So schnell kann’s gehen: In Deutschland ist eine Debatte über Enteignungen entbrannt. Die Panik-Reaktionen aus den Vorstandsetagen ließen nicht lange auf sich warten. Aber müssen BAYER, BMW, SIEMENS & Co. jetzt wirklich Angst haben? Eher nicht. Die Konzerne profitieren sogar selber von den entsprechenden Regelungen im Grundgesetz.
Von Uwe Koopmann und Jan Pehrke
Ein kleines Gespenst geht um in Deutschland: Das Enteignungsgespenst. Freigelassen hat es eine Berliner Initiative, welche die Vergesellschaftung großer Immobilien-Konzerne als einziges Mittel sieht, der grassierenden Wohnungsnot Herr zu werden. Robert Habeck von Bündnis 90/Die Grünen äußerte Verständnis für den Vorstoß. Und in einem Interview mit der Wochen-Zeitschrift Die Zeit erweiterte der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert dann die Perspektive noch einmal und nahm auch Unternehmen wie BMW in den Blick. „Die Verteilung der Profite muss demokratisch kontrolliert werden. Das schließt aus, dass es einen kapitalistischen Eigentümer dieses Betriebs gibt. Ohne Kollektivierung ist eine Überwindung des Kapitalismus nicht denkbar“, sagte der Jungsozialist.
Es folgten harsche Reaktionen. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) warf Habeck „Linkspopulismus“ vor, und das Handelsblatt sah den Grünen-Vorsitzenden eine „Rolle rückwärts in den Sozialismus“ vollziehen. Kevin Kühnert musste sich Ähnliches anhören. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) machte bei dem Juso „das rückwärtsgewandte und verschrobene Retro-Weltbild eines verirrten Fantasten“ fest, während der CSU-Generalsekretär Markus Blume von „Hirngespinsten“ sprach. Die eigene Partei sparte ebenfalls nicht mit Kritik. „Grober Unfug“ erboste sich etwa Johannes Kahrs vom konservativen „Seeheimer Kreis“ der Sozialdemokraten. BAYERs Lobby-Club, der „Bundesverband der deutschen Industrie“ (BDI) durfte in dem Chor natürlich nicht fehlen. „Unausgegorene Ideen für eine sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsform verlieren sich im Nebel aus unbestimmten Wünschen und Rezepten von gestern“, resümierte der BDI.
Nur vereinzelt gab es anderslautende Statements. „Was Kevin Kühnert gesagt hat, geht vielleicht über das Ziel hinaus. Aber die Richtung ist die richtige“, meint etwa die Vorsitzende der Kölner SPD, Christiane Jäger: „Es läuft momentan etwas auseinander in dieser Republik. Es muss doch so sein, dass jemand, der sein Leben lang Vollzeit gearbeitet hat, von dem Gehalt leben kann und ihm das auch mit der Rente noch möglich ist. Solche Entwicklungen haben konkrete Auswirkungen für Köln. Wo sollen beispielsweise die guten Einkommen herkommen, wenn bei FORD abgebaut wird, bei BAYER, in den Zentralen der Handelskonzerne, in der Braunkohle bei RWE. Wenn diese Arbeitsplätze nach und nach wegfallen, kann die Situation irgendwann kippen.“
Der Artikel 15
Dreh- und Angelpunkt der Debatte: der Artikel 15 des Grundgesetzes. „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen des Gemeineigentums überführt werden“, hält dieser fest. Und der Leverkusener Multi hatte – unfreiwilligerweise – keinen geringen Anteil daran, dass der Paragraf Eingang in die Verfassung fand. Er gehörte nämlich zu den Mitgründern der IG FARBEN, und die Verbrechens dieses Konzerns und anderer Unternehmen während des Faschismus veranlassten die Mütter und Väter des Grundgesetzes, Vorsorge-Maßnahmen gegen eine unbeschränkte Kapital-Herrschaft zu treffen. So schreibt die Rheinische Post: „Lange führte dieser Artikel ein Schattendasein, bisher ist er nie angewendet worden. Dass er überhaupt ins Grundgesetz kam, ist aus der historischen Situation zu erklären. Großkonzerne hatten Nazi-Deutschland U-Boote, Panzer und Treibstoff für den Weltkrieg geliefert sowie Giftgas für die Vernichtungslager. Zugleich hatten es die Konzerne in der Weimarer Republik nicht vermocht, Wohlstand für alle zu erzeugen.“ Bis in die CDU hinein verbreitete sich diese Auffassung. „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Macht-Politik kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen“, heißt es im Ahlener Programm der Partei von 1947.
Wirtschaftsfreundliche Kreise traf der Enteignungsvorstoß einigermaßen unvor-bereitet. Zu spät hatten sie die offene Flanke in der Verfassung bemerkt, die auch noch vom Bundesverfassungsgericht gedeckt wird, spricht dieses doch von der „wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes“. Darum sannen die Fans des freien Unternehmertums sogleich auf Abhilfe, als sich die Schockstarre gelöst hatte. Wirtschaftsprofessor*innen starteten eine Initiative, um die soziale Marktwirtschaft in der Verfassung zu verankern, und die FDP setzt von der anderen Seite her an. Sie will den Bundestag zu dem Beschluss veranlassen, den Artikel 15 zu streichen. Einem entsprechenden Antrag, „Bauen statt Klauen“ betitelt, stimmten die Delegierten auf dem Bundesparteitag Ende April 2019 zu. „Artikel 15 passt nicht zur sozialen Marktwirtschaft. Er ist ein Verfassungsrelikt und wurde aus gutem Grund nie angewandt. Ihn abzuschaffen, wäre ein Beitrag zum sozialen Frieden und würde die Debatte wieder auf das Wesentliche lenken“, sagte Liberalen-Chef Christian Lindner dem Tagesspiegel zur Begründung.
Andere Fraktionen hingegen halten den Kapitalismus für wehrhaft genug, den aktuell diskutierten Bestrebungen zu trotzen. So findet der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht, Dieter Grimm, in der Faz beruhigende Worte: „Die Wege in die radikalen Alternativen sind verfassungsrechtlich versperrt. Vor der sozialistischen Planwirtschaft stehen die Grundrechte der Eigentumsfreiheit (Artikel 14), der Berufsfreiheit (Artikel 12) und, als Teil der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2, Absatz 1), die Vertragsfreiheit.“ Der Jurist Helge Sodan hält sogar den notorischen Artikel 15 für wetterfest, weil hohe juristische Hürden dem Ansinnen entgegenstehen, ihn als Instrument für den Aufbruch in die klassenlose Gesellschaft zu nutzen. Darum ist der Paragraf Sodan zufolge „bei genauer Betrachtung alles andere als ein ‚Einfallstor’ für die Etablierung des Sozialismus als Wirtschaftsform“, sondern eher eine „Sozialisierungsvermeidungsnorm“. Und dann ist da ja auch noch Europa. Beim Vertrag von Lissabon, von 2009, haben die Regierungschef*innen nämlich Nägel mit Köpfen gemacht und die soziale Marktwirtschaft fest im Artikel 3 verankert.
BAYER enteignet selbst
Ein bisschen was geht aber doch, nur leider profitiert davon nicht die Allgemeinheit – ganz im Gegenteil. Manchmal steht das Eigentum fremder Leute nämlich auch den Profit-Interessen der großen Konzerne im Weg. Und in solchen Fällen gilt es, flugs alle Hindernisse zu beseitigen. Wenn BAYER etwa quer durch Nordrhein-Westfalen eine 67 Kilometer lange Pipeline zur Durchleitung hochgiftigen Kohlenmonoxids verlegen will, muss ohne Rücksicht auf Verluste alles weichen, was auf der Strecke liegt. Das taten etwa Teile des Grundstücks des Landwirts Heinz-Josef Muhr. Deshalb kam das „Gesetz über die Errichtung und den Betrieb einer Rohrleitungsanlage zwischen Dormagen und Krefeld-Uerdingen“ in Anschlag, das die Lizenz zu Enteignungen ausstellt. Der „Lex BAYER“ folgte dann die „vorläufige Besitz-Einweisung“ auf dem Fuße. Durch diese erhielt der Leverkusener Multi die Verfügungsgewalt über den Grund und Boden und bestellte postwendend den Bau-Trupp. Muhr aber zog vor Gericht, denn er bestreitet die Rechtmäßigkeit des Verfahrens, dürfen Enteignungen doch nur vorgenommen werden, wenn sie dem Allgemeinwohl dienen. Und bei einer Leitung, die gemeingefährliches Giftgas transportiert, das der Konzern obendrein direkt vor Ort im Krefelder Chem-„Park“ produzieren könnte, ist ein solcher übergeordneter Nutzen nur schwerlich zu erkennen. Die juristische Auseinandersetzung, die bis vor das Bundesverfassungsgericht gelangte, zieht sich schon jahrelang hin. Während dieser Zeit ist viel passiert. BAYER stieß die Kunststoff-Sparte ab, die nun mitsamt dem Pipeline-Projekt unter dem Namen COVESTRO firmiert. Und 2015 verstarb Heinz-Josef Muhr. Aber der Prozess läuft weiter, Muhrs Frau Helga führt ihn fort. Die Entscheidung liegt jetzt beim Oberverwaltungsgericht Münster. Und ehe nicht die dortigen Richter*innen ihr Urteil gesprochen haben, darf die COVESTRO die schon lange fertiggestellte Pipeline nicht in Betrieb nehmen.
Mit Enteignungen hatte Heinz-Josef Muhr in seinem Leben schon so einige Erfahrungen gemacht. Strom-Masten und Autobahnen musste er schon Land opfern. Andere verloren wegen der Braunkohle Haus und Hof. In den Tagebau-Revieren macht der RWE-Konzern ganze Dörfer platt, damit er die Umwelt weiter mit dem schmutzigsten aller Energie-Träger belasten kann. Solche erzwungenen Besitzer*innen-Wechsel unter dem Signum des Allgemeinwohls gehören in der Bundesrepublik zum Alltag. Wie eine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Sven Kindler von Bündnis 90/Die Grünen ergab, laufen derzeit allein in Sachen „Autobahn-Bau“ 65 Enteignungsverfahren. „Wenn es darum geht, neue überflüssige Autobahnen durchzudrücken, haben CDU, CSU und FDP keine Probleme mit der Enteignung von Privatleuten und Bauern. Geht es aber um die Vergesellschaftung großer Immobilien-Konzerne, die ihre Markt-Macht für Preistreiberei ausnutzen, heulen sie laut auf“, brachte der Politiker die Doppelzüngigkeit auf den Punkt. Und Abhilfe ist vorerst nicht in Sicht. Eine „Lex BAYER“, die nicht dem Leverkusener Multi den Weg freiräumt, sondern der Gesellschaft, welche die Kapital-Macht demokratischer Kontrolle unterwerfen will, steht bis auf Weiteres wohl nur in den Sternen statt in den Gesetzbüchern. ⎜