Prozent der Fälle Risse im Implantat auf; nach einer zweiten OP bei 15,5 Prozent. Bei Rekonstruktionen nach Entfernung der Brüste in Folge von Brustkrebs kam es nach dem ersten Eingriff bei 14 Prozent der Silikon-Kissen zu Beschädigungen, nach dem zweiten sogar bei 21,3 Prozent. Bei den ALLERGAN-Präparaten lag die Fehler-Quote ähnlich hoch. Zudem verrutschten bis zu 13,3 Prozent der Einsätze.
Über Brustschmerzen klagten bis zu 11,7 Prozent der Betroffenen. Abstoßungsreaktionen im Brustgewebe erlitten bis zu 27,5 Prozent, am höchsten lag der Wert bei Wiederholungs-OPs zur Brustvergrößerung. Für Brustkrebs, Rheuma und Muskelerkrankungen ergab die Auswertung keine erhöhte Gefährdung und bestätigte damit die Resultate des „National Institute of Cancer“. Allerdings beobachteten die WissenschaftlerInnen eine bisher in der Literatur nicht beschriebene Häufung von ALCL, einer Form von Lymphdrüsen-Krebs. Insgesamt deuten die Zahlen auf eine hohe Unzufriedenheit mit den Operationen hin. So ließen 53,4 Prozent der an Brustkrebs Leidenden die Silikon-Kissen wieder entfernen. Bei den Frauen, die sich aus kosmetischen Gründen für eine OP entschieden hatten, waren es bis zu 37,8 Prozent.
Trotzdem bescheinigt die FDA den Silikon-Kissen eine „akzeptable Sicherheit“ und überlässt es den Frauen selbst, auf Basis der verfügbaren Informationen über Nutzen und Risiken der chirurgischen Maßnahme zu entscheiden. Allerdings warnt die Gesundheitsbehörde: „Seien Sie sich bewusst, dass Brustimplantate zu lokalen Komplikationen führen können und dass die Wahrscheinlichkeit dafür mit den Jahren steigt. Die lokalen Komplikationen und Nebenwirkungen umfassen Bindegewebe-Schrumpfungen, Re-Operationen, Entfernung der Gelkissen und Implantat-Risse. Zudem mussten viele Frauen Erfahrungen mit Brustschmerzen, Faltenbildungen, Positionsveränderungen, Narbenbildungen und Infektionen machen.“
Immerhin hat es sich die „Food and Drugs Administration“ mit den Silikon-Implantaten bedeutend schwerer gemacht als ihre Pendants in den anderen Ländern. In Europa beispielsweise erging nie irgendein Verbot, und auch der PIP-Skandal hat nicht zur Folge, die Produktsicherheit der Gel-Kissen generell zu thematisieren. Er führt nur dazu, ein vermeintlich schwarzes Schaf aus der Herde auszusortieren. Sogar der Gebrauch von Polyurethan-Kunststoff zur Umhüllung des Silikons bleibt erlaubt, während die FDA diesen Stoff, den BAYER 1937 entwickelt hat, wegen seiner giftigen Wirkung für diese Anwendungsform schon 1991 aus dem Verkehr gezogen hat.
Der Leverkusener Multi wird vermutlich sagen, er vermarkte die Substanz „nicht willentlich“ für diesen Zweck. Willentlich nimmt er nur in einer Form am Brust-OP-Business teil: Er liefert mit MAKROLON-Folien einen hitzebeständigen und deshalb Sterilisationen standhaltenden Grundstoff für die Verpackungen der Implantate.