Freitag, 4/2004, 16.01.2004
Schmutzige Tricks: DIE CHEMIEINDUSTRIE UND DAS VORSORGEPRINZIP
Nicht Giftstoffe beseitigen, sondern Umweltschützer mit ungewöhnlichen Maßnahmen bekämpfen
Ob in Fischen, Polarbären, in der Muttermilch, im Hausstaub oder in alltäglichen Produkten – giftige Stoffe aus industrieller Produktion sind überall nachweisbar. Zahlreiche Krankheiten werden mit der ständig steigenden Chemiefracht in Verbindung gebracht. Schätzungen zufolge könnte allein im deutschen Gesundheitswesen ein zweistelliger Milliardenbetrag eingespart werden, sollten die Belastungen durch Chemikalien signifikant zurückgehen. Trotzdem sind in Amerika wie auch in Europa Zehntausende Stoffe auf dem Markt, die nie auf ihre Gefahren hin untersucht wurden. Staatliche Stellen werden erst aktiv, wenn es zu gravierenden Umwelteinwirkungen kommt. Umweltschützer fordern daher nicht nur, Chemikalien zu verbieten, die sich in Mensch und Umwelt anreichern, sondern auch die Veröffentlichung sämtlicher toxikologischen Daten sowie genaue Informationen darüber, welche Stoffe in Konsumgütern enthalten sind.
Zwar würde die Allgemeinheit von solchen Schritten profitieren – sowohl finanziell als auch durch einen Rückgang chemikalien-induzierter Erkrankungen. Doch für die Industrie geht es um Milliardenbeträge. Würde man das Vorsorgeprinzip konsequent anwenden, müssten Tausende gefährlicher Chemikalien vom Markt genommen werden, die Zulassung neuer Stoffe würde erheblich erschwert – Grund genug, das Vorsorgeprinzip mit harten Bandagen zu bekämpfen. Bestrebungen der Europäischen Union, die Gefahren durch Chemikalien zu verringern, wurden deshalb von der Industrie als „wettbewerbsfeindlich“ und „Programm zur Vernichtung von Millionen Arbeitsplätzen“ denunziert. Die intensive Lobby der Chemieunternehmen blieb nicht ohne Wirkung: In dem kürzlich vorgestellten EU-Gesetzesentwurf wird die Beweislast für die Produktsicherheit nicht auf die Produzenten übertragen, sondern bleibt bei Behörden und Umweltverbänden. Auch das ursprüngliche Vorhaben, risikoreiche Chemikalien nur dann zuzulassen, wenn keine sicheren Alternativen existieren, ließ die EU fallen. Eifrige Unterstützer fand die Chemie-Industrie besonders in Bundeskanzler Schröder und Wirtschaftsminister Clement, die mehrmals in Brüssel intervenierten, um der Reform die Zähne zu ziehen.
In den USA geht die Chemie-Industrie nun einen Schritt weiter. Der American Chemistry Council (ACC), dem neben Dow Chemical, DuPont, Monsanto und ExxonMobil auch die deutschen Konzerne BASF, Bayer und Degussa angehören, ließ von der Werbeagentur Nichols- Dezenhall ein Strategiepapier und eine Kampagne entwerfen, um Forderungen kalifornischer Umweltverbände schon im Vorfeld entgegenzutreten. Nichols-Dezenhall mit Sitz in Washington ist besonders für Schmutzkampagnen bekannt. Die Firma beschäftigt eine Vielzahl ehemaliger FBI- und CIA-Agenten zur Ausspionierung von Umweltaktivisten und anderen Kritikern. Nick Nichols, Teilhaber der Firma, rechtfertigt solche Maßnahmen mit der „Gefährlichkeit radikaler Umweltschützer“, die er mit der von Terroristen vergleicht. Mitarbeiter der Agentur schreckten in der Vergangenheit nicht davor zurück, heimlich den Abfall von Umweltschützern zu untersuchen, um ihnen ökologisch nicht korrektes Verhalten nachweisen zu können.
Die Kampagne, die vor allem in Kalifornien durchgeführt werden soll, beinhaltet denn auch eine Reihe „ungewöhnlicher Maßnahmen“. Man will die persönlichen Daten von Umweltschützern sammeln und „unkonventionelle Bündnispartner“ anwerben. Vertreter von Minderheiten wie Schwarze oder Latinos, Verbraucherschützer und wissenschaftliche Institute sollen das Anliegen der Unternehmen in der Öffentlichkeit unterstützen. Ein „unabhängiges“ Institut ist geplant, das die negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft „wissenschaftlich“ belegt. Möglichst dann, wenn Diskussionen oder Abstimmungen über relevante Gesetze anstehen, sollen industriefinanzierte „Bürgerinitiativen“ mit Demonstrationen, Radiospots, Rundbriefen, Vorträgen und Pressekonferenzen auf die negativen Folgen vorsorgender Umweltschutzmaßnahmen hinweisen. Konservative Journalisten und Talkshow-Moderatoren will man in Hintergrundgesprächen mit Material versorgen. Sie sollen die Debatte lenken, damit jeder begreift: Das Vorsorgeprinzip führt „zurück in die Steinzeit“.
Kalifornien, stets Vorreiter in der Umweltgesetzgebung der USA, hatte in den vergangenen Jahren für einige besonders risikoreiche Anwendungen (wie Flammschutzmittel) vorsorgende Untersuchungen vorgeschrieben. In dem Strategiepapier wird der Bundesstaat als „Leithammel“ bezeichnet, dessen Entwicklung anderen Teilen der USA als Vorbild dient – weswegen eine verschärfte Umweltgesetzgebung dort „besonders aggressiv“ bekämpft werden müsse. Das eigentlich geheime Papier wurde der Environmental Working Group zugespielt – der Umweltverband erhielt das Konzept von einer der „unabhängigen Gruppen“, die vom American Chemistry Council als Bündnispartner gewonnen werden sollte. In einem Brief an den ACC fordert Bill Walker, Vize-Präsident der Environmental Working Group, alle Personen und Organisationen offen zu legen, die im Rahmen der Kampagne engagiert beziehungsweise gegründet wurden. „Ich gehöre zu den kalifornischen Umweltaktivisten, deren Müll Sie offenbar durchsuchen. Es ist für mich eine Farce, wenn sich der ACC in der Öffentlichkeit als ehrbarer Teil der Gesellschaft darstellt, der nichts zu verbergen hat“, schreibt Walker.
Erst kürzlich hatte der Chemieverband seinen Mitgliedern empfohlen, in den nächsten zehn Jahren 250 Millionen Dollar für Werbemaßnahmen auszugeben, um das öffentliche Interesse von Sicherheitsfragen abzulenken. Ted Schettler, Direktor des Science and Environmental Health Network: „Die Mitglieder des ACC hatten, mit wenigen Ausnahmen, in den letzten 50 Jahren einen Freifahrtschein. Sie haben daher keinerlei Neigung, Informationen über die Risiken ihrer Produkte zu veröffentlichen.“
Auch Jürgen Rochlitz, Chemieprofessor und Mitglied der von der Bundesregierung eingesetzten Störfallkommission, ist empört:
„Dieses Strategiepapier bietet einen seltenen Einblick in die doppelzüngige Vorgehensweise der Chemieindustrie. In Werbekampagnen ist von intensiven Anstrengungen für den Umweltschutz die Rede – gleichzeitig werden Kritiker bespitzelt und selbst elementarste Sicherheitsvorkehrungen mit allen Mitteln bekämpft. Der Schutz von Umwelt und Verbrauchern ist für die Industrievertreter offenbar vollkommen nebensächlich.“ Professor Rochlitz fordert Bayer, BASF und Degussa auf, den ACC zu verlassen und sich deutlich von der Kampagne zu distanzieren. „Man muss sich nur den Aufschrei vorstellen, wenn Umweltschützer in solcher Weise Vertreter der Industrie ausspionieren oder unter falschem Namen auftreten würden. Man würde dies als kriminell und terroristisch bezeichnen und juristisch dagegen vorgehen.“
Gerade der Bayer-Konzern hat eine lange Tradition unethischer Firmenpolitik. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts vermarktete das Unternehmen aggressiv das „Hustenmittel“ Heroin, obwohl die Suchtgefahr von Heroin bekannt war. Im ersten Weltkrieg erfand die Firma chemische Kampstoffe und setzte sich vehement für deren Verwendung ein. Im Rahmen der IG Farben war Bayer tief in das Dritte Reich verstrickt und für Menschenversuche, den Tod Tausender Zwangsarbeiter und die Plünderung eroberter Gebiete mitverantwortlich. In den achtziger Jahren wurden Tausende Bluter durch Bayer-Produkte mit HIV infiziert – der Konzern hatte trotz Kenntnis des Ansteckungsrisikos auf Testverfahren verzichtet und noch Jahre nach Auftreten der ersten Infektionen alte Chargen verkauft. Zu den aktuellen Skandalen des Unternehmens gehören die jahrelang bekannten Nebenwirkungen von Lipobay, denen mindestens 100 Patienten zum Opfer fielen, Preisabsprachen mit Konkurrenten und Falsch-Deklaration von Pharmazeutika, die den amerikanischen Steuerzahler dreistellige Millionenbeträge kostete.
Kritikern begegnet der Konzern mit Einschüchterungsversuchen – mehrfach wurden Umweltaktivisten mit Prozessen überzogen. Arroganz auch gegenüber Vertretern von Politik und Justiz, wie Staatsanwalt Erich Schöndorf während einer Hausdurchsuchung bei Bayer erlebte: „Es drängte sich der Verdacht auf, dass man Teile des Konzerns für rechtsfreie Räume hält, in denen Staatsanwälte nichts zu suchen haben – selbst wenn sie mit einem richterlichen Durchsuchungsbeschluss kommen.“
Philipp Mimkes, Mitarbeiter „Coordination gegen BAYER-Gefahren“