Weltkriegsmunition en masse in Nord- und Ostsee
Allein in den deutschen Gebieten von Nord- und Ostsee lagern mehr als 1,6 Millionen Tonnen Bomben, Minen und Granaten. Viele dieser gefährlichen Altlasten zweier Weltkriege haben BAYER bzw. die IG FARBEN produziert. Die Politik nimmt sich dieses brisanten Themas bis heute nur widerstrebend an.
Von Burkhard Ilschner
Es begann vor mehr als 100 Jahren und eskalierte vor rund 75 Jahren. Was einst – fälschlich – als vermeintliche Lösung gepriesen wurde, wird seit gut einem Vierteljahrhundert immerhin als Problem benannt: Die Rede ist von eben jenen Munitionsaltlasten zweier Weltkriege, die auf dem Meeresgrund langsam vor sich hin rotten und eine eklatante Gefahr bedeuten für Menschen auf See und an den Küsten, für Fischerei, Sportschifffahrt und Tourismus und vor allem für die Meeresumwelt. Sie enthalten nicht nur hochriskante Sprengstoffe und Zünder verschiedenster Arten, sondern viele von ihnen auch chemische Kampfstoffe (siehe Kasten), zusammen mehrere tausend Tonnen.
Ewigkeitskosten
Was daraus wird, ist bis heute weitgehend ungeklärt. Das Problem dürfte noch Generationen beschäftigen. Zwar wird seit Jahrzehnten und immer lauter wirksames Entsorgungshandeln gefordert. Tatsächlich wird die ganze Sache aber bis heute – politisch und administrativ – verschleppt, verharmlost oder geleugnet. Erst in diesem Jahr hat die Bundesregierung die Entwicklung von Lösungskonzepten in Auftrag gegeben, die 2024/25 zu ersten Bergungsversuchen führen sollen – Ende offen.
Zwar ist dieses marine Altlastenproblem ein globales, es ist aber unstrittig, dass die größten Anteile der in nordeuropäischen Gewässern lagernden Spreng- und Giftstoffe aus deutscher Produktion, nicht zuletzt vom BAYER-Konzern bzw. der von ihm mitgegründeten IG FARBEN stammen: Nach dem Ersten Weltkrieg wurde vorwiegend auf Veranlassung der Alliierten Munition des besiegten deutschen Reichs von der Biskaya über die Nordsee bis Gotland im Meer versenkt, häufig durch „einfaches“ Überbordkippen, oft aber auch durch Versenkung ganzer Schiffe mit giftiger oder explosiver Ladung. Übliche Methoden der Kampfmittelvernichtung (Sprengung oder Verbrennung) galten angesichts der zu bewältigenden Mengen als zu zeit- und kostenaufwändig und zu riskant für das beteiligte Personal. Versenkung auf See hingegen schien effizient und eben unproblematisch.
In den 1940er Jahren war es zunächst die deutsche Wehrmacht, die kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs Kampfstoffmunition in der Ostsee versenkte, um sie dem Zugriff gegnerischer Streitkräfte zu entziehen. Nach der Kapitulation Nazideutschlands indes praktizierten die Siegermächte dasselbe, was sie 30 Jahre zuvor auch getan hatten. Und der eigenen Bequemlichkeit halber packten die Alliierten ihre eigenen, nicht mehr benötigten Munitionsmengen gleich dazu, verklappten sie nicht nur in Nord- und Ostsee, sondern teilweise auch in eigenen Küstengewässern. Insgesamt wird vermutet, dass allein nach dem Zweiten Weltkrieg mehrere Millionen Tonnen Munitionsaltlasten und Giftkampfstoffe in Europas Meeren versenkt wurden. Aber dabei blieb es nicht, auch seitens BRD und DDR wurden solche Versenkungen bis in die 1960er Jahre vorgenommen.
Rücksicht auf SeefahrerInnen oder KüstenbewohnerInnen kamen in den Jahrzehnten nach Kriegsende im Denken der Verantwortlichen selten vor – und Meeresumweltschutz spielte bekanntlich auch keine Rolle: Schließlich wurden in und auf den Meeren allgemein bis weit in die 1980er Gift-Müll, -Abfälle und -Abwässer verklappt, eingeleitet oder verbrannt. Für kurze Zeit gab es in den 1950er Jahren gezielte Versuche, versenkte Kampfmittel wieder zu bergen, um enthaltene Rohstoffe zurückzugewinnen. Und gelegentlich flackerten Debatten über die versenkten Altlasten auf, wenn FischerInnen Teile davon in ihren Netzen fanden oder Unfälle gemeldet wurden. Allerdings führte all dies nie zu nennenswerten politischen oder administrativen Aktivitäten, die gezieltes Bergen und Entsorgen der Unmengen versenkter Kampf- und Giftstoffe beabsichtigt hätten.
Diese praktizierte und propagierte Sorglosigkeit hatte unter anderem eine wesentliche Ursache: Die wenigsten Versenkungen waren seinerzeit ordentlich dokumentiert worden – aus den Augen, aus dem Sinn. Folge dieser fast schon organisiert zu nennenden Nachlässigkeit sind bis heute lückenhafte oder fehlende Angaben über vollzogene Munitionsversenkungen: Die meisten Daten über Umfang, Ort, Art und Menge basieren mehr auf Schätzung und Hörensagen als auf konkreten und belegbaren Fakten.
Erste Debatten
Zwar gab es etwa ab Mitte der 1980er Jahre (nicht nur) in Deutschland erste Debatten über mögliche Gefährdungen von Mensch und Umwelt durch versenkte Kampfmittel, Auslöser waren vor allem die Schadensfälle in der Fischerei. Unfälle in Tourismusgebieten, beispielsweise durch am Strand angespülte Munitions- oder Kampfstoffreste, wurden hingegen gerne kleingeredet oder gar verschwiegen, mensch wollte potentielle Gäste (aktuelle wie künftige) ja nicht verschrecken.
Ab den 1990er Jahren wurde häufig intensiver recherchiert, es gab Anfragen und Debatten im Bundestag, es gab behördliche Untersuchungen etwa über „Chemische Kampfstoffmunition in der südlichen und westlichen Ostsee“ oder über die Sicherheit der maritimen Transportwege in der deutschen Ausschließlichen Wirtschaftszone (1). Es gab vereinzelte Bestrebungen, die Geschichte der Munitionsversenkungen in ihren Dimensionen und erwartbaren Folgen aufzuarbeiten – nur Planungen oder gar Umsetzung handfester Maßnahmen zur Bergung und Entsorgung gab es weiterhin nicht.
Vielmehr beschwichtigten die Behörden damals, dass vor der deutschen Nordseeküste Munitionsaltlasten nur in einer Größenordnung von 10.000 Tonnen lagern würden und es nur eine Handvoll von Unfällen mit diesem explosiven Erbe gegeben habe. Es ist dem Koblenzer Meeresbiologen und Umweltgutachter Stefan Nehring zu verdanken, dass das wahre Ausmaß der Millionen Tonnen und mehr als 1.000 Opfer versenkter Munition öffentlich bekannt wurde. Ab 2005 veröffentlichte er kontinuierlich (und das meiste davon exklusiv) in der damaligen Zeitschrift Waterkant Hintergründe und eigene Rechercheergebnisse – brisante Aktenfunde über Versenkungsprotokolle, detaillierte Unfallberichte und -statistiken, aktuelle Bewertungen zur beginnenden Entsorgungsdebatte und vieles andere mehr (2).
Es waren zunächst vor allem die einstige Bremer Meeresschutzorganisation Aktionskonferenz Nordsee (AKN) und parallel auch der Naturschutzbund Deutschland (NABU), die auf Grundlage von Nehrings Recherchen auf Kongressen und in Publikationen dringendes Handeln anmahnten. Durch den steigenden Druck der begleitenden Medienberichte und Anfragen in den Parlamenten sah sich die 1997 gegründete Arbeitsgemeinschaft Bund/Länder-Messprogramm für die Meeresumwelt von Nord- und Ostsee (3) genötigt, sich ab 2008 im so genannten ExpertInnenkreis „Munition im Meer“ organisiert mit der marinen Altlastenproblematik zu beschäftigen.
Verharmlosungen
Allerdings fanden sich in dessen 2011 veröffentlichtem Ergebnisbericht (4), der alle durch Nehring recherchierten Daten bestätigte, eher überraschende Aussagen, etwa unter dem Titel „Gesamtbewertung“ folgender Satz: „Derzeit ist nicht erkennbar, dass eine großräumige Gefährdung der marinen Umwelt über den lokalen Bereich der munitionsbelasteten Flächen hinaus vorhanden oder zukünftig zu erwarten ist. Eine Gefährdung besteht jedoch punktuell für Personengruppen, die im marinen Bereich der Nord- und Ostsee mit Grundberührung tätig sind.“
Zu diesem Zeitpunkt hatte es über Jahre bereits neben diversen Unfällen in der Berufs- und Freizeitfischerei auch Verletzungen etwa an touristisch genutzten Stränden durch angespülte Kampfstoffreste gegeben. Und auch dieser Satz aus derselben Publikation konsternierte damals kritische ExpertInnen: „Eine efährdung es erbrauchers durch möglicherweise kontaminierte marine Produkte, insbesondere Nahrungsmittel, ist nach derzeitigem Kenntnisstand als äußerst unwahrscheinlich einzuschätzen. Es sind keine in diese Richtung deutenden konkreten Belege bekannt.“ Tatsächlich gab es zu dieser Zeit bereits Veröffentlichungen, die erhebliche Zweifel an dieser Sichtweise äußerten und teilweise fundiert begründeten. So waren nicht nur Berichte über Schadstoffspuren aus Kampfstoffresten in der marinen Nahrungskette veröffentlicht worden, sondern auch Prognosen, dass dieses Problem aufgrund von Verrottungsprozessen in den kommenden Jahrzehnten eskalieren dürfte.
Pikant aus damaliger wie heutiger Sicht war es vor allem, dass die AutorInnen ihren Bericht explizit „als lebendiges und wachsendes Dokument“ bezeichneten, „regelmäßige Aktualisierung und fortlaufende Erweiterung sind vorgesehen“. Es folgten nämlich sieben jährliche Fortschrittsberichte, allerdings sind – so der Kieler Professor Uwe Jenisch 2021 im marineforum – die zugehörigen Karten dabei „leider“ nie aktualisiert worden: Unter anderem bei Stefan Nehring hätten die ExpertInnen in all diesen Jahren genügend Material dazu finden können. Insgesamt brauchte es nach 2011 weitere acht Jahre, bis Ende 2019 die 93. Umweltministerkonferenz des Bundes und der Länder eine finale Aktualisierung dieses Berichts beschloss. Der erschien dann als ganze zwei Seiten umfassendes Dokument im März 2021 – konstatierte inzwischen aber immerhin „dringenden Handlungsbedarf“ (5).
Um nicht missverstanden zu werden: In Bundes- und Landesparlamenten, in Administrationen, Behörden oder Instituten gab und gibt es viele engagierte, um Aufklärung bemühte Kräfte, Einzelpersonen oder Kleingruppen wie Forschungsteams; nur blieb ihnen all die Jahrzehnte jene politisch-administrative Gesamtkoordination versagt, die eine Problemlösung entscheidend hätte näher bringen können. „Munition im Meer“ war über lange Zeit – schaut man durch eine Lupe öffentlichen Interesses – vor allem eine Art verstecktes Schubladenthema.
Punktuelles Aufsehen gab es etwa, wenn brisante Altlasten in oder am Rande einer wichtigen Schifffahrtsstraße vermutet, gesucht, entdeckt und oft zügig geräumt oder gesprengt wurden (nicht immer im Einklang mit geltendem Naturschutzrecht). Auch konkrete wirtschaftliche Motive führten zu Aktionismus: Für neue Windparks etwa, für die Trasse der Nordstream-Pipeline oder für den anhaltend umstrittenen Tunnelbau im Fehmarnbelt wurde nach Kriegsaltlasten gesucht, die das Vorhaben hätten beeinträchtigen können, wurde im Falle der Entdeckung vor Ort geräumt. Auf unzähligen Konferenzen wurden teils parallel, teils mit solchen Vorhaben zusammenhängend Daten zusammengetragen und ausgetauscht. Aber niemals gab es den entscheidenden „Kick“ von verantwortlicher politischer Seite, den Weg zu ebnen für eine planmäßige und großflächige Erfassung samt Erarbeitung eines Gesamtkonzepts zur zügig sich anschließenden Beseitigung der brisanten Hinterlassenschaften.
Es handelt sich im Grunde genommen um organisiertes politisches Versagen. Ob vorsätzlich oder fahrlässig, sei dahingestellt – es ist die konsequente Fortsetzung jener Nachlässigkeit, mit der vor Jahrzehnten verklappt und versenkt worden ist. Immer wieder gab und gibt es Berichte und Enthüllungen über „Gefahr aus der Tiefe“, „Giftgasklumpen an den Stränden“, „Bombenstrände“, „Giftgasgranaten im Schleppnetz“, „Senfgasopfer im Hospital“, „Tickende Zeitbomben im Meer“ oder „Giftiges Arsen in Schollen“ – einige wenige Beispiele aus Schlagzeilen mehrerer Jahrzehnte. Nur hatte das eben lange Zeit keine politischen oder administrativen praktischen Folgen.
Ampel-Aktivitäten
Erst seit Kurzem scheint sich das zumindest ansatzweise zu ändern. Es bleibt nach den Erfahrungen vergangener Jahrzehnte allerdings abzuwarten, mit welcher Konsequenz und Ausdauer das auch zu Erfolgen führt. In ihrem Koalitionsvertrag hat die amtierende Berliner Koalition im November 2021 knapp, aber markant vermerkt: „Für die Bergung und Vernichtung von Munitionsaltlasten in der Nord- und Ostsee wird ein Sofortprogramm aufgelegt sowie ein Bund-Länderfonds für die mittel- und langfristige Bergung eingerichtet und solide finanziert.“ Entschieden klingende Worte, die aber möglicherweise nicht so gemeint waren. Ein halbes Jahr später, im Mai 2022, kritisierte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages in einer Kurzinformation: „Bislang war die Kartierung dieser Munitionsaltlasten lückenhaft, nur ein Teil der Munitionsversenkungsgebiete ist bekannt. Infolge von Explosionsvorfällen kommen immer wieder weitere hinzu. Eine detaillierte und umfassende Kartierung liegt bislang nicht vor“ (6).
Das ist aber längst nicht alles. Im August 2022 wimmelte die Ampel-Koalition eine Kleine Anfrage der Linksfraktion erst einmal ab: „Nach Auffassung der Bundesregierung (…) besteht in Bezug auf Altmunition im Meer keine allgemeine rechtliche Verpflichtung des Bundes oder der Länder zum Tätigwerden. Daraus abgeleitet existiert auch keine finanzielle Verpflichtung.“ Im Kern bedeutet das nichts anderes als: Mensch gibt sich bemüht, verbittet sich aber, gedrängelt oder gar beim Wort genommen zu werden. Gleichzeitig kündigte die Ampel jedoch ein Sofortprogramm an, dessen interdisziplinär vorbereitende Arbeiten bereits begonnen hätten, und lobte sich selbst: Dies wäre „die weltweit erste Erprobung zielgerichteter und konzertierter Beräumung munitionsbelasteter Flächen auf dem Meeresboden“ (7).
Geplant ist, eine technisch innovative Bergungsplattform entwerfen und bauen zu lassen, die angeblich schon 2024/25 ihre Arbeit zunächst in der Ostsee aufnehmen soll. Sie soll mit Hilfe von Robotik Munition vom Meeresboden bergen und an Bord unschädlich machen, so dass Gift- und andere Gefahrstoffe danach an Land vernichtet werden können. Klingt gut? Ja, geht aber nicht so schnell. Falls der Plan funktioniert, wird es dennoch eine vermutlich viele Jahrzehnte dauernde Aufgabe. Um so wichtiger wäre es, das Vorhaben nun zügig anzupacken. Nur sieht es danach momentan nicht aus.
Vor knapp zwei Jahren hatten sich in der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt mehr als 150 ExpertInnen bei der „Kiel Munition Clearance Week“ mit Bestandsaufnahme und Aufgabenstellung befasst. Am Ende des Kongresses forderte die Landesregierung von „der nächsten Bundesregierung“ rasche Zusagen für eine industrielle Bergung der gefährlichen Altlasten, denn die Küstenländer könnten dies allein nicht lösen. Wie es danach weiterging, ist oben fragmentarisch beschrieben; was indes zu ergänzen bleibt, ist die Frage der Finanzierung – und die wird, typischerweise, zum Bremsklotz.
Grob geschätzt, geht es um mehr als 100 Millionen Euro, die das Vorhaben „Plattform“ von Entwicklung, Bau und Ausrüstung bis zum praktischen Einsatz zunächst kosten soll. Die Küstenländer sehen den Bund in der Pflicht, der Bund sieht es als unabdingbar an, dass die Küstenländer sich beteiligen – das übliche Gerangel. Die Bundesregierung hat zwar mittlerweile einen 100-Millionen-Euro-Etat bereitgestellt und vom Bundestag beschließen lassen. Aber im entsprechenden Beschluss des parlamentarischen Haushaltsausschusses wurde im November 2022 eindeutig festgelegt, bis zum 30. Juni dieses Jahres „soll die Ausschreibung für die mobile, schwimmende Anlage erfolgen und bis Ende des Jahres sollen entsprechende Verträge geschlossen werden“. Das sei erforderlich, um die „Verträge für den Bau der Anlage noch 2023 schließen zu können und das Pilotprojekt so schnellstmöglich umzusetzen“.
Der Stichtag ist inzwischen deutlich überschritten, die Ausschreibung bislang nicht erfolgt. Stattdessen gewinnt die Ausein-andersetzung an Schärfe und ist vermutlich nur dank der parlamentarischen Sommerpause bislang nicht eskaliert. Anfang August sorgte die Industrie- und Handelskammer Nord für Druck mit einem Appell für sofortiges politisches Handeln. Zuvor hatte Anfang Juni die grüne Bundesumweltministerin Steffi Lemke „ein Konzept für das von ihr angekündigte ‚Sofortprogramm‘ zur Bergung von Munitionsaltlasten aus Nord- und Ostsee vorgelegt“ (8), das sofort in die Kritik geriet. Es hieß, darin sei vorgesehen, mit der Altlastenbergung zügig zu beginnen, und zwar zunächst „mit verfügbarer Technik“. Das soll 30 Millionen Euro kosten, die geplante Plattform erst währenddessen parallel entwickelt werden. Eine Überprüfung dieses Berichts war nicht möglich, weil das Ministerium dem Autor auf Anfrage mitteilte, das Dokument sei „bislang nicht öffentlich verfügbar. Wir informieren Sie, wenn sich daran etwas ändern sollte“ (9). Das ist bis Redaktionsschluss nicht erfolgt.
Kritik an Lemkes Vorgehensweise kam unter anderem von der ostholsteinischen SPD-Abgeordneten Bettina Hagedorn, die darin einen klaren Verstoß gegen den Beschluss des Haushaltsausschusses sieht (10), denn in diesem sei nicht vorgesehen, einen Teil der Gelder anders als für das Plattformprojekt zu verwenden. Ob Zufall oder nicht, sei dahingestellt – etwa zeitgleich berichtete die Tagesschau über den Auftritt von Annalena Baerbock (Grüne) auf der Außenministerkonferenz des Ostseerats Anfang Juni in Wismar: Baerbock soll dort unter anderem eine Beteiligung der Investoren von Offshore-Windparks an den Kosten der Munitionsaltlastenbergung ins Gespräch gebracht haben.
Das passt zwar zu der geschilderten Hagedorn-Kritik (die auch von anderen Abgeordneten ähnlich geäußert wurde), Lemkes Konzept schmälere den Etat für das innovative Bergungsplattform-Projekt: Eine Beteiligung von dritter Seite könnte schließlich helfen, die dabei entstehenden Finanzierungslücken zu schließen. Das passt aber auch exakt zu der hier – angesichts der Komplexität nur exemplarisch – geschilderten Geschichte des gesamten Problems und des Verhaltens von Politik und Administration: Eine Menschen und Meeresumwelt schützende, flächendeckende und effektive Erfassung, Bergung und Entsorgung von Munitionsaltlasten und Giftkampfstoffen wird so nur dorthin verschoben, wo sie schon jahrzehntelang hat ausharren müssen – aufs Wartegleis. ⎜
Burkhard Ilschner war lange Jahre Mitherausgeber und Redakteur der maritimen Zeitschrift Waterkant und ist heute verantwortlich für das gleichnamige, kostenlose Online-Portal (Unterstützung und Mitarbeit willkommen).
Anmerkungen:
1. Laut UN-Seerechtskonvention stehen Küstenstaaten bis zu 200 (in Ausnahmen 350) Seemeilen als so genannte Ausschließliche Wirtschaftszonen (AWZ) zu – Meeresgebiete, in denen sie exklusiv wirtschaften, die Schifffahrt aber nicht behindern dürfen. Da sich in Nord- und Ostsee die AWZ-Ansprüche der Anrainer überlappen, hat mensch hier eine gegenseitige Zonierung geringeren Ausmaßes vereinbart. Details siehe auch https://worldoceanreview.com/de/wor-1/seerecht/rechtsordnung-der-ozeane/
2. Unter https://waterkant.info/?page_id=9200 sind die Beiträge von Stefan Nehring vollständig und kostenlos abrufbar.
3. ARGE BLMP Nord- und Ostsee – Vorläuferorganisation der heutigen Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Nord- und Ostsee (BLANO).
4. Munitionsbelastung der deutschen Meeresgewässer – Bestandsaufnahme und Empfehlungen; Ergebnisbericht, 10. November 2011
5. BLANO – Munitionsbelastung der deutschen Meeresgewässer, https://www.schleswig-holstein.de/uxo/DE/Kurzfassung/kurzfassung_node.html
6. WD 8 – 3000 – 036/22 vom 12. Mai 2022
7. Deutscher Bundestag, Drucksache 20/3198
8. https://www.nordschleswiger.dk/de/ vom 20. Juni 2023
9. E-Mail des BMUV an den Verfasser vom 7. Juli 2023
10. Pressemitteilung vom 16. Juni 2023
BAYERs Waffenarsenal
Ein gehöriger Teil der chemischen Kampfstoffe, Bomben und Sprengstoffe in Nord- und Ostsee ist made by BAYER. So sorgte der Konzern im Ersten Weltkrieg dafür, dass „die Chemie die ihr in der modernen Kriegsführung zukommende Rolle spielen“ kann, wie der Generaldirektor Carl Duisberg es ausdrückte. Mit Feuereifer arbeitete das Unternehmen daran, „die große, schwierige Frage der Verpestung der Schützengräben mit chemischen Substanzen der Lösung näherzubringen“, und entwickelte Waffen auf Basis von Dianisidin, Blausäure, Chlorkohlenxoxid und anderen Chemikalien. Ein Senfgas trug dabei sogar die Signatur der beiden BAYER-Forscher Wilhelm Lommel und Wilhelm Steinkopf: Es hieß Lost.
Im Zweiten Weltkrieg avancierte die vom Leverkusener Multi mitgegründete IG FARBEN zum Hauptlieferanten der Wehrmacht. 95 Prozent der Giftgase wie etwa Sarin und Tabun sowie 84 Prozent der Sprengstoffe stammten aus IG-Fabriken. Zudem gehörten Brandbomben, Handgranaten und Maschinengewehre zur Produkt-Palette.
Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN fordert den Global Player deshalb immer wieder auf, sich an den Kosten für die Bergung des maritimen Waffenlagers zu beteiligen. Das lehnt die Aktiengesellschaft jedoch stets ab.
Die Kampfstoff-Liste
I. Konventionelle Kampfmittel
Diverse chemische Stoffe wurden während beider Weltkriege als konventionelle Kampfmittel entwickelt, um im Einsatz durch Detonation oder als Brandbeschleuniger Objekte oder Menschen zu schädigen. Daneben haben diese Kampfmittel stoffliche und toxikologische Eigenschaften, die für Mensch und Umwelt gefährlich sind, wie die zwei wichtigsten Beispiele von im Meer lagernder Munition zeigen:
2,4,6-Trinitrotoluol (TNT)
Explosivstoff, mit Abstand am häufigsten während des Zweiten Weltkrieges produziert; giftig beim Einatmen, Verschlucken und Berührung mit der Haut; Verdacht auf kanzerogene und mutagene Wirkung; gefährlicher Wasserschadstoff; in der Umwelt persistent mit Gefahr der kumulativen Wirkung.
Phosphor
Brandmittel und Ätzstoff, eingesetzt vor allem in Brandbomben; sehr giftig beim Verschlucken, Berührung mit der Haut und beim Einatmen; fruchtschädigende Wirkung; unter Wasser persistent; kann durch enthaltene Beimischungen (Kautschuk) aufschwimmen; ähnelt optisch Bernstein, zündet beim Abtrocknen selbsttätig, verbrennt mit einer 1300 Grad Celsius heißen Flamme.
II. Chemische Kampfstoffe
Chemische Kampfstoffe stören die physiologischen Funktionen des menschlichen Organismus dermaßen, dass die Kampffähigkeit von Menschen beeinträchtigt oder sogar der Tod herbeigeführt wird. Es sind gasförmige, flüssige oder feste Stoffe, die in Bomben und Granaten oder durch Abblasen oder Versprühen mit Gasflaschen oder Kanistern eingesetzt werden.
Die während des Zweiten Weltkrieges produzierten chemischen Kampfstoffe lassen sich folgenden Wirkstoffgruppen zuordnen:
1. Nervenkampfstoffe
Wichtige Vertreter: Tabun, Sarin, Soman
Hauptsymptome: Krämpfe sowie Lähmung des Atemzentrums (Atemstillstand).
2. Hautkampfstoffe
Wichtige Vertreter: Lost (Senfgas), Lewisit
Hauptsymptome: Hautrötungen, Blasenbildung, nekrotische Gewebezerstörungen mit außerordentlich schlechter Heilungstendenz, Schädigung aller Organe mit ggf. tödlichem Ausgang, stark kanzerogen.
3. Lungenkampfstoffe
Wichtige Vertreter: Phosgen, Diphosgen
Hauptsymptom: toxisches Lungenödem.
4. Nasen- und Rachenreizstoffe
Wichtige Vertreter: Adamsit, Clark I, Clark II
Hauptsymptome: Husten- und Niesreiz, verstärkte Sekretion der Nasenschleimhaut und Speicheldrüsen, Atemnot, Kopfschmerz und Schmerzen im Brustbeinbereich. In hohen Konzentrationen ist Ausbildung eines toxischen Lungenödems möglich.
5. Augenreizstoffe
Wichtiger Vertreter: Chloracetophenon
Hauptsymptome: Brennen und Stechen der Augen, Tränenfluss, Fremdkörpergefühl, Lidschluss, zeitweilige Blindheit und Bindehautentzündungen. In hohen Konzentrationen sind bleibende Augenschäden und Ausbildung eines toxischen Lungenödems möglich.