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Duogynon

CBG Redaktion

Presse Information vom 10. Januar 2011
Coordination gegen BAYER-Gefahren

Verfahren gegen Bayer Schering: Nina Hagen unterstützt Opfer

Duogynon-Prozess: „Verjährung wäre Beleidigung der Opfer“

Urteilsverkündung: Dienstag, 11. Januar, 12 Uhr, Landgericht Berlin, Tegeler Weg 17-21, Saal 115

Im Prozess der Duogynon-Opfer gegen Bayer Schering verkündet das Berliner Landgericht am morgigen Dienstag das Urteil. Die Betroffenen, die unter schweren Geburtsfehlern leiden, fordern die Herausgabe von firmeninternen Unterlagen zu dem Präparat. In einem zweiten Schritt soll eine Schadenersatzklage geführt werden.

Unterstützung erhalten die Geschädigten unter anderem von Nina Hagen: „Ich bin entsetzt über die Ignoranz und Dreistigkeit der verantwortlichen Konzerne gegenüber den leidgeprüften Duogynon-Opfern und ihren Eltern! Ich hoffe sehr, dass die deutsche Gerichtsbarkeit gerecht urteilen wird, und dass die Opfer endlich eine Entschuldigung und gerechte Entschädigung bekommen!“ Die Sängerin hat ihre Teilnahme an der Verhandlung angekündigt.

Auch Jörg Heynemann, Anwalt der Kläger, ist empört: „Bayer Schering arbeitet nachweisbar mit Lügen und Halbwahrheiten. Der Konzern geht auf ‚Tauchstation’ und versucht die Angelegenheit auszusitzen. Dies darf nicht gelingen!“ Tausende von Kindern hatten in den 60er und 70er Jahren schwere Fehlbildungen durch hormonelle Schwangerschaftstests wie Duogynon und Primodos erlitten, unter anderem Herzfehler, fehlende Gliedmaßen, Gaumenspalten und Nierenschäden. Auch nach der Übernahme von Schering durch Bayer im Jahr 2006 verweigert der Konzern mit dem Hinweis auf angebliche Verjährung die Öffnung seiner Unternehmensarchive.

Zu den Geschädigten gehört der 34-jährige Kläger Andre Sommer: „Es kann nicht sein, dass uns der Bayer-Konzern die Wahrheit vorenthält und keine Antwort darauf gibt, ob Duogynon an den schrecklichen Missbildungen, an Fehlgeburten und dem Tod von Kindern Schuld hatte. Die Auswirkungen auf die Familien waren unbeschreiblich, und die Menschen leiden noch heute.“ Bayer solle einlenken und die Archive endlich öffnen. „In der Verfahrenseinstellung im Jahr 1982 hieß es, dass das ungeborene Leben rechtlich nicht geschützt sei und es deswegen keine juristische Handhabe gebe. Das widerspricht jeglichem Rechtsempfinden des Jahres 2011. Alle mutmaßlichen Opfer müssen entschädigt werden!“

Philipp Mimkes von der Coordination gegen BAYER-Gefahren ergänzt: „Die Betroffenen leiden täglich unter den Mißbildungen und müssen ständig ärztlich behandelt werden. Es ist sittenwidrig und daher unzulässig, dass sich Bayer mit dem Argument der Verjährung aus der Verantwortung stehlen will. Wir fordern gesetzliche Regelungen, die eine Verjährung bei dauerhaften Schädigungen durch Medikamente ausschließen.“ Die Betroffenen kündigten an, in Berufung zu gehen, falls das Gericht auf Verjährung entscheidet.

Alle Informationen zur Kampagne

Spiegel Online, 11. Januar 2011

Behinderter verliert Prozess gegen Bayer Schering

Schwere Enttäuschung für viele Behinderte: Ein Mann, der den Pharmakonzern Bayer Schering verklagt hatte, hat vor Gericht verloren. Seine Mutter hatte ein Mittel zum Schwangerschaftstest eingenommen, das massive Nebenwirkungen gehabt haben soll. Doch der Fall sei verjährt, sagt der Richter.

Der körperbehinderte Lehrer André Sommer hat sich mit dem Pharmagiganten Bayer Schering vor Gericht angelegt. Seine Mutter hatte ein Mittel zum Schwangerschaftstest eingenommen, das angeblich massive Nebenwirkungen hatte. Doch jetzt hat der Allgäuer in erster Instanz verloren.

Die Klage Sommers gegen den Pharmakonzern Bayer Schering ist in erster Instanz gescheitert. Es bestehe kein Anspruch auf Auskunft über die Wirkung des Hormonmittels Duogynon, stellte Richter Udo Spuhl am Berliner Landgericht am Dienstag fest. Er erklärte alle Schadenersatzansprüche für verjährt. André Sommers Mutter hatte das Hormonmittel 1975 als Schwangerschaftstest bekommen – die heute üblichen Urintests gab es damals noch nicht.

Sommers Anwalt Jörg Heynemann hingegen vertritt die Auffassung, dass keine Verjährung vorliegt. Denn der jüngste Schaden sei 2005 entstanden. Da habe sich Sommer wegen seiner Missbildungen einer großen Operation unterziehen müssen, argumentiert der Anwalt. Nun will Sommer in die nächste Instanz gehen (Aktenzeichen: 7 O 271/10).

Sommer konnte nicht selbst zum Verkündungstermin nach Berlin kommen. Jedoch saß ein kleinwüchsiger Mann, der sich ebenfalls als Opfer des Medikaments sieht, auf der Zuschauerbank im Gericht

„Warum legt Bayer die Akten nicht offen?“
Maßgeblich für die Entscheidung war, dass nach Auffassung der 7. Zivilkammer sämtliche Schadensersatzansprüche im Jahr 2005 – also 30 Jahre nach Verabreichung des Medikaments – erlöschen. Richter Spuhl betonte, dass nicht zu entscheiden war, ob Duogynon Schäden bei Sommer verursacht hatte. Das Aufklärungsinteresse sei menschlich verständlich, aber nach dem Gesetz nicht durchsetzbar.

Zu Beginn des Zivilstreits Ende November hatte Sommer dem Pharmakonzern vorgeworfen, nicht zum Dialog bereit zu sein. „Meine Missbildungen werden nie verjähren, ich werde wieder operiert“, beklagte Sommer. „Warum legt Bayer die Akten nicht offen, wenn es keinen Zusammenhang mit Duogynon gibt?“.
Nachdem der SPIEGEL (23/2010) erstmals über den Fall Sommer berichtet hatte, meldeten sich mehrere Dutzend Betroffene zu Wort. Seit Juni habe er eine Flut von E-Mails bekommen von Betroffenen, die ebenfalls wissen wollten, ob ihre Behinderungen auf dieses Präparat zurückzuführen sind. Die Betroffenen sehen Parallelen zum Contergan-Skandal.

Abgeordnete der Grünen-Bundestagsfraktion verlangten daraufhin Aufklärung von der Regierung. Das Bundesgesundheitsministerium wollte sich zwar aus der rechtlichen Auseinandersetzung zwischen dem Duogynon-Hersteller und den Betroffenen heraushalten. Man begrüßte aber, dass Patienten nun leichter Ansprüche gelten machen könnten. „Das war vom Gesetzgeber so beabsichtigt und wird hier nachdrücklich unterstützt“, sagte die Parlamentarische Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz.

Mit Nina Hagen befreundet
Die Sängerin Nina Hagen ist seit Jahren mit Opfern befreundet, sie engagiert sich für sie. Auch bei der Gerichtsentscheidung war sie nun anwesend: „Ich bin tief berührt vom Schicksal André Sommers, der anderen Opfer und ihrer Familien.“ Der Staat müsste die Forschungsergebnisse von der Industrie einfordern, meint sie.

Bayer Schering hatte keinen Vertreter zum Urteil geschickt. Das Unternehmen weist die Vorwürfe zurück. „Das Thema wurde in den sechziger und siebziger Jahren juristisch und wissenschaftlich ausgiebig und abschließend erörtert. Seitdem gibt es keine neuen Erkenntnisse“, hatte Bayer-Sprecher Oliver Renner argumentiert. Es sei kein Zusammenhang zwischen Duogynon und Missbildungen festgestellt worden.

In den sechziger und siebziger Jahren hatten viele Mütter, deren Kinder mit schweren Fehlbildungen wie Wasserkopf, offenem Bauch, offenem Rücken oder Missbildungen der inneren Organe und Extremitäten geboren wurden, in der Frühschwangerschaft das Medikament genommen. Der Medizinrecht-Fachanwalt Heynemann, der die Betroffenen und auch André Sommer vertritt, nennt die Zahl von rund 1000 Geschädigten, die allein in Deutschland leben. „Viele Frauen hatten auch Fehlgeburten, oder das behinderte Kind starb kurz nach der Geburt.“
Duogynon kam sowohl als Schwangerschaftstest als auch gegen ausbleibende Regelblutungen zum Einsatz. In Großbritannien hatte es Schering schon Jahre vorher nicht mehr als Schwangerschaftstest angeboten, nachdem der Missbildungsverdacht laut wurde.

Im November waren allerdings Briefe aus den drei Jahren von 1967 bis 1969 bekannt geworden, die den Konzern in Erklärungsnot brachten. Darin tauschten sich britische Schering-Wissenschaftler mit ihren deutschen Kollegen über schwere Missbildungen bei Kindern und möglichen Risiken von Medikamenten aus. Die Mütter hatten den Schwangerschaftstest des Berliner Konzerns verwendet.