Ärzteblatt, 26. April 2011
Kontrazeptiva: Drospirenon mit höherem Thromboembolierisiko
die beiden Studien im Volltext
Boston – Zwei eingebettete Fall-Kontrollstudien im Britischen Ärzteblatt (BMJ) erneuern den Verdacht, dass orale Kontrazeptiva mit dem synthetischen Gestagen Drospirenon mit einem höheren thromboembolischen Risiko behaftet sind als Präparate mit dem älteren Gestagen Levonorgestrel.
Die Gefahr von tiefen Venenthrombosen und Lungenembolien hat in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, dass die Dosis der Östrogene und Gestagene in den oralen Kontrazeptiva deutlich gesenkt wurde.
In den 90er Jahren erkannte man, dass nicht nur die Konzentration der Hormone, sondern auch die Wahl des Gestagens von Bedeutung ist. Die Bedenken betrafen anfangs die Kontrazeptiva der 3. Generation mit Desogestrel oder Gestoden, deren Anwenderinnen nach heutigem Konsens ein im Vergleich zu anderen Kontrazeptiva erhöhtes thromboembolischen Risiko haben.
Die Epidemiologin Susan Jick von der Boston University School of Medicine hatte in einer Analyse der UK General Practice Research Database das relatives venöse Thromboembolie-Risiko gegenüber Levonorgestrel mit 1,9 (in einer Kohorten-Analyse) und 2,3 in einer Fall-Kontroll-Studie beziffert (BMJ 2000; 321: 1190-5).
Jetzt legt die Autorin zwei Analysen zu den um 2000 eingeführten drospirenonhaltigen sogenannten Mikropillen Petibelle® und Yasmin® vor, die das synthetische Gestagen Drospirenon enthalten. Inzwischen gibt es weitere Präparate wie YAZ® und aida®.
Auch die Kombination mit Drospirenon geriet bald in die Diskussion. Nach den ersten Studien schien das Risiko um etwa 60 bis 70 Prozent höher zu sein als unter der Pille mit Levonorgestrel. Zwei vom Hersteller gesponserte Studien (EURAS und Ingenix) konnten dagegen kein gegenüber anderen Präparaten erhöhtes Risiko feststellen.
Alle vier Studien sind nach Ansicht von Jick jedoch mit einem Makel behaftet: Patientinnen mit thromboembolischen Ereignissen aus anderen erklärbaren (“non-idiopathischen) Gründen wie schweren Verletzungen der unteren Extremität, schweres Trauma, größeren Operationen oder Schwangerschaft seien nicht sorgfältig genug ausgeschlossen worden, schreibt die Epidemiologin. Sie legt jetzt zwei Datenbankanalysen vor, in denen sie diesen Faktor berücksichtigt hat.
Die erste Analyse beruht auf den elektronischen Krankenakten britischer Hausärzte (General Practice Research Database, GPRD): 61 Fälle einer idiopathischen venösen Thromboembolie wurden 215 Kontrollen aus der gleichen Datenbank (deshalb “eingebettete Fallkontroll-Studie) gegenübergestellt.
Jick ermittelte eine Odds Ratio von 3,3 ( 95-Prozent-Konfidenzintervall 1,4-7,6), also ein mehr als dreifach erhöhtes Risiko, das etlichen Subgruppen-Analysen standhielt, in denen nach anderen Gründen für die Assoziation gesucht wurde. Nach den Berechnungen der Epidemiologin kommen auf 100.000 Frauen, die ein drospirenonhaltiges orales Kontrazeptivum anwenden pro Jahr 23 nicht tödliche venöse Thromboembolien. Unter den Anwenderinnen der Levonorgestrel-Pille wären es 9,1 Ereignisse auf 100.000 Patientenjahre (BMJ 2011; 342: d2139).
Die zweite Analyse basiert auf Abrechnungsdaten von US-Patienten, die die Firma PharMetrics zusammengetragen hat. In dieser Studie wurden 186 neue idiopathische Fälle 681 Kontrollen gegenüber gestellt. Die Odds Ratio fiel mit 2,3 (1,6-3,2) etwas niedriger aus als in der ersten Studie. Die Inzidenzrate einer nicht tödlichen venösen Thromboembolie steigt gegenüber Anwenderinnen von Levonogestrel-haltigen Kontrazeptiva von 12,5 auf 30,8 pro 100.000 Anwenderinnenjahre an (BMJ 2011; 342: d2151).
Jick schließt aus diesen Ergebnissen, dass eine Levonorgestrel-Pille die bessere erste Wahl sei. Der Hersteller mag sich dieser Einstellung natürlich nicht anschließen. Bayer HealthCare verweist in seiner Pressemitteilung noch einmal auf die Daten der EURAS- und Ingenix-Studie, deren Protokolle mit den Arzneibehörden in den USA und Europa abgestimmt seien und die von Experten als die umfassendsten und besten Studien ihrer Art betrachtet würden.
Nach Ansicht von Bayer HealthCare besteht bei allen Antibabypillen ein gewisses Risiko von thromboembolischen Ereignissen, das durch die Beachtung der Kontraindikationen wie Rauchen oder ein Alter über 35 Jahre minimiert werden könne. Bei drospirenonhaltigen Kontrazeptiva kommen noch Erkrankungen von Leber, Niere und Nebenniere hinzu, die sich teilweise aus der strukturellen Verwandtschaft des Drospirenon-Moleküls mit Aldosteron-Antagonisten ergeben.
Laut Meldungen aus der Wirtschaftspresse liegen in den USA 6.850 Schadenersatzklagen gegen Bayer HealthCare oder den Generikahersteller Teva vor. In Kanada sollen 13 Sammelklagen eingereicht worden sein. Bayer HealthCare erwartet laut dem letzten Wirtschaftsjahresbericht weitere Klagen.
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Die Welt, 28. April 2011
Pille mit Nebenwirkungen
Auf Hersteller warten US-Sammelklagen
Kurz vor Bayers Hauptversammlung liefern Studien neue Beweise zur Thrombose-Gefahr
Was als Fortbildung angekündigt war, ähnelt eher einer Bunga-Bunga-Party: Gestandene Gynäkologen singen laut „Nuva-Ring, Ring, Ring“, dazu schwenken leicht bekleidete Tänzerinnen große Plastikringe. Das Video hat in Estland einen Skandal ausgelöst, sollten die Gynäkologen im estnischen Tallinn doch nicht feiern – sondern über die Risiken des hormonbasierten Verhütungsmittels Nuvaring des US-Herstellers Merck & Co. aufgeklärt werden. Auch in Kanada sind Gynäkologen der nationalen gynäkologischen Gesellschaft den Versuchungen der Pharmabranche erlegen: Beim Verfassen von Aufklärungsmaterial über die Verhütungspillen der neuesten Generation schrieben sie teils wortgenau Werbematerial des Herstellers Bayer ab, priesen die Pille als Mittel gegen Migräne und Akne.
Beide Fälle werfen ein Schlaglicht auf die Kontrazeptiva-Marketingkampagnen der Pharma-Riesen. Die Hersteller lassen fast nichts unversucht, um die Verhütungsmittel als Lifestyle-Medikamente anzupreisen, und dabei Bedenken von Patientinnen wie Gynäkologen über mögliche Nebenwirkungen der Pillen der neuesten Generation zu zerstreuen.
6800 Klagen von betroffenen Patientinnen liegen aktuell in Sammelklagen gebündelt vor Gerichten in den USA, 190 Todesfälle assoziiert die US-Aufsichtsbehörde FDA bislang mit den Pillen von Bayer und zwei weiteren Herstellern. Doch bislang verneinen Bayer wie Merck den Verdacht, dass Yasmin und Nuvaring risikoreicher sind als andere, ältere Verhütungsmittel. Nun droht Bayer kurz vor der Hauptversammlung am Freitag in Köln ein Rückschlag, denn Mediziner aus den USA und Neuseeland haben zwei Studien veröffentlicht, in denen erstmals gesammelte Daten der britischen Gesundheitsbehörden untersucht wurden. Das Ergebnis der Forscher: Verhütungspillen der neuesten Generation, die das künstliche Gestagen-Hormon Drospirenon enthalten, bringen ein um bis zu dreimal höheres Risiko von Thrombosen mit sich als vergleichbare, ältere Pillen. Besonders fatal für Bayers Verteidigung vor Gericht: Die Forscher der angesehenen Boston University haben in ihrer Studie ausdrücklich Frauen mit Vorerkrankungen oder Risikofaktoren wie Übergewicht ausgeschlossen, um eine Verfälschung der Daten zu vermeiden. Benedikt Fuest