Dekkers neuer BAYER-Chef
„Darfs ein bisschen weniger sein?“
Am 1. Oktober löst der Niederländer Marijn Dekkers Werner Wenning als Vorstandsvorsitzenden von BAYER ab. Der Kapitalmarkt erwartet von ihm einschneidende Veränderungen wie den Verkauf der Kunststoff-Sparte.
Diesmal lief es anders: Der Leverkusener Multi rekrutierte seinen neuen Vorstandsvorsitzenden nicht wie in der Vergangenheit üblich aus den eigenen Reihen, sondern verpflichtete einen Externen. Die Headhunter von EGON ZENDERS INTERNATIONAL hatten den Holländer Marijn Dekkers für BAYER in den USA aufgespürt, wo er in Diensten des Laborgeräte-Herstellers THERMO FISHER SCIENTIFIC stand. Er entsprach am besten den Vorstellungen, die der Konzern sich vom Wenning-Nachfolger gemacht hatte. Dieser sollte beste Beziehungen zu den Kapitalmärkten haben und Internationalität aufweisen, aber auch der Landessprache mächtig sein, denn: „Der Chef eines deutschen Großunternehmens muss sich ohne Dolmetscher mit der Kanzlerin und den Arbeitnehmer-Vertretern unterhalten können“. Nicht zuletzt gehörte noch ein „Track Record im Portfolio-Management“ zum Anforderungsprofil, also Erfahrung im Kaufen von Firmen und Verkaufen von Betriebsteilen. Und über diese verfügt Marijn Dekkers nicht zu knapp. Bei seinem früheren Arbeitgeber veräußerte er 45 Firmensparten, machte die Hälfte der 130 Fabriken dicht und vernichtete 5.000 von 13.000 Arbeitsplätzen, ehe er FISHER SCIENTIFIC erwarb und damit die Beschäftigtenzahl auf 35.000 erhöhte.
Der Kapitalmarkt setzt bei seinem neuen Job eher auf seine Verkaufstalente. „Von Wennings designiertem Nachfolger Marijn Dekkers erhoffen sich viele Analysten, dass sich der erste nicht im Konzern aufgewachsene Vorstandschef möglichst schnell vom ungeliebten Kunststoffgeschäft trennt“, schreibt Der Platow-Brief. Auch das Handelsblatt legt dem Holländer diesen Schritt nahe und zählt in seinem vierseitigen BAYER-Dossier noch mehr Baustellen auf. „Die Teilbereiche von BAYER verdienen zu wenig. Der neue Chef Dekkers muss durchgreifen“, fordert die Zeitung angesichts eines angeblichen Gewinn-Rückstands von drei bis zehn Prozent gegenüber der Konkurrenz. Im Pharma-Bereich sieht das Blatt ebenfalls Schwächen, wenn die neuen Mittel nicht den erwarteten Erfolg bringen. Dann „dürfte der Druck in Richtung Kostensenkung wachsen“, prophezeit das Presseorgan. Darüber hinaus moniert das Handelsblatt die zu geringe Eigenkapital-Rendite und die zu komplizierte Holding-Struktur. Die Welt hingegen kritisiert die immer noch nicht abgeschlossene Integration des 2006 gekauften Pharma-Riesen SCHERING in den Konzern und macht „Doppelstrukturen und überflüssige Hierarchie-Ebenen“ aus. Zudem sieht die Springer-Postille Mängel bei der Entwicklung und Markt-Einführung von Medikamenten. Auch die Financial Times Deutschland spürt Schwächen in der Organisation der Pillen-Abteilung auf und mahnt eine „Reform“ an.
Eine Menge Arbeitsplatzvernichtungsarbeit für den Neuen türmt die Kapital-Journaille da also auf. Aber noch krempelt Marijn Dekkers die Ärmel nicht hoch. Der Niederländer hält sich bis auf Weiteres bedeckt und bemüht sich um moderate Töne. Er vertrete nicht die US-amerikanische Managerkultur und hätte auch nicht vor, „alles um 180 Grad zu drehen“, bekundete Marijn Dekkers Ende Januar auf einem für die Presse arrangierten Abendessen. Beim Thema „Kunststoff-Sparte“ wand der Manager sich. „Für Aussagen ist es viel zu früh“, so der Wenning-Nachfolger. Dem Manager-Magazin versicherte Dekkers, er halte das Unternehmen für gut aufgestellt – um dann sogleich einzuschränken: „aus heutiger Sicht“ und sich für den Fall der Fälle gewappnet zu zeigen. „Ich habe auch keine Angst zu sanieren, falls es notwendig und richtig ist für das Unternehmen“, konstatierte der Neu-BAYER. Fünf Monate später hatte sich an dieser Doppelzüngigkeit nichts geändert. Portfolio-Änderungen ständen nicht oben auf seiner Liste, vertraute Dekkers den Investmentbankern von JP MORGAN an. Gleichzeitig frohlockte er jedoch, dass der Leverkusener Multi ab 2011 für eventuelle Verkäufe keine Steuern mehr zu bezahlen bräuchte. Und Geld hatte der Niederländer für „Plaste & Elaste“ ebenfalls nicht mehr übrig: Investitionen kündigte der Konzern-Chef in spe nur für den Pharma- und Landwirtschaftsbereich an.
Marijn Dekkers wäre allerdings auch der erste BAYER-Manager, der Klartext spräche und die Presse vorab über Verkaufsabsichten informierte. Tatsächlich deutet aber vieles auf eine Trennung hin. Laut Manager Magazin hatte der Pharma-Riese bereits 2007 die Lage sondiert und nach möglichen Interessenten Ausschau gehalten, doch dann kam die Wirtschaftskrise dazwischen. Und selbst mitten in der Rezession, als die Umsätze von BAYER MATERIAL SCIENCE (BMS) einbrachen und kaum jemanden in der Branche der Sinn nach Akquisitionen stand, verstummten die Gerüchte nicht. So drangen etwa Meldungen über Verhandlungen mit der INTERNATIONAL PETROLIUM INVESTMENT COMPANY (IPIC) in Sachen „BMS“ nach außen, die der Leverkusener Multi jedoch rasch dementierte.
Teile der Kunststoff-Sparte hatte der Konzern zusammen mit dem Chemie-Bereich schon 2004 abgestoßen, weil sie nicht mehr den Rendite-Erwartungen entsprach. Unter anderem hatten der Preisdruck durch weltweite Überproduktion und gestiegene Rohstoff-Kosten für schwindende Extra-Profite gesorgt. Mit der Abkehr vom Massenmarkt und der Konzentration auf höherwertige Materialien wollte das Unternehmen solchen Belastungsfaktoren ausweichen, aber inzwischen schlagen diese auch auf das Geschäft mit High-End-Produkten durch. Der Aufbau von Kapazitäten rund um den Globus hat sich nämlich seit 2004 noch einmal beschleunigt, und vor allem Konzerne, die direkt an den Öl-Quellen sitzen wie die IPIC in Abu Dhabi, haben Standort-Vorteile. Zudem leidet das Unternehmen an mangelnder Polycarbonat-Nachfrage, seitdem die CD-Produktion eingebrochen ist.
Darüber hinaus haben sich im Konzern die Relationen zwischen den Bereichen Pharma, Landwirtschaft und Kunststoffe verschoben. Durch den Erwerb von SCHERING stieg die Pillenabteilung zur mit Abstand ertragreichsten unter den Dreien auf und sorgte im Geschäftsjahr 2009 für mehr als zwei Drittel des Gewinns. Um in die Top Ten der Arznei-Riesen vorzustoßen, müsste der Global Player jedoch weiter investieren. Doch das Geld dafür hat er nicht, drückt ihn doch seit der SCHERING-Übernahme eine milliardenschwere Schuldenlast. „Einige Milliarden, etwa für die Akquisition einer Tierarznei-Firma, kann BAYER ohne weiteres stemmen. Einen wirklich großen Expansionsschritt im Pharma- oder Gesundheitssektor dagegen gibt die Bilanz nicht her. In diesem Fall bliebe kaum etwas anderes übrig, als eine neue Umbauphase einzuleiten – und das heißt vor allem die Trennung von der Kunststoff-Sparte BAYER MATERIAL SCIENCE und möglicherweise auch von der Agrochemie“, analysiert die Financial Times Deutschland. Und nicht zuletzt die Verpflichtung des ehemaligen NOVARTIS-Mannes Jörg Reinhardt als Chef von BAYER HEALTH CARE deutet auf größere Pläne mit dem Unternehmensteil „Gesundheit“ hin.
Auf die Beschäftigten dürften also schwere Zeiten zukommen, selbst wenn der Leverkusener Multi sich für ein Festhalten am 3-Säulen-Modell entscheiden sollte – oder schlicht keinen Kunststoff-Käufer fände. Zu viele „to dos“ hat das Kapital dem neuen Konzernchef ins Stammbuch geschrieben, als dass die Ära Dekkers ohne Belastungen des Faktors „Arbeit“ auskommen könnte. Von Jan Pehrke