Politik & Einfluss
Hormon-ähnliche Chemikalien von BAYER & Co.
Eine globale Bedrohung
Chemikalien haben viele gesundheitsgefährdende Eigenschaften. Eine der unheimlichsten: Manche Substanzen wirken ähnlich wie bestimmte körpereigene Stoffe und können damit den menschlichen Organismus gehörig durcheinanderwirbeln. So gleichen bestimmte Pestizide, Weichmacher oder andere Produkte wie etwa Bisphenol A in ihrem chemischen Aufbau Hormonen. Krebs, Diabetes, Fettleibigkeit, Unfruchtbarkeit und andere Gesundheitsstörungen beschreiben MedizinerInnen als mögliche Folge. Darum will die EU die VerbraucherInnen besser vor diesen Produkten von BAYER & Co. schützen, aber die Konzerne torpedieren das nach Kräften. Ein Lehrstück in Sachen „Lobby-Arbeit“.
Von Jan Pehrke
Hormone sind die Botenstoffe des Körpers. Sie erfüllen damit eine wichtige Aufgabe in seinem Regulationssystem. Die biochemischen Substanzen steuern beispielsweise das Knochen-Wachstum, den Zucker- und Fett-Stoffwechsel, die Verdauung und die Sexualentwicklung. Stört nun etwas die Signal-Übertragung, so kommen falsche Botschaften an, was die Abläufe gehörig durcheinanderwirbeln kann. Und als solche „Störer“ – sogenannte endokrine Disruptoren (EDs) – hat die Wissenschaft seit einiger Zeit bestimmte Chemikalien ausgemacht. Viele dieser Substanzen gleichen in ihrem Aufbau nämlich Hormonen und haben deshalb ein beträchtliches Irritationspotenzial. Die mögliche Folge: Krankheiten wie Krebs, Diabetes, Fettleibigkeit, Dysfunktionen des Nerven- und Immunsystems sowie Herz-, Leber- und Gebärmutter-Leiden.
Der Leverkusener Multi hat eine ganze Menge dieser Stoffe im Angebot. Und manche davon wie etwa das Antiraupen-Mittel RUNNER sollen sogar hormonelle Effekte entfalten. Es zählt nämich zu den Insekten-Wachstumsregulatoren, die BAYERs europäischer Lobbyverband „European Crop Protection Association“ (ECPA) wie folgt beschreibt: „Pheromone und Insekten-Wachstumsregulatoren werden im Pflanzenschutz speziell wegen ihrer Wirkungsweise als endokrine Disruptoren eingesetzt, um den Fortpflanzungsprozess zu stören oder den Lebenszyklus der Insekten zu verkürzen.“
Bei anderen Agro-Giften des Konzerns fällt die Beeinträchtigung des Hormonsystems hingegen eher in die Rubrik „Risiken und Nebenwirkungen“. Dies ist auch bei den anderen Substanzen mit hormon-ähnlichen Eigenschaften aus der Produktpalette des Global Players der Fall wie z. B. bei Weichmachern oder der Industrie-Chemikalie Bisphenol A, von welcher der Pharma-Riese allein im Jahr 2011 rund 1,2 Millionen Tonnen pro Jahr herstellte.
Bereits seit den 1990er Jahren warnen WissenschaftlerInnen vor den Gefahren, die durch endokrine Disruptoren drohen. Die Politik blieb jedoch lange untätig. Die Europäische Union brachte 1999 zwar eine „Strategie für Umwelthormone“ auf den Weg, erkannte aber erst in der Dekade nach dem Jahrtausend-Wechsel Handlungsbedarf, wie die französische Publizistin Stéphane Horel in ihrem Buch „Intoxication“ ausführt. Im Rahmen der Neuordnung der Pestizid-Zulassungen nahm die EU 2009 auch die hormonelle Wirkung der Ackergifte in den Blick. Das Europäische Parlament sprach sich dabei für ein Verbot der entsprechenden Substanzen aus. Zu einer entsprechenden Regelung in der „Verordnung 1107/2009“ kam es damals jedoch nicht. Diese sollte erst per Nachtrag erfolgen, wenn die Europäische Kommission genaue Kriterien zur Bestimmung der EDs entwickelt hatte. Bis Ende 2013 gaben die ParlamentarierInnen ihr dafür Zeit.
Mit der Detail-Arbeit betraute die Kommission dann – vorerst – die „General-Direktion Umwelt“. Diese beauftragte zunächst eine Gruppe von WissenschaftlerInnen mit einer Untersuchung zum Forschungsstand in Sachen „hormon-ähnliche Chemikalien“. Anfang 2012 lag der Report „State of the Art Assessment of Endocrine Disrupters“ schließlich vor. Er bescheinigte den Stoffen einmal mehr gesundheitsschädigende Eigenschaften. Diese „rechtfertigen es, die endokrinen Disruptoren als ebenso besorgniserregende Substanzen anzusehen wie krebserregende, erbgutschädigende und reproduktionstoxische Produkte“, hält die Studie fest. Die ForscherInnen schlugen deshalb vor, eine eigene Kategorie für RUNNER & Co. zu schaffen und diese auch nicht wie andere potenziell gefährliche Hervorbringungen der Industrie nach der Wirkstärke zu beurteilen. Ein solches Kriterium erlaubt den WissenschaftlerInnen zufolge nämlich keine Rückschlüsse auf das von den EDs ausgehende Gesundheitsrisiko. Die Dosis macht das Gift – eben das trifft auf die endokrinen Disruptoren nicht zu, weshalb nach Meinung der AutorInnen auch Grenzwerte nicht vor deren Gefahren schützen. Der an der Expertise beteiligte Andreas Kortenkamp hatte das schon 2002 in einem Experiment nachgewiesen. Er mischte Polychlorierte Biphenyle, wie sie BAYER bis zu ihrem Verbot im Jahr 1989 massenhaft produzierte, Bisphenol A und sechs weitere Chemikalien zusammen, die für sich genommen nicht östrogen wirken, und erhielt ein überraschendes Ergebnis. „0 + 0 + 0 + 0 + 0 + 0 + 0 + 0 = 8“ lautete das Resultat. Also das glatte Gegenteil eines Nullsummenspiels. „Etwas, das aus dem Nichts entsteht“, fasste Kortenkamp den beunruhigenden Befund zusammen. „Schädliche chemische Stoffe in Produkten des täglichen Bedarfs müssen verboten werden. Die Gesundheit steht über dem wirtschaftlichen Interesse“, forderte der Toxikologe deshalb später in einem Zeitungsartikel.
Die unter seiner Federführung entstandene Untersuchung für die General-Direktion Umwelt alarmierte die Industrie und trieb sie zu einer beispiellosen Lobby-Offensive, in der BAYER eine Hauptrolle einnahm. Zudem machten noch zahlreiche große Organisationen Druck. So setzte die CEFIC, der europäische Verband der Chemie-Industrie, die endokrinen Disruptoren ganz oben auf seine Liste mit den „Lobbying-Schlüsselthemen“. Und die CEFIC kann sich diesem Schlüsselthema mit einiger Macht widmen: Sie ist mit ihren 29.000 Mitgliedsfirmen die größte europäische Unternehmensvereinigung, hat in Brüssel 150 Beschäftigte und verfügt über einen Jahresetat von 40 Millionen Euro. Damit nicht genug, opponierten noch weitere Verbände der Konzerne gegen allzu weitreichende Regulierungspläne. Zu ihnen zählten etwa die ECPA, der Zusammenschluss der europäischen Pestizid-Hersteller, dessen US-amerikanisches Pendant „Croplife“, das „American Chemistry Council“ und „Plastic Europe“ mit Patrick Thomas an der Spitze, dem Chef der BAYER-Tochter COVESTRO.
Zunächst heuerten BAYER & Co. willige WissenschaftlerInnen an, um Zweifel am Kortenkamp-Report zu säen.
Der vom „American Chemistry Council“ bestellte und bezahlte Text erschien dann Ende Mai 2012 in der Fachzeitschrift Criticial Reviews in Toxicology. Schon ein Blick auf die deklarierten Interessenskonflikte genügt, um sich eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Kritik, die sich hauptsächlich auf Fragen der Methodik konzentriert, zu ersparen. Alle sechs Autoren verfügten nämlich über beste Connections zu den Multis. Sie arbeiteten beispielsweise als Berater für die BASF oder das „American Chemistry Council“ und veröffentlichten in Tateinheit mit ForscherInnen von BAYER, DUPONT oder MONSANTO Artikel.
Einen ersten Zwischenerfolg erzielten die Konzerne schon bald darauf. Hatten die Unternehmen schon länger daran gearbeitet, den Einfluss der General-Direktion Umwelt zu begrenzen und industrie-freundlicheren EU-Organisationen mehr Gewicht in dem Prozess zukommen zu lassen, so konnten sie im Oktober 2012 Vollzug melden. Die Europäische Kommission übertrug der „Europäischen Behörde für Lebensmittel-Sicherheit“ (EFSA) die Aufgabe, ein wissenschaftliches Gutachten zur Identifizierung und zur Bewertung der endokrinen Disruptoren zu verfassen. Und die Agentur, deren MitarbeiterInnen mehr als einmal mit ihren Beziehungen zur Wirtschaft in die Schlagzeilen geraten waren, versuchte ihrem schlechten Ruf bereits von Anfang an gerecht zu werden: In der von ihr berufenen Arbeitsgruppe befanden sich nämlich überhaupt keine Hormon-SpezialistInnen. Das Ergebnis fiel entsprechend aus: „EDs können wie alle anderen den Menschen und die Umwelt gefährdenden Substanzen behandelt werden.“ Eine Beurteilung nicht einzig nach dem Gefahren-Potenzial, sondern überdies nach dem üblichen Kriterium der Wahl, dem Risiko-Potenzial, schlug die EFSA deshalb vor.
Endokrine Disruptoren fallen für die Agentur also nicht aus dem Rahmen dessen, was sonst so an schädlichen Chemikalien aufläuft, und der Umgang mit diesen kann ihr zufolge daher auch weitgehend in dem bisherigen Rahmen stattfinden. Das war natürlich ganz im Sinne der Industrie. Besonders die Zurückweisung des Gefahren-Ansatzes als einzigem Maßstab zur Beurteilung der EDs fand den Gefallen der Multis. Eine Prüfung der Stoffe auf der Grundlage der Gefahr unterscheidet sich nämlich maßgeblich von einer solchen auf der Grundlage des Risikos. Eine Bewertung anhand der Gefahr nimmt allein die Eigenschaften des Produkts an sich in Blick, eine anhand des Risikos berücksichtigt indes das Ausmaß, in dem Mensch, Tier und Umwelt der Chemikalie ausgesetzt sind. Während die Gefahr einer Substanz also immer absolut gilt und keine Grenzen kennt, ist das Risiko immer relativ. Es ist unter anderem von der Wirkstärke abhängig, und als Maß der Dinge kommt so der Grenzwert ins Spiel, der das Höchstmaß der Belastbarkeit anzeigt. Solche Limits träfen auf die – zähneknirschende – Zustimmung von BAYER & Co., erlaubten diese ihnen doch zumindest, ihre Waren, wenn auch mit mehr oder weniger großen Beschränkungen, auf dem Markt zu halten. Das gelänge bei einer Inventur unter der Maßgabe der Gefahr nicht. Danach müssten etwa alle als EDs identifizierte Acker-Gifte mit einem Verbot rechnen.
Und genau dieses, was der Kortenkamp-Report, ganz im Sinne der Pestizid-Richtlinie von 2009, nahelegte, indem er den endokrinen Disruptoren einen Sonderstatus zuschrieb und das Prinzip der Wirkstärke als Richtschnur für die Bewertung ablehnte, stellte die EFSA jetzt zur Disposition. Die Behörde tat dies wider besseren Wissens, war sie doch kurz vor dem Veröffentlichungsdatum noch drauf und dran, alles zu revidieren. Dass zwei Uno-Organisationen den Stand der Wissenschaft so ganz anders wiedergegeben hatten als sie selber und von den endokrinen Disruptoren als einer „globalen Bedrohung“ sprachen, hatten sie nämlich ins Zweifeln gebracht. „Ich denke, dass wir unseren Bericht (…) leider umarbeiten müssen, damit er besser reflektiert, was der Rest der Welt denkt“, e-mailte ein Mitglied der Arbeitsgruppe aufgestört. Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der EFSA schlug indessen vor, wenigstens das Kapitel „Schlussfolgerungen“ zu ändern. Aber am Ende blieb doch alles, wie es war.
Die GD Umwelt hatte also allen Grund, an ihrem umfassenderen Schutz-Ansatz festzuhalten. Das allerdings rief BAYER auf den Plan. Der Leverkusener Multi gelangte vorzeitig in den Besitz des entsprechenden Papiers der GD Umwelt – ein Vertrauter bei der Kommission hatte es dem Chemie-Verband CEFIC durchgesteckt – und setzte im Juni 2013 einen Brief an die stellvertretende Generalsekretärin der EU-Kommission, Marianne Klingbeil, auf. „Die DG ENV (= GD Umwelt, Anm. SWB) favorisiert gegenwärtig ein Konzept, welches durchgängig auf der Basis des Vorsorge-Prinzips konstruiert worden ist (Hazard assessment). Dies bedeutet eine fundamentale Abkehr von den Prinzipien der Risiko-Bewertung und wird in Konsequenz weitreichende, gravierende Auswirkungen auf die Chemie-Branche und Agrar-Industrie (vor allem wegen der bei Pflanzenschutzmitteln angewandten cut-off-Kriterien, die einen Verlust der Zulassung bedingen), nach sich ziehen“, zeigte sich der Pharma-Riese alarmiert. Mehr als 37 Pestizide sieht er von einem Verbot bedroht. Allein der Bann der Antipilz-Mittel aus der Gruppe der Triazole, zu denen etwa die BAYER-Produkte PROVOST OPTI, FOLICUR und NATIVO gehören, würde zu einem Produktivitätsrückgang von 20 Prozent und zu Ernte-Verlusten bis zu 40 Prozent führen, rechnet der Konzern unter Bezugnahme auf zwei Studien vor. Mit Verweis auf die EU-Maxime der „Better regulation“ fordert er die Kommission deshalb auf, bei ihrer Entscheidung über die endokrinen Disruptoren die Auswirkungen auf die Wirtschaft mit zu berücksichtigen und ein sogenanntes Impact Assessment durchzuführen.
Und Brüssel erhörte die Signale. Statt wie vorgesehen 2013 die Kriterien zur Beurteilung der EDs vorzulegen, kündigte die Europäische Kommission erst einmal eine solche ökonomische Folge-Abschätzung an. Der Leverkusener Multi gab sich damit aber nicht zufrieden. Hatte er bereits vor dem Brief an Marianne Klingbeil gemeinsam mit BASF und SYNGENTA ein Scheiben an die EU verfasst und sich darin besorgt gezeigt, die Kriterien zur Bestimmung der endokrinen Disruptoren könnten ihren „komplett sicheren“ Pestiziden den Garaus machen, so setzte er in Tateinheit mit mehreren anderen Konzernen Mitte Oktober 2013 erneut ein Schriftstück auf. Darin gingen die Absender das Vorsorge-Prinzip von einer anderen Seite her an. Sie wollten es nun durch ein „Innovationsprinzip“ ergänzt wissen. Ein Gleichgewicht zwischen Gesundheitsschutz und Innovationsförderung sollte Brüssel nach Meinung der Vorstandschefs anstreben, denn: „Innovationen sind per definitionem mit Risiken verbunden.“
Damit endeten die Lobby-Aktivitäten von BAYER & Co. aber noch bei Weitem nicht. So brachte der willige Wissenschaftler Daniel Dietrich, der immer wieder gerne gemeinsam mit den ForscherInnen von BAYER, DOW oder ASTRAZENECA Studien publiziert, in der Fachzeitschrift Toxicology Letters einen höhnischen Artikel über die mit den endokrinen Disruptoren verbundenen Ängste unter. Darin deklarierte er forsch die den EDs zugeschriebenen Fruchtbarkeitsschädigungen wie etwa die Minderung der Samen-Qualität zu Symptomen einer männlichen Hysterie. „Man kann sich fragen, ob das ganze Thema ‚EDs’ nicht eher in die Kompetenz von Dr. Sigmund Freud fällt als in die der Toxikologie“, meinten Dietrich und seine Co-Autoren. Auf kaum höherem Niveau argumentierten die Konzerne und ihre Vorfeld-Organisationen.
Die CEFIC etwa griff in ihren zahlreichen Eingaben zum Standard-Argument der Industrie und bestritt den Kausal-Zusammenhang zwischen Substanz und Nebenwirkungen. Stattdessen führte die Organisation andere mögliche Ursachen ins Feld wie Umwelteinflüsse und Lebensführung. Zudem erklärte sie die Symptome für reversibel. Allen Ernstes führte sie dafür in einem Schreiben an die EU Horror-Filme als Beispiel an. Diese riefen auch hormonelle Reaktionen des Körpers hervor, allerdings klängen diese bald wieder ab, so die CEFIC.
BAYER versuchte darüber hinaus noch, die LandwirtInnen gegen eine allzu weitreichende Regulation der endokrinen Disruptoren zu mobilisieren. Der Leverkusener Multi entwarf ein Horror-Szenario von Ernte-Verlusten durch bald nicht mehr erhältliche Pestizide und rief die FarmerInnen dazu auf, sich an den Konsultationen Brüssels zu den EDs zu beteiligen. Darüber hinaus ließ der Global Player seine Beziehungen spielen, um direkt mit Karl Falkenberg, dem Leiter der GD Umwelt, ins Gespräch zu kommen. Der heute beim Berliner „Global Forum for Food and Agriculture“ tätige Eckart Guth bat seinen früheren EU-Kollegen Falkenberg um eine Zusammenkunft mit dem BAYER-Manager Franz Eversheim. „Lieber Karl, ich schreibe dir, um dich zu bitten, Herrn (Name in dem EU-Dokument geschwärzt, Anm. SWB) zu treffen, den Leiter Public and Government Affairs Europa von BAYER CROPSCIENCE. Wir haben vor einiger Zeit beim Bier nach dem Tennis über das zur Diskussion stehende Thema gesprochen. Aber ich fürchte, es ist zu ernst, um es dabei belassen zu können. Darum würde ich dir vorschlagen, Herrn (geschwärzt, Anm. SWB) zu treffen, den ich in institutionellen Angelegenheiten berate“, hieß es in dem Schreiben. Und das zur Diskussion stehende Thema, das waren die Kriterien zur Bestimmung der endokrinen Disruptoren. Ob es dann auch wirklich zu dem Tête-à-Tête gekommen ist, das vermochte Stéphane Horel nicht herauszubekommen, dennoch zeigt das Dokument sehr gut, wie Lobbyismus in Brüssel so funktioniert.
2013 brachten es BAYER & Co. allein in der zweiten Juni-Hälfte auf sechs Treffen mit EU-Offiziellen; rund 30 Mails der Industrie liefen in diesem Zeitraum auf. Sogar den Profi-AntichambrierInnen von der ECPA begann das alles über den Kopf zu wachsen. Der Druck von Seiten der Mitgliedsfirmen sei „enorm“, schütteten sie Peter Korytar von der GD Umwelt ihr Herz aus. Dazu kam noch Unterstützung aus Übersee. „Croplife America“, der US-Verband der Pestizid-Produzenten, und das „American Chemistry Council“ übten Druck auf die EU-Repräsentanz in Washington aus, weil sie sich Sorgen um ihre Agrogift-Exporte machten. Darum setzten sie die Pläne der EU in Sachen „endokrine Disruptoren“ auch auf die Agenda der TTIP-Verhandlungen. Als mögliches Handelshemmnis und ein konkretes Beispiel für Reform-Bedarf bei der Regulierungszusammenarbeit galten diese den US-amerikanischen Verbänden.
All das ließ die EU-Kommission nicht ungerührt. Sie entzog schließlich der GD Umwelt die Verantwortung in dem Prozess und verschleppte die Arbeit an den Kriterien für die Bestimmung der ED-Kriterien immer mehr. So sehr, dass Schweden schließlich der Kragen platzte. Das Land verklagte die Kommission wegen Untätigkeit und bekam im März 2016 auch Recht zugesprochen.
Nun mussten Juncker & Co. endgültig liefern. Und Mitte Juni taten sie es schließlich. Die Europäische Kommission unterrichtete das Europäische Parlament und den Europäischen Rat „über endokrine Disruptoren und die Entwürfe der Kommissionsrechtsakte zur Festlegung der wissenschaftlichen Kritierien für ihre Bestimmung im Kontext der EU-Rechtsvorschriften über Pflanzenschutzmittel und Biozid-Produkte“.
Bei der Definition der EDs verzichtet die Kommission auf die umstrittenen Kategorie der Wirkstärke, sie greift zur Freude von BAYER & Co. „wohl aber bei der Bewertung des tatsächlichen Risikos, das von endokrinen Disruptoren ausgeht“, auf diese zurück. Und noch eines weiteren „aber“ bedient Junckers Riege sich. Sie will die Verbotsanordnungen grundsätzlich zwar auf der Grundlage des Gefahren-Ansatzes verhängen und nicht dem Risiko-Relativismus frönen, der sich am dem Maß der ED-Dröhnung orientiert, allein: „Es gibt jedoch einige begrenzte Ausnahmen“. Zu diesen zählt die Kommission ein vernachlässigbares Risiko, eine vernachlässigbare Exposition, sozio-ökonomische Gründe und ernste Gefährdungen der Pflanzen-Gesundheit. Eine ganz schön große Auswahl für die Konzerne – da hatte das die wirtschaftlichen Folgen der ED-Regulierung abschätzende „Impact Assessment“ seine Wirkung offensichtlich nicht verfehlt.
Dementsprechend hart fiel das Urteil von Umweltverbänden und Fachwelt aus. „Das Vorsorge-Prinzip wird durch die Vorschläge mit Füßen getreten“, konstatiert etwa das PESTIZID AKTIONS-NETZWERK (PAN). Hätte ursprünglich der Beleg einer hormon-schädlichen Eigenschaft für eine Regulierung ausgereicht, so müsse nun die Relevanz eines schädlichen Effekts beim Menschen tatsächlich nachgewiesen sein“, moniert die Initiative. Zudem kritisiert PAN die Erweiterung der Ausnahme-Bestimmungen für hormon-aktive Pestizide, die jetzt im Umlauf bleiben dürfen, wenn sie eine bestimmte Schwelle nicht überschreiten. Als „ganz im Sinne der Pestizid- und Chemie-Industrie“ und „Vorboten von CETA und TTIP“ bezeichnet die PAN-Aktivistin Susanne Smolka die Vorschläge der EU. Die Wissenschaftsvereinigung „Endocrine Society“ lehnt den vorgelegten Entwurf ebenfalls ab. „In Bezug auf die endokrinen Disruptoren noch strengere wissenschaftliche Maßstäbe anzulegen als in Bezug auf die Karzinogene, für die sie schon sehr streng sind, wäre ein Schritt in die falsche Richtung“, so Rémy Slama. Auch das Umweltbundesamt zeigt sich enttäuscht: „Damit verlässt die EU den gefahren-basierten Ansatz, den wir fordern.“ Während bundesdeutsche PolitikerInnen sich mit Kommentaren zurückhielten, bezeichnete die französische Umweltministerin Ségolène Royal die Vorlage aus Brüssel als „extrem enttäuschend“. Gemeinsam mit ihren KollegInnen aus Schweden und Dänemark setzte sie deshalb einen Brief an Jean-Claude Juncker auf, der ein generelles Verbot von endokrinen Disruptoren in Pestiziden zur Forderung erhob.
Die Industrie ließ sich indessen ihre Freude nicht anmerken. Aus taktischen Gründen zog sie es vor, gleichfalls in den Chor der KritikerInnen einzufallen, um die Vorlage der EU als goldenen Mittelweg erscheinen zu lassen und ihre erfolgreiche Lobby-Arbeit nicht durch eine Geste des Triumphalismus zu gefährden.
Die ECPA richtete ihren Tunnelblick einzig auf die Ausnahme-Regelungen und empfand diese als ungenügend. Aus diesem Grund krittelte der Pestizid-Verband an den Kriterien herum, die sich seiner Ansicht nach etwas risiko-freudiger hätten zeigen sollen, statt nur der Gefahr ins Auge zu sehen. „Eine Regulierung durch Ausnahmen ist weder akzeptabel noch wissenschaftlich. Wenn man immer mehr Ausnahmen schaffen muss, ist das ein Anzeichen dafür, dass mit den Kriterien etwas nicht stimmt“, meinte ECPA-Sprecher Graeme Taylor. Der „Verband der Chemischen Industrie“ zeigte sich ebenfalls demonstrativ verstimmt. „Die Kriterien taugen in der Praxis nicht zu einer verlässlichen Unterscheidung in schädliche und harmlose Stoffe“, konstatierte er. Harmlose Substanzen gibt es unter den Chemikalien mit hormoneller Wirkungen nach Ansicht der Lobby-Organisation von BAYER & Co. nämlich wirklich. „Eine sichere Handhabung hormon-aktiver Stoffe ist möglich“, befand der Verband und plädierte einmal mehr für eine Regulierung mit Hilfe von Grenzwerten nach Maßgabe der Wirkstärke der EDs. Und dienten seinem europäischen Pendant CEFIC noch Horror-Filme als Beispiele für hormonell Wirksames mit geringer Halbwertzeit, so rekurriert der bundesdeutsche Chemie-Verband nun auf Vitamin D und Koffein als Substanzen, die unterhalb bestimmter Konzentrationen keine Irritationen im Hormon-System hervorrufen.
Lob erntete Brüssel kaum. Nur das „Bundesinstitut für Risiko-Bewertung“ (BfR) tat sich wieder einmal unrühmlich hervor. Hatte sich das Institut, in dessen Kommissionen VertreterInnen von BAYER, BASF und anderen Konzernen sitzen, schon in Sachen „Glyphosat“ als Anwalt von Unternehmenspositionen hervorgetan, so ging es nun auch d’accord mit dem EU-Entwurf zu den EDs. „BfR begrüßt wissenschaftliche Kriterien der EU-Kommission für die Identifizierung endokriner Disruptoren“, überschrieben die Risiko-BewerterInnen ihre Pressemeldung. Kunststück: Die Bundeseinrichtung hatte in ihren Einfluss in dem ganzen Prozess immer wieder geltend gemacht. So saßen BfR-VertreterInnen etwa in der EFSA-Arbeitsgruppe, welche keinen prinziellen Unterschied zwischen den endokrinen Disruptoren und anderen Chemikalien machen wollte. Darüber hinaus betonte das Bundesinstitut schon früh „die große ökonomische Tragweite“ der Entscheidung über die hormonellen Substanzen und trat deshalb bei der Kommission immer für Grenzwerte statt für Totalverbote ein.
In der belgischen Hauptstadt geht jetzt erst einmal alles seinen EU-bürokratischen Gang. Andere Gremien müssen sich mit dem Kommissionsentwurf befassen, was noch zu einigen Konflikten führen dürfte. BAYER & Co. haben sich dafür schon einmal in Stellung gebracht und im Falle eines missliebigen Ergebnisses sogar mit gerichtlichen Auseinandersetzungen gedroht. Aber auch die Initiativen haben bereits mit Aktionen begonnen. So hat das PESTIZID AKTIONS-NETZWERK eine Unterschriften-Aktion an den Start gebracht. Und die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN wird ebenfalls nicht untätig bleiben.