Arznei-Tests in Indien
BAYERs Pharma-Sklaven
Im Jahr 2010 berichtete Stichwort BAYER zum ersten Mal über die Arznei-Tests des Leverkusener Multis in Indien. Der Artikel stieß auf viel Resonanz und machte viele Medien auf das Thema aufmerksam. Zuletzt strahlte der WDR eine 45-minütige Dokumentation über die „Pharma-Sklaven“ aus, die unwissentlich ihr Leben für die Profite von Big Pharma riskieren. Auch die Politik reagierte. Die Partei „Die Linke“ zwang die Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage, zu den skandalösen Zuständen Stellung zu beziehen.
Von Jan Pehrke
„Nein, ich weiß nicht, was das war, keine Ahnung“, antwortet der 87-jährige Inder Bhimaji Jatav auf die Frage, ob ihm klar sei, dass er gerade an einem Medikamenten-Test teilnehme. Das wussten auch die anderen ProbandInnen nicht, welche die beiden JournalistInnen Benjamin Best und Rebecca Gudisch in der WDR-Dokumentation „Die Pharma-Sklaven“ interviewten. „Ich habe schweres Asthma und bin deshalb in Behandlung. Als ich dann im staatlichen Krankenhaus war, hat mich ein Arzt namens Dr. Salil Bhargav angesprochen. Er hat gesagt, ich soll in seine Privatklinik kommen. Da würde ich die beste Behandlung bekommen. Er sagte, dass sie dort Medikamente hätten, die mich heilen könnten. Er forderte mich auf, Papiere zu unterschreiben. Das waren unzählige Unterschriften auf 10 Seiten. Aber er hat nie gesagt, warum ich unterschreiben soll“, erzählt Dhananjay Shrivastav. Eine Familie berichtet von ähnlichen Erfahrungen. „Der Arzt hat uns nie etwas über die Tabletten gesagt. Er hat sie uns einfach gegeben. Er sagte, das sind teure Medikamente aus dem Ausland. Sie bekommen nur das Beste (…). Mein Vater hat erzählt, dass er aufgefordert wurde, Papiere für die Behandlung zu unterschreiben. Wir haben dem Arzt vertraut, dass er meinen Mann heilt“, erzählen etwa die Angehörigen von Mannalal. Der Arzt heilte ihn jedoch nicht. Mannalal verstarb während der Arznei-Erprobung. „Plötzlicher Herztod“ lautete die Diagnose. So wie er ließen in den vergangenen Jahren Tausende InderInnen für Big Pharma ihr Leben. Allein zwischen 2007 und 2011 gab es 2.038 Test-Tote, 158 davon bei Versuchen von BAYER.
Ethik pro forma
Eigentlich haben Ethik-Kommissionen die Aufgabe, den ordnungsgemäßen Ablauf der klinischen Pillen-Prüfungen zu überwachen. Sie sollen beispielsweise kontrollieren, ob die MedizinerInnen die TeilnehmerInnen – oftmals AnalphabetInnen – auch wirklich über die Tests informiert haben und sich behandlungsbedürftige Menschen nicht unwissentlich dem Risiko aussetzen, nur Placebos verabreicht zu bekommen. In dem süd-asiatischen Land existieren diese Organe jedoch nur auf dem Papier, wie Best und Gudisch herausfanden. Manchmal sitzen dem Gremium sogar bloß TierärztInnen vor. „Bei uns ist es auch kein Doktor“, eröffnete den ReporterInnen frank und frei ein Ethik-Kommissar, dem gegenüber die beiden sich als Angestellte einer Forschungsagentur ausgegeben hatten. An eine wirksame Beaufsichtigung der Test-Reihen durch die Komitees ist seiner Auskunft nach nicht zu denken: „Wie soll das denn gehen? Sie sind ja keine Behörde. Es sind bloß sieben, acht Leute. Wegen dieses Gesetzes müssen sie da sein, und sie treffen sich ab und zu, alle zwei Monate.“ Eine besondere Qualifikation brauchen die Mitglieder nicht. Amar Jesani vom „Centre for Studies in Ethics and Rights“ berichtete dem Tagesspiegel sogar von Pharma-Riesen, die ihre eigenen Ethik-Kommissionen gründen. Und besondere Umstände bei der Absegnung der Pillen-Erprobungen macht kaum eine der Prüf-Institutionen. „Sie zahlen, Sie kriegen den Stempel“, erklärt Chandra Gulhati, der einst selbst einer solchen Einrichtung angehörte, in dem WDR-Film das Prinzip.
Um Geld geht es auch den anderen Akteuren. Die Konzerne sparen durch die Verlagerung der Tests in arme Staaten rund ein Drittel ihrer Kosten, und die MedizinerInnen verdienen pro Versuch 3.500 Euro, was einem Jahresgehalt in einem staatlichen Krankenhaus entspricht. Darüber hinaus bekommen sie noch Leckerlis. So spendierte BAYER etwa einem indischen Doktor einen Trip nach Spanien. „Patienten werden ausgebeutet, weil sich Pharma-Firmen und Ärzte den Profit teilen wollen“, kritisiert der Augenarzt Dr. Anand Rai die gängige Praxis.
Der Leverkusener Multi wollte sich zu dieser in „Die Pharma-Sklaven“ nicht äußern. Dem Tagesspiegel gegenüber zeigte sich der Global Player, der gerade 36 Tests in dem Land laufen oder gerade abgeschlossen hat, ein wenig auskunftsfreudiger. „Klinische Prüfungen werden bei BAYER nach global einheitlichen Standards durchgeführt“, bringt eine Öffentlichkeitsarbeiterin den Textbaustein in Anschlag, den die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG) schon aus den AktionärInnen-Versammlungen kennt. Zudem würden sich EmissärInnen des Unternehmens vor Ort angeblich selbst ein Bild vom ordnungsgemäßen Ablauf machen, so die Konzern-Sprecherin. Und einer besonderen Gefahr setzten sich die ProbandInnen in Mumbai und anderswo auch nicht aus: „In Indien ist der Anteil an unerwünschten Ereignissen nicht höher als in anderen Ländern.“
Die Kleine Anfrage
Die Bundesregierung sieht ebenfalls alles im grünen Bereich, wie aus ihrer Antwort auf eine von der Partei „Die Linke“ gestellte Kleine Anfrage hervorgeht, an der die CBG mitgearbeitet hat. Das verwundert allerdings nicht weiter, zeichnet für das Schriftstück als Parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium doch federführend Ulrike Flach verantwortlich, die beste Kontakte zu BAYER unterhält. Im letzten Jahr besuchte die FDP-Politikerin den Leverkusener Chemie-„Park“ und heuer empfing sie in Berlin 20 Lehrlinge des Pharma-Riesen zu einem Gespräch über das Thema „Nachhaltigkeit“.
Der schwarz-gelben Koalition zufolge verlegen die Pillen-Hersteller ihre Medikamenten-Tests nicht etwa aus schnöden Kosten-Gründen in Entwicklungs- oder Schwellenländer, sondern „um eine möglichst effektive weltweite Verwendbarkeit der gewonnenen Daten sicherzustellen“. Um die Standards machen sich CDU und FDP auch keine Sorgen, denn die Studien „müssen den international festgelegten Anforderungen der Guten Klinischen Praxis entsprechen, einschließlich entsprechender Inspektions- und Überwachungsmaßnahmen“. Ob das „Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte“ oder eine andere bundesdeutsche Institution die entsprechenden Überprüfungen unternimmt, dazu mochte sich die Regierungskoalition jedoch konkret nicht äußern. Es ist lediglich „von den zuständigen Behörden der EU-Mitgliedsstaaten“ die Rede. Und besondere Aktivitäten entfalten diese nicht. So gab die „Europäische Arzneimittel-Agentur“ (EMA) gegenüber einem Journalisten der Faz zu, „nur eine kleine Anzahl der Studien“ untersuchen zu können, noch dazu erst ein Jahr nach dem Abschluss und ohne Zugang zu den PatientInnen zu haben. Sie baue aber gerade Kontakte in Indien, Russland und China auf, um die Zahl der Kontrollen zu erhöhen, versuchte die EMA zu beschwichtigen.
Eine solche Kontakt-Anbahnung scheint auch die christlich-liberale Koalition nötig zu haben, liegen ihr doch „keine systematischen Informationen darüber vor, welche bundesdeutschen Unternehmen klinische Prüfungen von Arzneimitteln außerhalb Europas durchführen“. Zur Höhe des Anteils der Todesfälle durch Pharmazeutika-Nebenwirkungen im Vergleich zu den Todesfällen durch Vorerkrankungen vermag die Bundesregierung ebenfalls keine Angaben zu machen, da es keine „übergreifende Statistik“ gibt und keine Pflicht besteht, die Todesfälle durch Vorerkrankungen in den Dokumenten zu verzeichnen. Nach der – äußerst strittigen – Darstellung BAYERs starben 2010 in Indien „bloß“ fünf ProbandInnen zweifelsfrei an unerwünschten Medikamenten-Effekten. Den Hinterbliebenen zahlte der Konzern dafür eine Entschädigung von jeweils 5.250 Dollar. „Life is very cheap in India“, so der Kommentar eines Lesers der Publikation moneylife dazu. Merkel & Co. wollten zu diesen Fällen nicht Stellung beziehen: „Die Bundesregierung sieht davon ab, das Entschädigungssystem in Indien zu bewerten.“
Generell bekennt sie sich aber dazu, „geeignete Maßnahmen zum Schutz der von einer klinischen Prüfung betroffenen Personen“ zu unterstützen. Darüber hinaus versichert Schwarz-Gelb, kein Pharmazeutikum zu genehmigen, dessen klinische Erprobung nicht den in der Helsinki-Deklaration festgelegten ethischen Standards entspricht: „Grundsätzlich sind Daten aus Studien, von denen bekannt ist, dass diese Grundsätze nicht eingehalten wurden, nicht für eine Zulassung verwertbar.“
Demnach wären allerdings die Pillen, die BAYER & Co. in Indien unter den vom WDR dokumentierten Bedingungen getestet haben, nicht verkehrsfähig. Peter Sawicki, der ehemalige Leiter des „Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen“, spricht das in dem Film deutlich aus: „Wenn die Patienten nicht richtig aufgeklärt worden sind, dass sie an einer Studie teilnehmen, handelt es sich um einen klaren Verstoß gegen die Helsinki-Konventionen. Eine Studie, die dagegen verstößt, darf für nichts verwendet werden. Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.“
Zweifelhafte Reaktionen
Ob die Bundesregierung das tun wird, bleibt abzuwarten. Bisher ist sie weniger bestrebt, den Schutz der ProbandInnen in den armen Staaten zu erhöhen als vielmehr die Verfahren hierzulande zu „entbürokratisieren“ und so für eine Angleichung auf niedrigerem Niveau zu sorgen. So haben die Ethik-Kommissionen mit dem im Oktober 2012 in Kraft getretenen „2. Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ nicht mehr die Pflicht, die Qualifikation aller an dem Verfahren beteiligten MedizinerInnen zu kontrollieren. Auch müssen die Pharma-Riesen die VersuchsteilnehmerInnen bei „risiko-armen“ Tests nicht mehr versichern.
Die EU will bei der Nivellierung noch weiter gehen und macht dabei keinen Hehl aus ihren Motiven. „Die Richtlinie über klinische Prüfungen wird von allen Interessenträgern (von Patienten über Forscher bis hin zur Wirtschaft) dafür kritisiert, dass sie die patienten-orientierte Forschung und diesbezügliche Studien in der EU wesentlich weniger attraktiv gemacht hat (…). Dadurch verliert Europa an Wettbewerbsfähigkeit im Bereich der klinischen Forschung“, heißt es in dem Entwurf zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG. Folgerichtig plant sie, minderjährige und nicht einwilligungsfähige Versuchsteilnehmer größeren Risiken auszusetzen, Ethik-Kommissionen nur noch gemeinsam mit den Arzneimittel-Behörden der Mitgliedsländer entscheiden zu lassen und ihnen weniger Zeit zur Begutachtung zuzugestehen. Auf diese Weise beabsichtigt Brüssel, die Zulassungsverfahren zu beschleunigen und BAYER & Co. dazu zu bewegen, wieder mehr Versuche in Europa zu starten. Der „Arbeitskreis Medizinischer Ethik-Kommissionen“ bezweifelt die Sinnhaftigkeit dieses Unterfangens und hält fest, dass die Zunahme an klinischen Prüfungen in Ländern wie Indien, China und Brasilien nicht den vermeintlich kürzeren Genehmigungsverfahren zu verdanken ist, sondern „den sehr großen Zahlen behandlungsnaiver Patienten, die in der Teilnahme an einer klinischen Prüfung oft die einzige Chance sehen, zu einer medizinischen Behandlung zu kommen“. In diesem Zusammenhang moniert der Verein auch das Weglassen eines Passus zur Einhaltung des ProbandInnen-Schutzes bei Tests in Drittländern, der ursprünglich Eingang in das Schriftstück finden sollte. „Der Vorschlag der Europäischen Kommission ist in bedrohlicher und dabei in von Fakten nicht gedeckter Weise von vermutlich wirtschaftlichen Interessen getrieben (…)“, konstatiert der Arbeitskreis.
Sogar nach Ansicht der Bundesregierung überzieht Brüssel mit diesen Vorschlägen. GesundheitspolitikerInnen und der Bundesrat machten gravierende Einwände geltend. Deshalb wird Indien vermutlich doch nicht zur Blaupause der Direktive, die 2016 Gesetzeskraft erlangen soll. Dhananjay Shrivastav und seine vom WDR-Team interviewten Leidensgenossen tröstet das vermutlich kaum. Seinem am Ende des Films geäußerten Wunsch, dass BAYER & Co. aufhören, ihn und seine Landsleute wie Pharma-Sklaven zu behandeln, dürften ihn nämlich weder Brüssel noch Berlin mit konkreten Maßnahmen zur Eindämmung des Test-Tourismus näher bringen.