Die tageszeitung, 4. Juli 2012
Klage gegen Bayer Schering Pharma AG
Lebenslängliche Beweise
Duogynon galt als harmloser Schwangerschaftstest – bis missgebildete Kinder geboren wurden. Ein Betroffener klagt gegen Bayer Schering. Er hat überzeugende Beweise.von Heike Haarhoff
Wenn André Sommer heute heimkehrt nach Pfronten, wird es Pfannkuchen geben. Hannes, sein zweijähriger Sohn, liebt Pfannkuchen. Und deswegen hat der Opa gesagt, dass sie heute, an seinem 61. Geburtstag, Pfannkuchen essen. Ein strahlend klarer Tag im Allgäu, auf den Bergen schmilzt der letzte Schnee, und wenn es windstill bleibt, dann können sie vielleicht sogar alle zusammen draußen sitzen, und die Oma, Lydia Sommer, 58 Jahre alt, wird auch dabei sein.
André Sommer, der 36 Jahre alt ist, und sein Vater Herbert werden sie heraustragen aus ihrem Bett im Wohnzimmer. In dem liegt sie seit elf Jahren, abwesend, regungslos, künstlich ernährt. Aber selbstständig atmend. Ob und wie viel Bewusstsein sie hat, vermag niemand zu sagen. Vor elf Jahren, an ihrem 47. Geburtstag, hatte Lydia Sommer einen Herzinfarkt. Seither schwebt sie in einem Zustand, der ihre Familie mal hoffen, mal verzweifeln lässt, und den Ärzte als Wachkoma bezeichnen.
„Ich würde etwas darum geben, noch einmal mit ihr reden zu können“, sagt André Sommer. Ihr sagen zu können, dass er jetzt ganz nah dran ist. Dass er anhand neu aufgetauchter Dokumente vielleicht doch wird nachweisen können, was er ihr versprochen hat: Dass sie wirklich keine Schuld trifft an den Missbildungen, mit denen er 1976 geboren wurde: der Penis verkümmert, die Blase außen am Bauch angewachsen.
Die Schuldfrage müsse bei anderen überprüft werden, sagt André Sommer: Bei der Berliner Pharmafirma Schering, die bis weit in die siebziger Jahre hinein in Deutschland ein Medikament verkauft hatte, das auch André Sommers Mutter 1975, gerade schwanger geworden, geschluckt hatte: Duogynon, eine Gestagen-Östrogen-Kombination, eingesetzt als Mittel bei ausgebliebener Monatsblutung. Aber eben auch als vermeintlich harmloser Schwangerschaftstest. Und das, obwohl Schering möglicherweise bereits seit Ende der sechziger Jahre Kenntnis darüber hatte, dass Duogynon fruchtschädigend wirken konnte.
Das legen jetzt öffentlich gewordene Dokumente aus den sechziger Jahren aus Großbritannien nahe, wo Duogynon unter dem Namen Primodos verkauft wurde. Jahrzehntelang lebten hunderte Familien und ihre Kinder, die an Gaumenspalten, Herzfehlern und deformierten Extremitäten litten, mit einem Verdacht, für den sie jedoch keine Beweise hatten. Jetzt aber haben Behörden Akten freigegeben, sind Sperrfristen abgelaufen, haben Zeugen sich erinnert und ihre Archive durchwühlt. Zumindest in Großbritannien.
Mehr als nur ein Zufall
Und André Sommer hält einige dieser Dokumente in den Händen, in beglaubigter Übersetzung und wie einen Schatz: Vertrauliche Schriftwechsel zwischen Mitarbeitern von Schering Chemicals Limited, dem britischen Schering-Ableger, und der dortigen damaligen Arzneimittelbehörde Committee on Safety of Drugs, Warnhinweise von Ärzten, Berichte über Tierversuche, Studien. Alle mit dem einen Tenor: Die vielen Babys mit Fehlbildungen nach der Einnahme von Primodos während der Frühschwangerschaft – sie waren mehr als ein Zufall.
Wenn aber Schering England informiert war, warum dann nicht auch Schering Deutschland? Warum blieb Duogynon hier auf dem Markt? Warum enthielt nicht einmal die Packungsbeilage Warnhinweise?
Deswegen zieht André Sommer, der als Grundschullehrer im bayerischen Pfronten arbeitet, an diesem Donnerstag erneut vor das Landgericht Berlin – als Kläger gegen die Bayer Schering Pharma AG. Sie ist die Nachfolgerin von Schering. Sie will er haftbar machen für den ihm entstandenen Schaden: Für dreizehn Operationen wegen des Urin-Stomas, des künstlichen Harnausgangs am Bauch, von dem keiner weiß, wie lange er hält. Für mehrere Eingriffe zur Rekonstruktion seiner Genitalien. Für gelockerte Zähne aufgrund starker Antibiotikagaben. André Sommer sagt: „Für mich ist das lebenslänglich und nichts, das verjährt.“
Wer sich an die Bayer Schering Pharma AG wendet und wissen möchte, was dem Mutterkonzern in Deutschland wann über Duogynon bekannt war, ob die Schriftstücke aus England der deutschen Firmenleitung damals vorlagen und ob es möglich wäre, diese Fragen anhand des Firmenarchivs zu recherchieren, erhält per E-Mail eine Standardantwort: „Nachdem Ende der 60er Jahre Bedenken gegen die Sicherheit von Duogynon geäußert wurden, wurde Duogynon erneut zahlreichen Prüfungen im In- und Ausland unterzogen.
Es folgte ein ausführlicher wissenschaftlicher Diskurs mit unabhängigen Experten und Fachorganisationen mit dem Ergebnis, dass es keinen Nachweis für einen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Duogynon und dem Auftreten der seinerzeit aufgetretenen Missbildungen gibt. Es sind keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse bekannt, die die Gültigkeit der damaligen Bewertung in Frage stellen würden.“
Angst vor einer Klagewelle
Keine Angaben dazu, wer diese unabhängigen Experten und Fachorganisationen sein sollen. Keine Herausgabe der vermeintlichen Nachweise. Keine Veröffentlichung der angeblich vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Bayer Schering macht dicht. Zu groß sei die Angst vor einer Klagewelle, mutmaßt André Sommers Berliner Rechtsanwalt Jörg Heynemann: Schätzungen von Betroffeneninitiativen zufolge geht die Zahl der Duogynon-Geschädigten weltweit in die Tausende.
Im ersten Prozess vor eineinhalb Jahren war der Konzern durchaus erfolgreich mit seiner Taktik, zu mauern, zu schweigen, abzulehnen. Damals entschied das Landgericht Berlin, etwaige Auskunftsansprüche von André Sommer seien verjährt. Die inhaltliche Frage, ob Duogynon fruchtschädigend wirken konnte oder nicht und seit wann Schering hierüber informiert war, blieb dabei auf der Strecke.
Und jetzt die neuen Dokumente. Es ist die Kinderärztin Isabel Gal vom Queen Marys Hospital for Children in Carshalton, Surrey, der das Leid ihrer kleinen Patienten keine Ruhe lässt. 1967 veröffentlicht Gal in der Fachzeitschrift Nature eine Studie: Mütter missgebildeter Kinder haben zu einem überdurchschnittlich hohen Prozentsatz hormonelle Schwangerschaftstests vorgenommen. Die Arzneimittelbehörde reagiert.
In einem als „vertraulich“ klassifizierten Schreiben vom 11. Dezember 1967 an die „sehr geehrte Frau Dr. Gal“ schreibt der Senior Medical Officer, W. H. W. Inman, „dass die Hersteller nun aktive Maßnahmen ergreifen, um dem Verdacht auf eine teratologische Missbildungen verursachende, d. Red. Wirkung nachzugehen“. Am College of General Practitioners in Schottland würden mehr als 10.000 Schwangerschaften verfolgt. „Ich persönlich vertrete dieselbe Einstellung zum Nutzen von Schwangerschaftstests wie Sie“, schreibt Inman an Gal und fährt fort: „Ich halte sie offen gestanden nicht für zweckmäßig genug im Vergleich mit anderen (biologischen) Methoden, um auch nur den geringsten Hinweis auf eine Teratogenizität zu rechtfertigen.“
Erneute Warnung
Mit dieser Einschätzung ist der Mann von der Londoner Aufsichtsbehörde nicht allein. Am 17. Februar 1969 bekommt Inman Post. Der Absender ist N. M. B. Dean, Pharmaceutical Division, Schering Chemicals Limited. Der Schering-Mitarbeiter Dean warnt vor dem Schering-Medikament: „Im Rahmen der Outcome of Pregnancy Study des Royal College of General Practitioners haben wir speziell das Ergebnis der Schwangerschaft immer dann untersucht, wenn bestimmte spezifische Medikamente verabreicht worden waren.
Auf den ersten Blick scheint es jedoch, dass die 10% Aborte nach Primodos wahrscheinlich nicht dem Zufall geschuldet sind. Hinsichtlich der 4 verzeichneten Anomalien handelt es sich bei zweien um Gaumenspalten.
Angesichts dieser, wenn auch vorläufigen Ergebnisse, sollte man nach meiner persönlichen Meinung Primodos zurückziehen bzw. nicht weiter verwenden.“
Der Druck auf Schering wächst. Die Firma pariert auf ihre Art – mit der bewusst versuchten Diskreditierung kritischer Wissenschaftler und deren Publikationen im Medical Letter. Im August 1969 zirkuliert bei Schering ein internes Papier, eine Art Argumentationshilfe für einen Konzern in Bedrängnis: „Die vorliegende Analyse verfolgt den Zweck, andere als im Medical Letter zitierte Nachweise vorzulegen, was nahe legt, dass die im Medical Letter gezogenen Schlussfolgerungen anfechtbar und möglicherweise vollkommen irrig sind.“
1970 ist Schluss. Die britischen Behörden ziehen die Reißleine. Primodos darf nicht mehr als Schwangerschaftstest angewendet werden. In Deutschland dagegen passiert bis zur Marktrücknahme 1981 nichts.
Treuwidrigkeit wegen gezielter Täuschung der Öffentlichkeit seit den siebziger Jahren, so heißt der Vorwurf im Juristendeutsch. Bejaht ihn das Landgericht und gibt damit André Sommers zivilrechtliche Haftungsklage statt, dann hat Sommer einen Wunsch: Dies seiner Mutter zu sagen. Und Gehör bei ihr zu finden.