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Tagesspiegel, 16. Juni 2011
Gefahr durch moderne Antibabypille
Arzneimittelforscher halten Vorgängerpräparate für deutlich risikoärmer als moderne Antibabypillen. So treten Thrombosen bei den jüngeren Pillen doppelt so häufig.
Berlin – Moderne Antibabypillen bergen ein mehr als doppelt so hohes Risiko gefährlicher Nebenwirkungen wie ältere Mittel, werden von Ärzten aber inzwischen weit häufiger verordnet als die Vorgängerpräparate. Darauf hat der Arzneimittelexperte Gerd Glaeske im neuen Arzneimittelreport der BarmerGEK hingewiesen. Als Grund vermutet der Bremer Wissenschaftler die gezielte Werbung und Vermarktung durch die Pharmaindustrie, die mit neuen, noch patentgeschützten Medikamenten höhere Gewinne erzielt als mit bewährten Mitteln.
„Tatsache ist, dass dieser Markt nicht zugunsten der Frauen ausfällt“, sagte Glaeske. Die sei „besorgniserregend“.
Nach aktueller Studienlage liege für diese Präparate das Risiko gefährlicher Thrombosen – berechnet auf 100 000 Frauen und die Einnahme über ein Jahr – bei 30 bis 40 Fällen. Bei den älteren Antibabypillen seien es, trotz gleicher Wirksamkeit und Zuverlässigkeit, nur 15 bis 20 Fälle.
Den Medizinern warf der Wissenschaftler vor, nicht rational und nach Nutzen-Risiko-Verhältnis zu verordnen. Sie sollten „nicht den Werbeaktionen und dem Marketinggeklingel pharmazeutischer Unternehmer folgen“. Und die Frauen sollten beim Arzt darauf drängen, das risikoärmere Präparat zu erhalten – auch wenn die anderen Mittel „lustige Namen“ trügen und in Frauenzeitschriften beworben würden, sagte Glaeske.
Von den beanstandeten Antibabypillen wurden 2010 mehr als 9,4 Millionen Packungen abgesetzt. Konkret geht es um die Mittel Valette, Lamuna, Nuvaring, Cerazette, Yasmin/Yasminelle, Aida, Desmin und Petibelle. Mit seinem Marktführer Valette bringt es der Hersteller Jenapharm allein auf einen Jahresabsatz von knapp drei Millionen Packungen. Die Firma Bayer HealthCare, die das Präparat Yasmin produziert, wies Glaeskes Darstellung zurück. Klinische Daten aus 15 Jahren und die Ergebnisse nachträglicher Sicherheitsstudien belegten, dass das Thrombose-Risiko durch den neuen Wirkstoff Drospirenon nicht höher sei als bei herkömmlichen Mitteln. raw
Rheinische Post, 16. Juni 2011
Profit mit der Pille
Auf dem Arzneimittelmarkt liegen Fluch und Segen nah beieinander. Die richtigen Wirkstoffe heilen Krankheiten, schenken Lebensjahre und erhöhen die Lebensqualität. Erst die Anti-Baby-Pille hat es den Frauen ermöglicht, ihr Leben frei und selbstbestimmt zu planen. Wenn nun aus Profitgier, wie es der Arzneimittelreport nahe legt, jungen Frauen riskante Verhütungsmittel verschrieben werden, dann gehört diese Praxis an den Pranger.
Die Pharmaindustrie ist ebenso erfolgreich im Entdecken neuer Arzneien wie im Vermarkten ihrer Pillen. Sie finanziert Ärztefortbildungen, hilft bei der Praxisausstattung und lässt ihre Vertreter in Kliniken und Praxen ausschwärmen. Die Ärzte sind das wichtigste Vehikel für die Hersteller. Da Arzneimittelwerbung für verschreibungspflichtige Medikamente in Deutschland verboten ist, konzentrieren die Unternehmen ihre gigantischen Werbeetats auf die Mediziner. Das erzeugt eine gefährliche Schieflage. Denn mit Hilfe der Pharmaindustrie erhalten Praxen und Kliniken indirekte Finanzspritzen, was Abhängigkeiten erzeugt. Die Regeln, wo die Grenzen der Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Industrie liegen, sind eigentlich klar. Offenbar mangelt es aber an Kontrollen. EVA QUADBECK
Neue Anti-Baby-Pille in Kritik
Berlin (RP). Weit über die Hälfte der jungen Frauen in Deutschland zwischen 16 und 20 Jahren nimmt die Pille. Arzneimittel-Experten warnen vor gefährlichen Nebenwirkungen bei einigen modernen Präparaten.
Millionen von Frauen setzen bei der Verhütung auf die Anti-Baby-Pille. Aus Sicht von Arzneimittel-Experten sind sie bei der Wahl der Präparate oft nicht gut beraten. Bei einigen modernen Produkten haben die Frauen ein doppelt so hohes Risiko, eine Tromboembolie, also einen Gefäßverschluss, zu erleiden wie bei herkömmlichen Präparaten.
Dies geht aus dem Arzneimittelreport hervor, den die Krankenkasse Barmer GEK vorgestellt hat. Trotz des Risikos zählt fast die Hälfte der 20 absatzstärksten Anti-Baby-Pillen des vergangenen Jahres zu den neuen Hormonmischungen. Der Bremer Forscher Gerd Glaeske erklärte, die neuen Präparate würden von der Pharmaindustrie gezielt beworben. Grund: Sie unterliegen noch dem Patentschutz und damit sind ihre Gewinnspannen höher. „Tatsache ist, dass dieser Markt nicht zugunsten der Frauen ausfällt“, sagte Glaeske. Er riet den Frauen, sich intensiver mit ihrem Arzt über die Wahl der Anti-Baby-Pille zu unterhalten.
Auf Kritik stieß bei den Arzneimittel-Experten auch die Verschreibungspraxis für Alkoholiker und Demenz-Kranke. Knapp jeder siebte Alkoholkranke erhält dem Report zufolge starke Schlafmittel mit zusätzlichem Suchtpotenzial. Von den Demenz-Kranken schluckt etwa ein Drittel regelmäßig starke Beruhigungsmittel. Die Betroffenen hätten ein deutlich höheres Sterberisiko, sagte Glaeske. Aus seiner Sicht könnten durch eine bessere Pflege 20 bis 30 Prozent weniger dieser Präparate verschrieben werden.
Die Ärzteschaft wollte gestern nicht zu den Vorwürfen Stellung nehmen. Man werde den Report zunächst der eigenen Arzneimittelkommission zur Prüfung vorlegen, hieß es bei der Bundesärztekammer. Der Berufsverband der Frauenärzte war zu keiner Stellungnahme zu erreichen.
Die Arzneimittel gelten als wichtigster Kostentreiber im Gesundheitswesen. Insgesamt geben die gesetzlichen Krankenkassen jährlich 29 Milliarden Euro für Tabletten, Salben und Säfte aus. Das Kostendämpfungsgesetz der Bundesregierung, das ein Preismoratorium und einen höheren Herstellerrabatt vorschreibt, hat bei der Barmer GEK im ersten Quartal allerdings Wirkung gezeigt. Die Arzneiausgaben seien um fünf Prozent gesunken, sagte Vize-Chef Rolf-Ulrich Schlenker.
Sorgen bereiten den Krankenkassen weiterhin die steigenden Ausgaben für Biologicals. Dabei handelt es sich um gentechnisch hergestellte Arzneien, die gegen schwere Krankheiten wie Multiple Sklerose, Rheuma und Krebs eingesetzt werden. Die Kosten für Therapien mit diesen Präparaten liegen nach Angaben der Barmer/GEK häufig im fünfstelligen Bereich pro Jahr. Das führt dazu, dass weniger als ein Prozent der Versicherten rund 30 Prozent der Arzneimittelausgaben für sich in Anspruch nehmen müssen. Die Kassen hoffen, die Kosten für die Biologicals in den Griff zu bekommen, indem sie auch in diesem Bereich verstärkt auf Nachahmer-Präparate setzen. „Wir müssen unbedingt die Erfolgsgeschichte der Generika wiederholen und die Biosimilars breiter einsetzen“, sagte Schlenker. Das wären Nachbauten der Biologicals.
Aktuell werden 85 Prozent aller Arzneimittel, die die gesetzlichen Kassen finanzieren, durch Nachahmer-Präparate abgedeckt. Nach Angaben des Arzneimittelreports sparen die Kassen damit rund zehn Milliarden Euro jährlich. VON EVA QUADBECK –