IG FARBEN & heute
Gerhard Domagk im „Dritten Reich“
BAYERs Nobelpreisträger
Der Arzt und Psychoanalytiker Dr. rer. nat. Detlev Stummeyer stieß bei seinen Familien-Forschungen auf einen Briefwechsel des ehemaligen BAYER-Forschers Gerhard Domagk mit dem Großvater seiner Frau, Paul Bosse, dem Chirurgen und Autoren der Monografie „Die örtliche Sulfonamidtherapie“ (1942). Seitdem beschäftigt er sich mit dem Mann, der in keiner BAYER-Festschrift fehlen darf. Domagk entdeckte nämlich 1932 die antimikrobielle Wirkung der Sulfonamide und erhielt dafür 1939 den Medizin-Nobelpreis. Den durfte er allerdings nicht annehmen. Stattdessen verbrachte er sogar einige Tage in Haft. Aber reicht diese Episode, um aus dem Wissenschaftler einen Regime-Gegner zu machen? Das Stichwort BAYER geht der Frage nach.
Von Detlev Stummeyer
Gerhard Domagk und die Sulfonamide gehören zusammen. 1932 entdeckte der BAYER-Wissenschaftler die antimikrobielle Wirkungsweise dieses Pharma-Stoffes, und nicht wenige sehen darin zu Recht eine wahre Revolution der Behandlungsmöglichkeiten in der Medizin. Wahre Wunderdinge erwartete die Fachwelt damals von den Sulfonamiden. In so gut wie allen Disziplinen der Heilkunst halten die Sulfonamide ihren Einzug – heutzutage würde man es einen „Hype“ nennen. Domagk, der zu der Zeit im Wuppertaler Werk der von BAYER mitgegründeten IG FARBEN die Stellung eines Abteilungsleiters innehat, reagiert etwas zurückhaltender. Er streicht zwar deutlich die neuartigen Qualitäten der heute eher ein Schattendasein fristenden Sulfonamide heraus, verbindet dies aber mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer genauen Indikationsstellung und dringt auf die Beachtung bestimmter Regeln bei ihrer Anwendung wie etwa eine möglichst frühzeitige Einnahme in genügend hoher Dosierung und Menge.
Für seine Entdeckung der Wirkkraft der Sulfonamide erhält Domagk 1939 den Medizin-Nobelpreis. Er darf die Auszeichnung allerdings nicht entgegennehmen. Da Hitler die Verleihung des Friedensnobelpreises an den antifaschistischen Journalisten Carl von Ossietzky sehr erzürnt, untersagt er 1937 allen Deutschen, den Nobelpreis anzunehmen. So bedankt sich Domagk in einem offiziellen Brief für die Ehrung, äußert jedoch starke Zweifel daran, den Preis annehmen zu können. Schon allein das ist den Nazis zu viel. Nach dem Willen des Auswärtigen Amts und der Reichskanzlei sollte nämlich die deutsche Gesandtschaft in Stockholm die Ablehnung verkünden. Der BAYER-Forscher startet einen Versuch, Hitler umzustimmen. Er wendet sich persönlich an ihn und bittet, das Preisgeld für wohltätige Zwecke spenden zu dürfen. Die „Pflege von deutschen Verwundeten und solchen des Feindes“ in deutscher Hand schlägt er vor, „falls nicht eine andere Regelung im Interesse des Reiches wichtiger ist“. Das Schreiben bleibt jedoch ohne Antwort. Zwischenzeitlich kann der Bakteriologe und Pathologe noch einmal Hoffnung schöpfen, denn mit Adolf Butenandt und Richard Kuhn gibt es weitere deutsche Nobelpreisträger und in der Folge Fürsprecher für eine Annahme. Hitler bleibt jedoch bei seinem Entschluss. Und Domagk kommt am 17.11. sogar für mehrere Tage in Haft – auf Geheiß des „Führers“ wegen „verbotener internationaler“ Kontakte, wie der Forscher während des Krieges von einem ihm bekannten Professor und höheren NS-Funktionär erfährt. Einen vorformulierten, ablehnenden Brief an das Nobelpreis-Komitee müssen die drei Geehrten unterschreiben: Domagk kurz nach seiner Haft, Butenandt nach einer Bedenkzeit, Kuhn den Zusatz „Des Führers Wille ist unser Glaube“ hinzufügend.
Aber weist die Affaire um den Nobelpreis Domagk schon als Gegner des Nationalsozialismus aus? Ganz so einfach stellt sich der Sachverhalt nicht dar. Hitlers Intervention wird kurz nach Domagks Haft in einem geheimen Schreiben mit dem „illoyalen Verhalten“ des Wissenschaftlers gegen das Reich begründet, gleichzeitig wird seine wissenschaftliche Leistung hervorgehoben. Die auf Domagks Ansehen als unbestechlicher Patriot bedachte Biographie von Ekkehard Grundmann1 lässt die erst in den 1960er Jahren verfassten Erinnerungen Domagks zu einem authentischen Tagebuch werden. Grundmann ist es, der wichtige Abschnitte ausblendet, in denen sich Domagk als Nutznießer des NS-Systems zu erkennen gibt. Hingegen attestiert im November 1939 der SD (Sicherheitsdienst, Außenstelle Wuppertal) dem Forscher, „voll auf dem Boden des Nationalsozialismus“ zu stehen2.
Für Domagks Karriere hat die Haft dann auch keine negativen Folgen. Er erhält kein Reiseverbot, im Gegenteil, er fährt ab 1940 vielfach zu Ehrungen ins faschistische Ausland, wird aber auch im Inland ausgezeichnet. Zudem erhält er als geschätzter Wissenschaftler weiterhin Einladungen zu Vorträgen und Kongressen. „Aus dem Ministerium in Berlin (Prof. Mentzel) (einflussreicher Wissenschaftspolitiker und hohes SS-Mitglied, Anm. SWB)“ wird ihm bedeutet, dass man ihn für seinen Verzicht auf den Nobelpreis entschädigen wolle, berichtet Domagk in seinen Erinnerungen. Und er ist geschmeichelt und genießt sichtlich die vielfältigen Kontakte auf seinen Reisen ins Ausland, die ihn auch mit staatlichen Würdenträgern und faschistischen Parteifunktionären zusammenbringen. Er gibt sich als ein überzeugter Deutsch-Nationaler zu erkennen, der lange Hitlers Erfolge feiert. Er ist kein Nationalsozialist, aber ein Beispiel dafür, wie es die Machthaber im „Dritten Reich“ verstanden haben, mit Hilfe von Gratifikationen auch dem NS-System ursprünglich nicht nahestehende Personen für eine Zusammenarbeit zu gewinnen, solange es genügend ideologische Übereinstimmungen gibt. Im Falle von Domagk verschränkt sich diese Zusammenarbeit mit der engen Verstrickung seines Arbeitgebers, der IG FARBEN, mit dem Hitler-Regime. Noch Anfang der 1960er Jahre, zu der Zeit, als er an seinen Erinnerungen schreibt, spricht er rückblickend angesichts von innerbetrieblichen Konflikten im Jahr 1943 von mehreren Angeboten. Er müsse nur „zusagen“, dann werde der Gau Ostpreußen für ihn ein Institut errichten oder er könne in einem Werk in Schlesien weiter forschen – der Wechsel nach Ostpreußen bleibt allerdings ebenso aus wie der nach Monowitz, wo die IG FARBEN ein eigenes KZ betreibt.
So nimmt es kein Wunder, dass er Ende 1943 durch den Reichsminister des Inneren Heinrich Himmler zum Ehrenmitglied des Robert-Koch-Institutes, das sich an Menschenversuchen mit KZ-Häftlingen beteiligt, ernannt wird. 1944 wird er in den Wissenschaftlichen Beirat des Bevollmächtigen für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, Karl Brandt, berufen. Ebenfalls 1944 wird er für seine Entdeckungen auf dem Gebiet der Sulfonamide mit dem „Ritterkreuz des Kriegsverdienstkreuzes“ ausgezeichnet – eine Ehrung, die nur mit Hitlers persönlicher Zustimmung erfolgen kann. Noch am 30.1.45 erhält der BAYER-Wissenschaftler von der Universität Münster, an der er Pathologie lehrt, die Ehrendoktorwürde. Aus der Hand des Rektors, dem fanatischen Nationalsozialisten Herbert Siegmund, nimmt er sie entgegen. Für die anlässlich dieser Ehrung ausgerichtete Feier in Salzuflen, wohin die Medizinische Fakultät in den letzten Kriegsmonaten ausgelagert wird, bedankt er sich vielmals beim Rektor, mit Wünschen für „ihre aufblühende Universität als Vorbild künftiger deutscher Hochschulen“. Kein Zweifel: Domagk gehört, auch während der NS-Zeit, zur ärztlichen Elite Deutschlands.
Sein Interesse an den Sulfonamiden rührt von seiner Erfahrung als Sanitäter im Ersten Weltkrieg her. Damals vermag man gegen Gasbrand-Infektionen, eine besonders schwere Wundinfektion, nichts auszurichten; sie enden zumeist mit einer Amputation oder dem Tod. Darum kämpft Domagk nun dafür, dass den Militär-Ärzten bei der Behandlung von Wundinfektionen die Anwendung von Sulfonamiden befohlen wird. Im Sonderlazarett Brüssel demonstriert der Mediziner im Sommer 1942 die Wirkung bereits eingesetzter Sulfonamide an Tieren. Aber obwohl er damit den Heeres-Sanitätsinspekteur Siegfried Handloser und Karl Brandt, Begleitender Arzt Hitlers und mitverantwortlich für die Ermordung von geistig und körperlich Behinderten im Zuge der Aktion T4, überzeugt, wird die bestehende Empfehlung für die Anwendung von Sulfonamiden bei Wundinfektionen nicht umgewandelt in eine Anweisung mit Befehlscharakter – und dies ändert sich auch im ganzen Krieg nicht mehr.
Im Gegensatz dazu entscheiden sich die Alliierten sehr früh für den obligaten Einsatz von Sulfonamiden bei Wundinfektionen. Die Engländer erbeuten 1943 in Nordafrika von der deutschen Armee zurückgelassenes, ihnen unbekanntes Sulfonamid, das IG-Produkt Marfanil. Als dieses Medikament in englischen Kliniken getestet wird, stellt man fest, dass es das wirkungsvollste, bisher untersuchte Sulfonamid gegen Gasbrand sei. Amerikanische Forscher hielten 1940 dieses Sulfonamid in ihren Händen, unterließen aber eine Testung auf anaerobe Bakterien, die Erreger des Gasbrands – so entging ihnen die besondere Wirksamkeit dieses Stoffes gegen Gasbrand-Infektionen.
In Deutschland tobt derweil ein erbitterter Streit um die Anwendung von Sulfonamiden bei Kriegswunden zwischen um ihr Fach fürchtenden, einflussreichen Chirurgie-Professoren auf der einen Seite und nicht so renommierten Chirurgie- und Dermatologie-Professoren sowie Militär-Ärzten auf der anderen Seite. Immer wieder versucht Domagk zaudernde Kollegen von der Notwendigkeit eines obligaten Einsatzes von Sulfonamiden gegen Gasbrand-Erreger zu überzeugen. Sie lassen aber nur eine großzügige Ausschneidung der Wundränder als chirurgische Behandlung gelten; sie befürchten eine Vernachlässigung chirurgischer Maßnahmen und bestreiten den Nutzen einer zusätzlichen medikamentösen Behandlung mit Sulfonamiden. Allerdings werden die Sulfonamide bis Kriegsende massenweise bei Wundinfektionen an der Front eingesetzt, und ihr praktischer Nutzen spricht eine eindeutige Sprache: Viele Leben werden durch diese Behandlung gerettet. Trotzdem wird 1949 auf dem Chirurgie-Kongress in Frankfurt die Wirksamkeit der Sulfonamide zur Verhinderunng oder Linderung von Wund-Infektionen angezweifelt. Es werde bei aller Begeisterung „eine Nachlese geben (…), und diese Nachlese wird eine sehr chirurgische sein“, bekommt Domagk nach seinem Vortrag von Eduard Rehn, dem Präsidenten der „Deutschen Gesellschaft für Chirurgie“ zu hören.
Traurige „Berühmtheit“ erlangen die Sulfonamide durch die Menschenversuche in den Konzentrationslagern Dachau und Sachsenhausen, vor allem aber durch die im KZ Ravensbrück ab Juli 1942. Zwar hat es schon ab 1939/40 Versuche zur Gasbrand-Behandlung gegeben, aber nach dem Scheitern der „Blitzkriege“ und einer bedrohlich steigenden Zahl von Kriegsverletzten drängen Wehrmacht und Waffen-SS auf eine Klärung des Streits. Die Art, wie das geschieht, spricht nicht nur jedem moralischen Empfinden Hohn, sie hält auch keinen wissenschaftlichen Kriterien stand, nicht zuletzt deshalb, weil ein Mediziner damit nur sein persönliches Interesse verfolgt.
Nach dem Tod des hohen SS-Führers Reinhard Heydrich im Juni 1942 durch ein Attentat gerät nämlich der seine Behandlung beaufsichtigende Chirurg Karl Gebhardt bei Hitler und Himmler unter Druck, hat er doch als entschiedener Gegner der neuen Therapie bei der durch die Verletzungen ausgelösten Sepsis eine Behandlung mit Sulfonamiden unterlassen3. Er setzt durch, dass die Menschenversuche unter seiner Aufsicht und Bewertung im KZ Ravensbrück erfolgen, um seinen Therapie-Ansatz zu stützen. So dienen als Versuchspersonen nicht etwa die im KZ bereits an Gasbrand erkrankten Häftlingsfrauen. Stattdessen infizieren Ärzte Versuchspersonen neu. Durch das Einbringen von Gasbrand-Erregern, Holzspänen und Glassplittern in eine tiefe, künstlich gesetzte Wunde erzeugen die Mediziner in der letzten von drei Versuchsserien das Vollbild einer Gasbrandinfektion. Den zur Behandlung mit Sulfonamiden ausgewählten 24 jungen polnischen Häftlingsfrauen wird jedoch nicht die ausreichende Dosis an Sulfonamiden verabreicht. Im Ergebnis zeigt sich so kein wesentlicher Unterschied zu den unbehandelten Versuchspersonen. Von den 24 Polinnen sterben schließlich fünf an einer Infektion, sechs werden nach Versuchsende erschossen. Die Überlebenden sind nach dem Erleiden höllischer Qualen zumeist invalide. Gebhardt wird bei den Nürnberger Prozessen dafür bestraft: Wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhängen die Richter die Todesstrafe.
Im Mai 1943 werden die Resultate – weitgehende Wirkungslosigkeit der Sulfonamide bei der Behandlung einer Gasbrand-Infekton – schließlich vor der versammelten akademisch-ärztlichen und militär-ärztlichen Elite Deutschlands referiert, ohne dass eine einzige protestierende Stimme sich erhebt, als deutlich wird, dass diese Versuche an wehrlosen Opfern durchgeführt wurden. Trotz des negativen Ausgangs der Menschenversuche setzt sich dann in der Wehrmacht die Behandlung des Gasbrands mit Sulfonamid, speziell mit dem IG-Produkt Marfanil, zunehmend durch.
Die spätere Behauptung Domagks, er habe von der Existenz der Konzentrationslager und damit der Menschenversuche erst nach dem Krieg erfahren, ist stark anzuzweifeln. Ein Forscher mit seinem Renommee und in seiner Stellung hatte wissenschaftlichen Kontakt zu Medizinern, die in Menschenversuche involviert waren – auch IG-Kollegen in Wuppertal-Elberfeld sind das. Zudem soll er persönlich Marfanil-Proben an Gebhardt geschickt haben4. Auf jeden Fall muss das ‚Übersehen’ der verbrecherischen Experimente sehr viel psychischen Aufwand gekostet haben.
Domagk wendet sich gegen Ende des Krieges dann mehr der Entwicklung von Tuberkulostatika zu, wobei er um die Unterstützung seiner Vorgesetzten kämpfen muss, denen eine wissenschaftliche Arbeit auf dem mehr Gewinne versprechenden Gebiet der Sulfonamide lieber gewesen wäre. Aus den Tuberkulostatika-Forschungen wird jedoch seine zweite Großtat erwachsen: die Entwicklung von Conteben und Neoteben (INH). Woran er ab Frühjahr 1944 bis Kriegsende forscht, bleibt im Unklaren, darüber schweigt Domagk. Dass auch er zu denen gehört, auf die der Nationalsozialismus angewiesen ist, wovon der Wissenschaftler wiederum profitiert, hat er da schon längst vergessen. Bereits in seinen Entnazifizierungsunterlagen schreibt er im September 1945, er habe „auf Veranlassung der Universität“ das Ritterkreuz des Kriegsverdienstkreuzes verliehen bekommen. Dass es der Rektor des „Totalen Krieges“, sein Kollege im Wissenschaftlichen Beirat von Karl Brandt und Freund Herbert Siegmund ist, der ihn für die Ordensverleihung im Dezember 1943 dem Reichsmarschall Göring vorschlägt, spielt hier keine Rolle mehr. Domagk hat so an seiner eigenen Legendenbildung gearbeitet, aber andere haben gerne daran mitgewirkt und sie befördert – bis heute.
1Ekkehard Grundmann, Gerhard Domagk. Der erste Sieger über die Infektionskrankheiten. Münster 2001. Hier S. 3; besonders eklatant S. 110.
2Alfred Neubauer, Bittere Nobelpreise. Norderstedt 2011. Hier Pos. 481 (eBook)
3 Offiziell stirbt Heydrich an Sepsis. Hardt findet in einer Nachschau der Obduktionsbefunde keinen Hinweis auf ein septisches Geschehen. (Hardt, Nicolas: Das Attentat von Prag 1942 und die Chirurgie – Zwischen Wissenschaft und Politik, in: Deutsche Gesellschaft für Chirurgie (Hg.): Mitteilungen, Heft 2/2012, S. 157–164, hier S. 161).
4Paul Weindling, Victims and Survivors of Nazi Human Experiments. Science and Suffering in the Holocaust. London 2015, S. 86.