Neues Deutschland, 15. Juli 2014
Mordanklage gegen Bayer?
Mutmaßliche Medikamentenopfer wollen Konzern zur Aktenherausgabe zwingen
Der Rechtsstreit um das Hormonpräparat Duogynon geht wohl in eine neue Runde. Bayer verweigert die Herausgabe von Akten des Vorgängers Schering. Dennoch könnte es für Bayer eng werden…
Der Rechtsstreit um mutmaßliche gesundheitliche Folgen des Hormonpräparats Duogynon könnte in eine neue Runde gehen. Die Anwälte des Klägers André Sommer, eines Lehrers aus Bayern, bereiten nach mehreren gescheiterten Verfahren nun Mordanklage vor deutschen Gerichten gegen Verantwortliche vor. Zugleich sagte der britische Premierminister David Cameron eine neue Untersuchung des Falls zu. Im Juni hatten 20 Mitglieder des Abgeordnetenhauses in London an einer Anhörung zu möglichen gesundheitlichen Schäden bei britischen Bürgern teilgenommen. Nun könnten sich die britische Arzneimittelbehörde und der parlamentarische Gesundheitsausschuss erneut mit dem Fall befassen. Wird es also doch noch eng für den Pharmakonzern Bayer?
Zwischen 2010 und 2012 waren Sommer und weitere Betroffene mit zwei Klagen vor deutschen Gerichten gescheitert. Zunächst wollten die Kläger Bayer dazu bringen, die Betriebsunterlagen zu Duogynon offenzulegen. In einem weiteren Prozess ging es um Entschädigungsansprüche. Beide Verfahren wurden mit Verweis auf die 30-jährige Verjährungsfrist eingestellt. Bei einer möglichen Mordanklage gegen Beteiligte würde diese im Arzneimittelgesetz definierte Frist aber nicht gelten.
Duogynon war vom Westberliner Pharmakonzern Schering hergestellt und in den 1960er und 70er Jahren Frauen massenhaft verabreicht worden. Verwendet wurde das Medikament unter anderem als Schwangerschaftstest. Nach Darstellung des Klägers hatte das Präparat eine schwer fruchtschädigende Wirkung. Etwa tausend Kinder in Westdeutschland seien mit Missbildungen zur Welt gekommen, andere überlebten nur wenige Tage oder Wochen. Statistiken gibt es nicht. Auch deshalb klagte Sommer auf Einsicht in die Akten des Bayer-Konzerns, der Schering im Jahr 2006 übernommen hatte.
Diese Akteneinsicht verweigert Bayer bis heute – ebenso wie einen Dialog mit den Betroffenen. Bislang sei kein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Einnahme des Präparats und der Fruchtschädigung festgestellt worden, heißt es auf Nachfrage aus der Pressestelle, die zu dem Fall bislang keine eigene Erklärung veröffentlich hat. Neun auf der Homepage aufgeführte Dokumente stammen aus der Aktionärsversammlung – wo Betroffene das Thema zur Sprache gebracht hatten.
Sommer, Sprecher der deutschen Geschädigten und selbst mit schweren Missbildungen am Unterleib zur Welt gekommen, fordert daher »endlich Klarheit«. Auch in Deutschland sei eine umfassende Untersuchung notwendig. »Hierbei müssen auch alle firmeninternen Studien berücksichtigt werden«, sagt er. »Bayer konnte sich nur durch Verjährung aus der Affäre ziehen. Dies ist moralisch verwerflich und eine Schande für diesen Konzern«, so Sommer weiter. Beim letzten Verfahren habe auch der zuständige Richter am Berliner Landgericht das Unternehmen mit diesen Worten zum Dialog mit den Klägern aufgefordert.
Philipp Mimkes vom konzernkritischen Verein Coordination gegen Bayer-Gefahren ergänzt: »Bei Fragen der öffentlichen Gesundheit müssen Betriebsgeheimnisse zurückstehen.« Notfalls müsse der Konzern gezwungen werden, seine Archive zu öffnen. Der nun anvisierte Strafantrag wäre ein Mittel dazu. Von Harald Neuber