BAYERs Menschenversuche in Auschwitz
„Tiere sind teuer, aber Menschen kosten nichts“
8-jährig kam Eugen Muszynski nach Auschwitz. Er musste dort als Zwangsarbeiter das IG-FARBEN-Werk in Buna mit aufbauen und sich Menschenversuchen mit BAYER-Präparaten unterziehen. Vom Leverkusener Multi hat er dafür nie eine Entschädigung erhalten. Auf der diesjährigen Hauptversammlung des Agro-Riesen konfrontierte er die Vorstandsriege direkt mit seinem Schicksal. Aber BAYER-Chef Werner Wenning sah weiterhin keine Veranlassung, sich der Konzern-Vergangenheit zu stellen.
Von Jan Pehrke
Eugen Muszynski geriet als 8-Jähriger in das Konzentrationslager Auschwitz. Aber kein Massentransport brachte ihn in das KZ, ein Auto der Gestapo lieferte ihn ab. Er war weder Jude noch gehörte er einer anderen der bekannten Opfergruppen an. Sein „Verbrechen“ waren seine Eltern. Die Gestapo nahm diese 1941 fest, weil sie Mitglied einer sozialdemokratischen Widerstandsgruppe waren. „Die Gestapo behandelte mich mit Samthandschuhen“, erinnert sich der heute 70-Jährige. Sie lockte ihn mit Kakao, Bonbons und Schokolade und setzte ihm dicke Alben mit Fotos vor. Ob er jemanden darauf erkenne, fragten die Geheimpolizisten den Kleinen. „Ich kenne diesen Onkel, wir waren bei ihm“, antwortete der Junge arglos und zeigte noch auf viele andere Personen. Wenn er sich nach seinen Eltern erkundigte, hieß es nur, sie seien auf Dienstreise. Von dieser sollten sie nie zurückkehren: Im Mai 1943 verurteilte der Volksgerichtshof das Ehepaar Muszynski wegen Hochverrates zum Tode.
Als die Beamten Eugen abgeschöpft hatten, übergaben sie ihn dem Lebensborn, der Kinderzuchtanstalt der SS. Dort durften die Zöglinge noch nicht einmal über Vater und Mutter reden. Aber das Kind konnte an nichts anderes denken. Er wandte sich an einen Leidensgenossen: „Weißst Du was, wir gehen jetzt unsere Eltern suchen!“ und scharte schnell eine ganze Gruppe um sich. Sie kam gerade mal ein bis zwei Kilometer weit, bis die NS-Pädagogen sie wieder einfingen. Die Unruhe verließ den kleinen Eugen Muszynski jedoch nie, weshalb er bald als unverbesserlicher Querulant galt. Seine Strafe hieß schließlich: Auschwitz.
Dort angekommen, steckten die Nazi-Schergen den Jungen in den gestreiften Drillich und beorderten ihn als Zwangsarbeiter nach Monowitz, wo die von BAYER mitgegründete IG FARBEN ein großes Werk baute. Den Belastungen war das Kind kaum gewachsen. „Auch die Hilfsarbeit war für mich zu schwer“, sagt Eugen Muszynski. Dazu mussten die Gefangenen noch die Willkürakte der SS-Männer erdulden. Ein Aufseher machte sich einen Ulk daraus, während der Zubereitung der Mahlzeiten in den Kochtopf zu urinieren. Wenn er den KZ-Häftlingen dann später beim Essen zusah, amüsierte er sich ein zweites Mal köstlich. Andere zitierten gern einen Sklavenarbeiter zu sich, warfen ihre Mütze weg und warteten auf das „Apportieren“. Das brachte die KZ-Opfer in eine verzweifelte Zwangslage. Folgten sie der Aufforderung, so hatten sie sich von ihrem Arbeitsplatz entfernt, worauf die Todesstrafe stand. Folgten sie der Anweisung aber nicht, konnte sie der Wachmann wegen Befehlsverweigerung erschießen. Egal, wofür sie sich letztendlich entschieden, viele überlebten das Todesspiel nicht. Die Nazis liebten es, die KZ-Insassen durch solch abgründige Späße zu verhöhnen und zur Verzweiflung zu treiben. So spielte im Morgengrauen zum Ausrücken auf die Baustelle stets ein Orchester auf, das die Gefangenen am Abend auch wieder empfing, wenn sie mit den am Tag Gestorbenen im Schlepptau zurückkehrten. „Tod mit Musik“ – das ist deshalb für Eugen Muszynski die Quintessenz von Auschwitz.
Um dem Jungen wenigsten einen Teil dieser körperlichen und geistigen Höllenqualen zu ersparen, wandte sich eine Bekannte seiner Mutter im Dezember 1942 an das IG-Vorstandsmitglied Dr. Max Ilgner. In einem Brief bat sie ihn inständig, Eugen die Zwangsarbeit zu ersparen. Aber Ilgner kannte kein Erbarmen. „Es tut mir wirklich leid, dass ich nicht in der Lage bin, Eugen Muszynski (…) aus der Arbeitspflicht zu befreien. Bitte, verstehen Sie, auch die Arbeit für das Vaterland ist die allgemeine Pflicht unseres Volkes. Heil Hitler!“
Die IG FARBEN hat den Jungen dann sogar noch einem weiteren Martyrium unterworfen. Der BAYER-Konzern, dessen Name laut der offiziellen Unternehmensgeschichte „Meilensteine“ „zum Markenzeichen der I.G.-Pharmazeutika“ wurde, hat nämlich Menschenversuche mit Eugen Muszynski durchgeführt. Der seit 1938 beim Pharmariesen arbeitende und 1941 zur Wehrmacht abgestellte, aber immer noch auf der Gehaltsliste des Konzerns stehende Dr. Hellmuth Vetter hat den kleinen Eugen in Auschwitz mit dem Typhus-Erreger infiziert, um das in Leverkusen entwickelte Gegenmittel B 1034 zu erproben. Die Suche nach einem geeigneten Impfstoff war militärisch von einiger Bedeutung, da sich die Krankheit an der Ostfront in den besetzten Gebieten ausbreitete, auf die Truppen überzugreifen und die Wehrkraft zu zersetzen drohte.
Eugen Muszynski und den anderen menschlichen Versuchskaninchen sagte Dr. Vetter lediglich, sie erhielten ein Mittel „zur Stärkung“. Die „Stärkung“ sorgte bei Eugen sofort für einen heftigen Fieberschub und löste eine Ohnmacht aus. Hätten sich unter den Häftlingen nicht Ärzte befunden, die sich selbstlos um den Jungen kümmerten, so wäre er gestorben. Eine zweite Spritze, für die der 8-Jährige ursprünglich vorgesehen war, hätte er aber trotz ihrer Hilfe nicht überlebt. Nur durch einen Zufall blieb sie ihm erspart. „Diese eine Spritze hat mir mein Leben schon so kaputt gemacht, dass ich bis heute krank bin“, sagt der alte Mann bitter. Von Herz-Kreislauf-Problemen und Diabetes über chronische Bronchitis und Magenerkrankungen bis zu seelischen Störungen wie dem posttraumatischen Belastungssyndrom reicht die Liste seiner Leiden.
Weder die heftigen „Nebenwirkungen“ und zahlreichen Todesfälle noch die absolute Wirkungslosigkeit des B 1034 hemmten Vetters Forschungsdrang. „Er hat Lust gehabt, mit uns zu spielen, und er hat gespielt“, so Eugen Muszynski. Immer wieder forderte Vetter Nachschub an. „Ich bitte Sie auf jeden Fall bereits jetzt, den Versand von 20.000 Tabletten à 0,25 Gramm und 5.000 Ampullen à 1 Gramm B 1034 nach Auschwitz zu veranlassen“, schrieb er im April 43 an BAYER. Einen Monat später erstattete er der Pharmazie-Schaltzentrale der IG in Leverkusen persönlich Bericht über seine Experimente. Obwohl er offen über die Todesopfer und den ausbleibenden Heilerfolg sprach, schickte ihm der Konzern weiter B 1034 und andere Substanzen. Er konnte Muszynski zufolge nach Belieben schalten und walten, denn „Tiere sind teuer, aber Menschen kosten nichts“. Begeistert schrieb Hellmuth Vetter deshalb seinen BAYER-Kollegen: „Beim Vergleich mit der jetzt hinter mir liegenden Zeit komme ich mir hier wie im Paradies vor“. Den KZ-Häftlingen aber bereitete er in Tateinheit mit anderen Medizinern die Hölle auf Erden. „Die SS-Ärzte Dr. Richter und Dr. Vetter mordeten kranke Häftlinge nahezu bis zum letzten Tag der Dauer des Lagers …“, schreibt Hans Marsalek in seinem Buch „Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen“. Den Leverkusener Pharmariesen hinderte das 1946 nicht, Vetter ein gutes Zeugnis auszustellen. „Herr Dr. Vetter hat seinen Aufgabenkreis mit guter Sachkenntnis und energisch angefasst. Er befriedigte uns in seinen Leistungen vollkommen“, heißt es dort. Das amerikanische Militärgericht kam zu einem anderen Urteil und sprach im August 1947 das Todesurteil aus.
Eugen Muszynski ist nach der Befreiung in Polen geblieben. Der damals 10-Jährige hatte auch keine andere Wahl: „Nach mir hat niemand gefragt“. Er wuchs in einer Einrichtung des Militärs auf, machte Abitur, studierte Medizin und praktizierte als Arzt. Aber ein richtiger Pole wurde der „Sauerkraut“ nie. Als der Mediziner sich 1968 an den Studentenprotesten beteiligte, verhaftete die Polizei ihn. „Ich sollte dahin gehen, wo ich hingehörte“, so Muszynski. Er ging in die USA, fühlte sich jedoch auch dort nicht zugehörig. So kam Eugen Muszynski 1982 nach Deutschland.
Er hatte seine KZ-Zeit zwar nie vergessen, aber durch seine jetzt beginnenden Erfahrungen mit dem NS-Nachfolgestaat holte ihn seine Vergangenheit doch in unerwartet massiver Form ein. Die Bundesrepublik verweigerte dem mittlerweile in Bonn lebenden Eugen Muszynski die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit und erteilte ihm keine Arbeitserlaubnis. Sein Antrag auf Einbürgerung läuft bereits seit zwei Jahren. Obwohl der Arzt alle Hebel in Bewegung setzte, um in den Kriegswirren verschollene Dokumente zu beschaffen, reichten den Behörden die Belege nie. Nicht einmal markante Narben akzeptierten sie als eindeutiges Identitätsmerkmal. „Sie bekommen nie die deutsche Staatsangehörigkeit!“, sagte ihm ein Beamter einmal auf den Kopf zu. Auf die Gegenfrage: „Warum?“, antwortete er knapp: „Weil ich es sage“. Eugen Muszynski hat für dieses Verhalten nur eine Erklärung: „Ich vermute, es hat ihm schon gereicht, als er vom KZ, von Auschwitz und vom Hochverrat meiner Eltern hörte“.
Die verweigerte Staatsangehörigkeit ist für den alten Mann mit großen finanziellen Einbußen verbunden. Das Sozialamt hat seine vom polnischen Staat gezahlte, 270 Euro hohe Rente für KZ-Opfer in seine Altersgrundsicherung eingerechnet, weshalb er nur 730 Euro zum Leben hat. Da er nicht gesetzlich krankenversichert ist, muss er davon die Kosten für medizinische Behandlungen und Medikamente tragen. Wofür das Geld nicht reicht: Statt der erforderlichen vier Dosen Insulin am Tag kann Eugen Muszynski sich nur jeden zweiten Tag Spritzen leisten. „So leben ehemalige KZ-Häftlinge in Deutschland“, sagt er bitter.
Mitte der 90er Jahre begann Muszynski Briefe an BAYER mit der Bitte um eine Entschädigung für die grausamen Menschenversuche zu schreiben. Die förmliche Antwort lautete: „Auf ihr neuerliches Schreiben vom 21.12.1995 teilen wir ihnen mit, dass jedenfalls nicht die BAYER AG für die von ihnen beschriebenen Verfehlungen verantwortlich ist“. Der Agromulti konzedierte lediglich: „Unbestritten ist die kollektive Schuld, die mit den tragischen Ereignissen der nationalsozialistischen Diktatur und des Weltkrieges in Zusammenhang steht“. Einzig im Kollektiv mit anderen Unternehmen war der BAYER-Konzern später dann zumindest symbolisch bereit, seiner moralischen Verpflichtung gegenüber den ZwangsarbeiterInnen nachzukommen. Ohne die Angst vor einem den Absatz in den USA gefährdenden Imageschaden wäre der Entschädigungsfonds der deutschen Wirtschaft allerdings nie zustande gekommen. 7.500 Euro erhielt Eugen Muszynski aus diesem Topf – aber wiederum erst nach einer entwürdigenden Odyssee durch bundesdeutsche Amtsstuben. „Ich habe den Fonds verflucht“, sagt der Rentner deshalb, „Alles zu erklären – das hat mir gesundheitlich mehr geschadet und mir mehr Probleme bereitet, als das Geld aufwiegen kann“.
Die Summe selbst bezeichnet er als blanken Hohn: „7.500 Euro Entschädigung. Kann man das überhaupt Entschädigung nennen? Ein Abteilungsleiter von BAYER verdient das in einem Monat, und ich habe das für drei Jahre KZ erhalten, für pseudomedizinische Versuche, (…), für umgebrachte Eltern, für das Verpfuschen meines ganzes Lebens, für die Vernichtung meiner Kindheit!“ Aber seine Verbitterung macht sich nicht an der Höhe des Betrages fest. „Das Geld ist nicht so wichtig. So etwas wie eine moralische Unterstützung – das gibt es hier nicht. Ein bisschen Geld und Haß noch dazu“, empört sich Eugen Muszynski.
Eine moralische Unterstützung gab es für ihn auch auf der diesjährigen BAYER-Hauptversammlung nicht, wo er als Vorsitzender des VERBANDES DER IM KINDESALTER INHAFTIERTEN FRÜHEREN HÄFTLINGE DER NATIONALSOZIALISTISCHEN KONZENTRATIONSLAGER eine Gegenrede hielt. Nach ein paar pflichtschuldig geäußerten Worten des Bedauerns über Muszynskis trauriges Schicksal war BAYER-Chef Werner Wenning bald wieder bei der offiziellen Sprachregelung „BAYER ist kein Rechtsnachfolger der IG FARBEN“ angelangt. Darüber hinaus besaß er noch die Kühnheit, die willigen Mediziner in Konzern-Diensten von jeglicher Mitschuld an den Menschenversuchen freizusprechen, indem er auf die Freisprüche im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß verwies, die allein dem Feindbildwechsel in den Zeiten des Kalten Krieges geschuldet waren. Über den Kollegen Vetter verlor er selbstverständlich auch kein Wort. Aber mit Menschen vom Schlage Wennings hat der alte Mann sowieso abgeschlossen. Er setzt auf die kommenden Generationen. „Deutschland wird sich ändern. Da brauchen wir vielleicht noch die nächsten 50 Jahre“, meint Eugen Muszynski. Hoffentlich täuscht er sich nicht.