Die Welt, 15. April 2004
Persönliches Risiko zum Wohle der Gesellschaft
US-Umweltbehörde erlaubt Pestizidversuche am Menschen – Kritik von Ethikern und Toxikologen
Washington – Massenhaftes Insektensterben und das Umkippen von Gewässern – das verbinden nicht nur Ökoanhänger mit dem Begriff Pestizide. Bei vielen Menschen schrillen die Alarmglocken, weil diese Chlorverbindungen möglicherweise schwere Erkrankungen wie etwa Krebs auslösen können. Allerdings lässt sich nicht exakt beantworten, wie groß die Gefahr tatsächlich ist. Denn Pestizide werden überwiegend im Labor und im Tierversuch überprüft. Für den Menschen bedeutet dies ein unbekanntes Restrisiko, das nun berücksichtigt werden soll.
Eine Gutachterkommission der US-amerikanischen Umweltbehörde erklärte, dass man zur Einschätzung eines Pestizids durchaus Versuche am Menschen durchführen dürfe – wenn „der potenzielle Nutzen für die Gesellschaft mögliche Risiken für die Teilnehmer“ überwiegt. Für die Hersteller von Pestiziden steht fest, dass die Gesellschaft in jedem Falle von solchen Studien profitiert, weil sich nur dadurch verlässliche Grenzwerte, etwa für Rückstände in Nahrungsmitteln, festlegen ließen. Den amerikanischen Behörden wurden daher schon die Ergebnisse diverser Menschenversuche vorgelegt.
„Es sind stets materiell benachteiligte Menschen, die ihre Gesundheit bei solchen Tests aufs Spiel setzen“, so kritisiert die Studien Philipp Mimkes von der Coordination gegen Bayer-Gefahren – das Leverkusener Unternehmen ist einer der weltweit führenden Pestizidhersteller. Die Testteilnehmer werden gut bezahlt, teils mit vierstelligen Euro-Beträgen. Das verführt einige Probanden zur Teilnahme an mehreren Versuchsreihen. Und das erhöht nicht nur ihr Gesundheitsrisiko, es limitiert auch die Aussagekraft der Studien: Der Körper eines „testtrainierten“ Menschen ist sicherlich nicht repräsentativ für die Durchschnittsbevölkerung. Auch Hermann Kruse, Toxikologe von der Universität Kiel, sieht in den Pestizidtests am Menschen keinen Sinn: „Denn dabei werden sehr geringe Dosierungen angewendet, die nur wenig gemeinsam haben mit den tatsächlichen Belastungen, denen beispielsweise ein mit Pestiziden arbeitender Landarbeiter ausgesetzt ist.“ Zudem sei zweifelhaft, ob wirklich alle möglichen Gefahren erfasst würden.
„Ob etwa ein Pestizid Krebs erregend ist, lässt sich beim Menschen nur in Langzeitbeobachtung an einer großen Probandengruppe nachweisen“, warnt Kruse, und darauf seien die Tests nicht ausgelegt. Zudem seien Auswirkungen auf eine Schwangerschaft allein aus ethischen Gründen unüberprüfbar. Pestizidversuche am Menschen bieten also – bei relativ hohem Restrisiko – nur wenig Chancen auf echten Erkenntnisgewinn. Kruse vermutet daher, dass die Chemieindustrie sie vor allem deshalb durchsetzen will, um die Zulassungsbehörden dazu zu bewegen, die bestehenden Grenzwerte für Pestizide zu lockern. „Denn hier orientiert man sich bislang nach Laborversuchen und einem dicken Sicherheitsabschlag, wenn vom Tier auf den Menschen übertragen wird.“ Mit Studien am Menschen könne man nun diese Sicherheitsabschläge außer Kraft zu setzen – „und das bedeutet letzten Endes“, so Kruse, „dass größere Pestizidmengen verkauft werden können“.
Deutsche Chemieunternehmen betonen allerdings, dass man wohl daran interessiert sei, dass bei der Risikoabschätzung für Pestizide schon existierende Studien am Menschen berücksichtigt werden, aber neue Menschenversuche seien, wie Norbert Lemken, Sprecher von Bayer Crop-Science, erklärt, „derzeit und in Zukunft nicht geplant“. Den Ethikkommissionen der hiesigen Ärztekammern liegen keine entsprechenden Anträge vor. Sie hätten wohl auch vor dem Hintergrund des Traumas, das die Menschenversuche „erkenntnishungriger“ NS-Ärzte hinterließen, kaum eine Chance.
von Jörg Zittlau