Drugs & Pills
Der Skandal nach dem Skandal
HIV-Stiftung ohne BAYER
In den 1980er Jahren haben Blut-Produkte von BAYER & Co. Zehntausende Bluter und andere PatientInnen mit AIDS und/oder Hepatitis C infiziert, weil die Konzerne aus Profit-Gründen unter anderem die Einführung von Virus-Inaktivierungsverfahren hinausgezögert haben. Und damit nicht genug, entziehen sich die Unternehmen jetzt ihrer Verantwortung für die noch Lebenden: Sie tragen die Stiftung „Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-infizierte Personen“ nicht länger mit.
Von Jan Pehrke
Der 1. Juni 2017 war ein langer Tag für die BundestagsabgeordnetInnen. Bis weit nach Mitternacht sollte die 237. Sitzung des Bundestags dauern. Unzählige Gesetze, Beschluss-Empfehlungen und Berichte waren zu beraten. Fast ganz am Schluss stand auch das Gesetz „zur Fortschreibung der Vorschriften für Blut- und Gewebe-Zubereitungen und zur Änderung anderer Vorschriften“ auf der Tagesordnung. Darin wiederum fand sich der Änderungsantrag 14 zum HIV-Hilfegesetz, der lautete: „Die Nummern 1 bis 4 werden gestrichen. Eingefügt wird der Satz ‚Die Mittel für die finanzielle Hilfe werden vom Bund aufgebracht.’“ Zur Begründung hieß es: „Da es zunehmend schwieriger wird, weitere Finanzierungszusagen von den pharmazeutischen Unternehmen und dem DRK zu erhalten (…), soll der Bund die Finanzierung zukünftig sicherstellen.“
Die SteuerzahlerInnen bringen also zukünftig die Mittel für die Überlebenden des Blut-Skandals auf, für diejenigen Bluter und andere PatientInnen, die BAYER, BEHRING & Co. durch ihre Blutprodukte ohne Not mit AIDS und/oder Hepatitis C infizierten. Zu dieser späten Stunde haben davon kaum noch AbgeordnetInnen und JournalistInnen Notiz genommen. Dementsprechend berichteten die Medien nur äußerst spärlich. Und auch die die Presseerklärung der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN, die das Ausscheiden von BAYER & Co. aus der Stiftung einen „Skandal nach dem Skandal“ genannt hatte, stieß auf keine große Resonanz.
Der „Skandal vor dem Skandal“ begann in den frühen 1980er Jahren. Trotz der AIDS-Gefahr brachten die BAYER-Tochter CUTTER, BEHRING und eine handvoll anderer Unternehmen, die das globale Blutprodukte-Oligopol bildeten, ihre Faktor-VIII- und Faktor-IX-Präparate aus Profit-Gründen ohne ausreichende Sicherheitsvorkehrungen auf den Markt. CUTTER ging dabei im Dezember 1982 sogar über die Empfehlung von jemandem hinweg, der es wissen musste. Der frühere Firmen-Besitzer Ed Cutter, zu der Zeit noch als Berater für den Blutprodukte-Hersteller tätig, legte dem Vorstand dringend nahe, die ÄrztInnen über die Gesundheitsgefährdung durch HIV zu informieren. „Es scheint mir ratsam, in unsere Literatur zu Faktor IX und Faktor VIII einen Warnhinweis zu AIDS aufzunehmen“, schrieb er. Es geschah jedoch nichts, und wenig später war es dann so weit. Im Januar 1983 erfuhr der Konzern vom ersten AIDS-Fall unter seinen SpenderInnen. Aber selbst das veranlasste ihn nicht zu einem Umdenken. Er ließ für sein Blutgerinnungspräparat KOATE – entgegen anderslautenden Bekundungen gegenüber den Aufsichtsbehörden – nach wie vor Angehörige von Risiko-Gruppen zur Ader. Auch vermischte CUTTER weiterhin das Blut von bis zu 400.000 SpenderInnen miteinander, obwohl schon eine einzige kontaminierte Spende ausreichte, um den Erreger in der ganzen Charge zu verbreiten. Darum plädierten ExpertInnen seinerzeit dafür, den Pool zu verkleinern. Dem verweigerte sich das Unternehmen jedoch; „ökonomisch entmutigend“ lautete der Akten-Vermerk zu dem Vorschlag schlicht.
Trotz eines eigenen worst case scenarios, das eine „gigantische Epidemie“ mit 2.000 AIDS-infizierten Blutern allein in den USA für möglich hielt, betrieb die Firma weiter „Business as usual“. Mit allen Mitteln sträubte CUTTER sich dagegen, eine Erfindung von BEHRING zu übernehmen und die Viren per Hitze-Behandlung zu deaktivieren. Und zwar nicht nur, weil das Lizenz-Gebühren gekostet hätte. „Die bestehende Technik wurde nicht eingesetzt, da sich bei dem Verfahren die Menge des Plasmas auf ein Viertel reduziert hätte. Dementsprechend wären auch die Profite der Firma BAYER geschrumpft“, hielt der inzwischen verstorbene Bluter Todd Smith der Vorstandsriege im Jahr 1998 auf der Hauptversammlung vor. „Finanzielle Gründe waren also wichtiger als die Sicherheit der Patienten. Diese Entscheidung hat Tausenden von Blutern das Leben gekostet“, resümierte er damals.
Die Aufsichtsbehörden mussten BAYER & Co. bei ihrem Treiben nicht fürchten. In Dennis Donohue von der US-amerikanischen „Food and Drug Administration“ (FDA) fanden sie einen willigen Helfer, der sich auf ihre Hinhalte-Taktik einließ und sogar Außenpolitik im Sinne der Multis betrieb. So reiste er nach Europa, um seinen dortigen KollegInnen wider besseren Wissens zu versichern, dass die Pharma-Industrie in seinem Land kein Blut von Risiko-Gruppen verwendet. Im Vorfeld hielt CUTTER dazu fest, Donohue fliege, „um dort unsere Strategie zu verteidigen. Er erbittet deshalb Unterstützung von uns, damit er drüben beruhigend wirken kann, dass wir alles täten, AIDS-Infizierte von der Plasma-Spende auszuschließen“.
In der Bundesrepublik verhielt es sich ähnlich. Die Pillen-Riesen gingen im Bundesgesundheitsministerium ein und aus, hatten ihre Leute in wichtigen Gremien sitzen und verstanden sich bestens mit den Bediensteten. Und kleine Geschenke erhielten die Freundschaft. So spendierte BAYER dem Behörden-Chef Karl Überla auch schon mal eine Flugreise nach Israel. Bei einer Anhörung zur AIDS-Krise im Herbst 1983 zeigte sich dann, was die Industrie in dem Epidemologen hatte. Es ging dort nämlich nicht um „Kopf und Kragen“, wie die Unternehmen fürchteten, sondern darum, ob es sich bei der Krankheit überhaupt um eine Infektion handele und sie nicht eher auf eine allergische Reaktion, genetische Faktoren oder Umwelteinflüsse zurückzuführen sei. ExpertInnen, die eine andere Meinung vertraten, ließ Überla nicht zu Wort kommen, und sogar die AIDS-Arbeitsgruppe seines eigenen Hauses verurteilte er zum Schweigen. All das trug wesentlich dazu bei, die Einführung von wirksamen Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit der Blut-Produkte zu Darum überlebte das Bundesgesundheitsamt den AIDS-Skandal auch nicht. Der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer löste es auf und schasste den Industrie-Amigo Überla.
Und selbst als die meisten westlichen Staaten dann endlich die Hitze-Behandlung von KOATE & Co. gesetzlich vorschrieben, war die Gefahr noch nicht gebannt. BAYER verkaufte die alten Chargen einfach nach Asien weiter. Der Pharma-Riese hatte sich in langfristigen Verträgen nämlich zu einem Festpreis verpflichtet und dachte nicht daran, das in der Herstellung teurere KOATE HT zu diesen Konditionen abzugeben. Zudem hieß es in internen Dokumenten: „Wir müssen die Lagerbestände aufbrauchen.“ In Japan galt es dazu allerdings, in die Portokasse zu greifen. Der Konzern zahlte einem Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums in Tateinheit mit BAXTER und anderen Unternehmen 409.524 Dollar, damit dieser die Tür für die medizinischen Zeitbomben offen hielt.
Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses zu den verseuchten Blutpräparaten, Gerhard Scheu (CSU) nannte das Treiben von BAYER & Co. Anfang der 1990er Jahre den „zynischsten Umgang mit Menschenleben seit Contergan“. Nicht zuletzt deshalb lautete der letzte Satz der CBG-Presseerklärung zur Veränderung des HIV-Hilfegesetzes: „Wir kritisieren heute den Rückzug von BAYER aus der Finanzierung der Stiftung, aber eigentlich wäre es nötig, dem Konzern Gravierenderes anzulasten, Totschlag nämlich, und auch Gravierenderes einzufordern: eine strafrechtliche Verfolgung.“